ÜBER DIE WIDERSPRÜCHLICHKEIT VON MORALPHILOSOPHIE AM BEISPIEL FRIEDRICH NIETZSCHES
Vorwort: Probleme eines Moralisten
I. Teil. DAS PHILOSOPHISCHE SYSTEM NIETZSCHES
Einleitung. Zu Nietzsches Methode und Stil
1. Die Natur und die Triebe 3. Das Leben ein Kampf
II. Abschnitt: GESCHICHTE (oder: KULTUR
I) 1. Ursprung 3. Historische Umstände als Bedingung
Einschub: RASSISMUS UND ERZIEHUNG
III. Abschnitt: GEGENWART oder DIE
NATION 4. Armut und Reichtum. Die Arbeiterfrage xxx5.1. Wissenschaft und Erkenntnis
IV. Abschnitt: DER MENSCH AUF DER SUCHE
NACH DEM SINN DES SEINS
II. Teil: DIE NACHWELT
I. Abschnitt: NIETZSCHES KONJUNKTUREN
IM ZEITGEIST 1. Worin Nietzsche unzeitgemäß ist 2. Worin Nietzsche zeitgemäß ist
II. Abschnitt: VORWÜRFE GEGEN
NIETZSCHE 1. Frauenfeind 2. Wegbereiter des Faschismus xxx2.1. Zum Faschismusvorwurf überhaupt
III. Abschnitt: ZUR NIETZSCHEREZEPTION 1. Allgemeines 2. Krise! Nihilismus und Die Lehre von der
ewigen Wiederkunft 3. Die Nietzsche-Kritik von Georg Lukács xxx3.1. Zu den Begriffen Irrationalismus und Dialektik
bei Lukács und sein Verhältnis zu Hegel
Bibliographie ___________________________________________________________________
1. Die Natur und die Triebe
Natur als Grund für irgendwelche Handlungen (oder: Gedanken,
Verhaltensweisen) von Menschen anzunehmen, ist die einfachste und gleichzeitig
anspruchsvollste Form, Notwendigkeit zu behaupten. Es wird dabei erstens
festgestellt: Es ist so und so, und zweitens wird damit gleich behauptet:
Weil es so sein muß! Einfach, um nicht zu sagen banal, ist das Vefahren
deshalb, weil es ganz ohne irgendwelche weils und darums auskommt und
der ausgestreckte Zeigefinger man siehts doch! schon das
ganze Argument sein soll. Anspruchsvoll ist es wiederum darin, daß
der Grund für die Handlung, über die gerade nachgedacht wird,
gleich als etwas Unabwendbares hingestellt wird: Denn das, was natürlich
ist, also die Grundlage aller Existenz und allen stofflichen Reichtums,
ist schließlich wirklich etwas, dem sich niemand entziehen kann.*1 Es gehört so viel zusammen, damit ein wissenschaftliches Denken entstehe: und alle diese nötigen Kräfte haben einzeln erfunden, geübt, gepflegt werden müssen! In ihrer Vereinzelung haben sie aber sehr häufig eine ganz andere Wirkung gehabt als jetzt, wo sie innerhalb des wissenschaftlichen Denkens sich gegenseitig beschränken und in Zucht halten: sie haben als Gifte gewirkt, zum Beispiel der anzweifelnde Trieb, der verneinende Trieb, der abwartende Trieb, der sammelnde Trieb, der auflösende Trieb. (1) Trieb: Das ist die Natur in uns, die uns zu dem drängt, was wir
dann tun. Ebenso nämlich,
wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Tun,
als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heißt, so trennt die
Volks-Moral auch die Stärke von den Äußerungen der Stärke
ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe,
dem es freistünde, Stärke zu äußern oder auch nicht.
Aber es gibt kein solches Substrat; es gibt kein Sein hinter
dem Tun, Wirken, Werden
Das Volk verdoppelt im Grunde das Tun,
wenn es den Blitz leuchten läßt, das ist ein Tun-Tun: Es setzt
dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung.
(2) Wie sehr allerdings nicht nur das Volk, sondern er selbst
mit der Konstruktion des Triebes (oft verwendet er dafür
auch das Wort Instinkt) sich dieses Denkschemas bedient, ist
ihm nicht aufgefallen. Was ihm aufgefallen ist, ist seine Dürftigkeit,
er bleibt nicht dabei stehen, sondern gibt noch andere Bestimmungen der
von ihm abgehandelten Einstellungen und Tätigkeiten an ohne
jedoch von Trieb als Naturbestimmung und letztem Grund allen
Handelns zu lassen.
Stets bekämpfte Nietzsche die Lehre vom freien Willen als einen der Grundirrtümer der Philosophie und Psychologie obwohl sich Belegstellen finden lassen, aus denen hervorgeht, daß er die Willensfreiheit unterstellt, ja sogar auf sie setzt. Zum Beispiel: Wollen befreit:
das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit. (3) Was veranlaßt ihn also zu seiner Polemik gegen den freien Willen?
Er schreibt: Man hat das
Werden seiner Unschuld entkleidet, wenn irgendein So-und-So-Sein auf Wille,
auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückgeführt
wird: die Lehre vom Willen ist wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe,
das heißt des Schuldig-finden-wollens
Die Menschen wurden
»frei« gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können,
Das Christentum ist eine Metaphysik des Henkers. (4) Nietzsche fällt auf, daß es in den meisten Fällen, wo
vom freien Willen die Rede ist, um die Schuldfrage geht. Und da
hat er recht. Die Debatte Ist der Wille frei oder determiniert?
verdankt sich ja nicht einer nüchternen Betrachtung dessen, was der
Wille ist da wäre sie schnell entschieden. Sondern sie wird
auf dem Boden des Rechts und der Moral geführt und es geht stets
um das Ausmaß der Schuldzuweisung.*2 Da wird anhand des Willens
ein Streit geführt über ganz andere Dinge als im Menschen vorfindliche
Voraussetzungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen ein Streit
über etwas, was aus dem Willen und der Psychologie eines Menschen
niemals hervorgehen kann. In dieser Debatte ist der Zweck der, das Individuum
unter wirkliche oder eingebildete Rechtsmaßstäbe zu
subsumieren. Die unausgesprochene Grundlage dieser Auseinandersetzung
ist also die Gewalt, und zwar eine Art von Gewalt, die auf die
Anerkennung der ihr Unterworfenen Wert legt das macht eben die
rechtmäßige Gewalt aus. Ein Mensch,
der will , befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht, oder von
dem er glaubt, daß es gehorcht. (6) Im menschlichen Inneren scheint es, um in der nietzscheanischen Bildersprache
zu bleiben, ungefähr so zuzugehen wie in einer Mischung aus Kasernenhof,
Schmiede und mittelalterlicher Folterkammer. Es gibt aber auch idyllischere
Vorstellungen des Seelenhaushaltes: Man kann wie
ein Gärtner mit seinen Trieben schalten
Dies Alles steht uns
frei. (8) Es ist kein Wunder, daß Nietzsche sich hier in besonderem Maße
der Bilder bedient. Denn die Widerlegung oder vielleicht korrekter ausgedrückt,
die von ihm angestrebte Umgehung der Willensfreiheit ist damit
gerade nicht geleistet: Auch innerhalb dieses Gruselszenarios gibt es
ein bestimmendes Element, das als Schöpfer wirkt und
seine Schmiede- und Läuterungsarbeiten durchführt oder an Untergebene
delegiert. Ein Element, das durch nichts anderes mehr bestimmt ist als
sich selbst, also frei ist. Eben dieses Element ist der Wille zur
Macht, ein Trieb ohne Inhalt, der dennoch über die anderen
gebietet oder sich gerade wegen seiner Inhaltsleere der anderen parasitär
bemächtigt ohne daß sich erkennen ließe, welche
Veränderung deren Unterwerfung oder Inbesitznahme an ihnen hervorbringen
sollte. Freiheit im Sinne von Leere ist die einzige Eigenschaft,
die der Wille zur Macht aufweist. Was gewinnt Nietzsche für die Befestigung seines eigenen Welt und
Menschenbildes dadurch, daß er den Willen zur Macht
einführt? Was leistet dieses Konstrukt für das Folgende? Mit dem Willen zur Macht führt Nietzsche eine Herrschaftsordnung
im Inneren des Menschen ein, ein Gewaltverhältnis ohne Zweck und
Inhalt, das die Besonderheit des Menschen gegenüber der übrigen
Natur ausmachen soll: Mit ihm tritt der Mensch aus der Natur heraus, wird
zum nicht festgestellten Tier und beginnt auf spezifisch menschliche
Art zu leiden an seiner inneren Zerrissenheit und der
abgebrochenen Brücke zum problemlosen Glück der
tierischen Existenz. die Lehre von
den Herrschafts-Verhältnissen
, unter denen das Phänomen
»Leben« entsteht
(10) Ein Zurück gibt es aber auch nicht, diese Moral soll als
solche nämlich nicht direkt der Natur zu entnehmen sein, Nachahmung
der Tierwelt kommt für Nietzsche nicht in Frage ( wenngleich
am Resultat keine Kritik ausgedrückt ist
): die meisten
anderen Tiergattungen (außer dem Menschen)
glauben
an ein Normaltier und Ideal in ihrer Gattung,
(sie
haben) die Sittlichkeit der Sitte sich endgültig in Fleisch
und Blut übersetzt. (11) Nietzsches Definition der Menschennatur gibt die Grundlage für folgende
Behauptungen ab: 1. Moral ist als Naturnotwendigkeit festgelegt: Sie ist laut Nietzsche
das Werkzeug, mit dem der Mensch seiner inneren Gegensätze Herr werden
kann und muß Moral ist das einzige Werkzeug. Nur mit ihr
ist dem Menschen Überleben möglich. 2. Der Mensch ist seiner Subjektrolle entkleidet: Nicht er als
Individuum bestimmt, was zu geschehen hat, sondern Geistersubjekte wie
das Leben, die Natur, dieser oder jener Trieb
und anderes gebieten über ihn, fordern, drängen usw. 3. Der Mensch ist gleichzeitig in seiner Subjektrolle bestätigt und gerechtfertigt darauf vor allem kommt es an! indem ihm jede Absicht in seinen Handlungen bestritten wird: Weil der Wille zur Macht, sein Dämon(12) sich innerhalb der Grenzen seines ICH nicht austoben kann, muß er allein aus Gründen der Selbsterhaltung nach draußen gehen und seine Unterwerfungstätigkeit an anderen ausüben, also deren Triebe und Willen zur Macht beschneiden.*4 In diesem Machtkampf entsteht die natürliche Rangordnung.
3. Das Leben ein Kampf Das Innere des Menschen ist also eine gewalttätige Angelegenheit,
bei der ständig Triebe unterschiedlichen Ranges auch dieser
wiederum von der Natur vorgegeben miteinander kämpfen. Indem
man sich zu seinen Trieben bekennt, d.h., sie als die eigenen anerkennt
und betont, und sie so handhabt, daß man als Individuum erhalten
bleibt, betätigt man seine Freiheit. Der freie Mensch ist sehr verantwortungsvoll,
aber nur gegenüber sich selbst.*5 Er erkennt keinen fremden Willen
über dem seinigen an, er beugt sich nicht, kurz, er ist ein Held: Denn was ist
Freiheit! Daß man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Daß
man die Distanz, die uns abtrennt, festhält. Daß man gegen
Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger
wird. Daß man bereit ist, seiner Sache Menschen zu opfern, sich
selber nicht abgerechnet.*6 Freiheit bedeutet, daß die männlichen,
die kriegs und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andre
Instinkte, zum Beispiel über die des »Glücks«. Der
freigewordne Mensch, um wieviel mehr der freigewordne Geist, tritt mit
Füßen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem
Krämer, Christen, Kühe,*7 Weiber, Engländer und andre
Demokraten träumen. Der freie Mensch ist Krieger. (14) Bei diesen Bestimmungen von Freiheit fällt auf: 1. Freiheit ist ein Wert, ihre Güte steht von vornherein,
d.h., ohne Begründung, fest wer hier fragt: Warum soll ich
angesichts ihrer solchermaßen beschriebenen Unkosten für Freiheit
sein? ist sofort entlarvt und abgetan: Weib, Kuh, Engländer usw.*8 2. Diese Freiheit verheißt keine Annehmlichkeiten, will aber trotzdem erkämpft werden, denn sie wird einem ständig von anderen bestritten. Daraus wiederum ergeben sich folgende Fragen: Warum sollen Krämer,
Christen und Ähnliches ihm seine Freiheit neiden und wegnehmen wollen,
wo er doch gerade festgestellt hat, daß es ihnen um anderes geht?
Warum stört ihn dieses Volk eigentlich? Wenn er die Freiheit hat
und sie das Wohlbefinden, so ist doch ohnehin alles bestens geregelt:
Jeder hat, was er will! War schon beim nietzscheanischen Entwurf des Systems der Triebe und des
Willens nicht einzusehen, warum die Existenz verschiedener Triebe zu Unfrieden
unter ihnen führen muß (wenn man schon in einem ICH vereint
ist, in einem Haus wohnt, unter einem Dach, so ist es doch zumindest genauso
naheliegend, sein Zusammensein auf dem Wege der Einigung abzuwickeln.
Aus unterschiedlich und zusammen ergibt sich doch
nicht zwingend die Schlußfolgerung daher gegeneinander!)
so ist hier erst recht kein vernünftiger Grund angegeben,
warum menschliches Zusammenleben notwendig in Zwist und Kampf ausarten
muß. Und Nietzsche geht hier genauso vor wie schon bei der Frage des freien
Willens: Er hat an diesem Punkt gar nicht die Absicht, den Staat und das
Gewaltmonopol zu rechtfertigen, aber er übernimmt das Bild und schlägt
sich wiederum auf die Seite des Individuums so wie es in diesem
Bild gezeichnet wird. Er zieht die umgekehrte Schlußfolgerung von
Hobbes & Co. und sagt: Gut, ja, der Mensch ist ein Wolf, ein Raubtier,
aber von wegen, er sei zu Höherem fähig! (Das Höhere
ist bei den anderen dann Unterwerfung und Moralität.) Wenns seine
Natur ist, so ist das eben sein Höchstes, das muß man ihn ausleben
lassen, alles andere ist ein Verstoß gegen seine Eigenart: Sie (Nietzsches Große, seine idealen Charaktere) treten in die Unschuld des Raubtiergewissens zurück, als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung, mit einem Übermute und seelischem Gleichgewichte davongehen auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier nicht zu verkennen. Diese »Kühnheit« vornehmer Rassen, toll, absurd, plötzlich, wie sie sich äußert, das Unberechenbare, Unwahrscheinliche selbst ihrer Unternehmungen, ihre Gleichgültigkeit und Verachtung gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen, ihre entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstören, in allen Wollüsten des Sieges und der Grausamkeit. (15)
Zusammenfassung dieses ersten Abschnitts Natur ist für Nietzsche eine, ja schlicht die Grundbestimmung
des Menschen, sowohl als Ausgangs als auch als Endpunkt. Obwohl sie Ursache
der Zerrissenheit und des menschlichen Leidens ist, soll sie ihm dazu
verhelfen, die vorgestellte ursprüngliche Einheit des Menschen
mit sich und der restlichen Natur wiederherzustellen. Dieses Ideal
der seelischen Gesundheit bzw. des Strebens nach ihr verkörpert
für ihn der griechische Gott Dionysos: Unter dem Zauber
des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch
und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte
Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohn,
dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen
die Raubtiere der Felsen und der Wüste. (16) Dieses rosige, leicht biblisch eingefärbte Bild steht zwar in Widerspruch
zum vorigen Zitat, wo gerade die Unfriedlichkeit gepriesen wird
das Bindeglied im nietzscheanischen Denken ist eben die Natur: Nur in
bezug auf sie herrscht Einheit, und dem, was sie gebietet, hat das Individuum
zu gehorchen. Wenn Fressen und Gefressenwerden anstehen, dann muß
man eben dabei mitmachen. »Gemäß der Natur« wollt ihr leben? Oh, ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maß, gleichgültig ohne Maß, ohne Ab und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiß zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht wie könntet ihr gemäß dieser Indifferenz leben? Leben ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist? Und gesetzt, euer Imperativ »gemäß der Natur leben« bedeute im Grunde soviel als »gemäß dem Leben leben« wie könntet ihrs denn nicht? Wozu ein Prinzip aus dem machen, was ihr selbst seid und sein müßt? In Wahrheit steht es ganz anders: indem ihr entzückt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, wollt ihr etwas Umgekehrtes der Natur, sogar der Natur, eure Moral, euer Ideal, vorschreiben und einverleiben (17)
_____________________________ *1 Um Mißverständnissen vorzubeugen: Natürlich hat jeder Mensch eine Seite, die Natur ist, sie betrifft die Lebensnotwendigkeiten Nahrungsaufnahme und Stoffwechsel einschließlich aller Störungen, Wärme und Schlaf, mit Einschränkungen, weil bereits dem Willen unterworfen, die Sexualität diese Dinge gehören der Physiologie des Menschen an. Ich behandle hier, mit Nietzsche, die Art von Natur-Bestimmungen, die sich in der Psychologie des Menschen finden lassen sollen, also darin, wie er sich in seinem Denken, Fühlen und Handeln mit der Natur seiner eigenen und der äußeren und mit der Gesellschaft, in der er lebt, auseinandersetzt. *2 Die Praxis dieser ins Moralische überhöhten und als Aussage über die Natur des Menschen vertretenen Schein-Debatte (Schein- deswegen, weil die Einigkeit viel ausgeprägter ist als der Gegensatz, den die Streitpartner einander aufmachen,) läßt sich in den Gerichtssälen und Chronikteilen der Zeitungen demokratischer Staaten studieren: Freiwillig und bei vollem Bewußtsein: Höchststrafe; unter Alkohol- bzw. Drogeneinfluß (= determiniert): nur in Grenzen in die Zuständigkeit der Justiz fallend, gegebenenfalls in entsprechende Anstalten einzuweisen; im Affekt gehandelt, Heimkind (= teilweise determiniert): mildernde Umstände; Vorsatz: verschärfend; bei der Festlegung des Strafausmaßes spielt auch die Einsicht eine wichtige Rolle, genauso wie das Geständnis: Damit gibt der Übeltäter seine Zustimmung zu dem Gericht, das über ihn gehalten wird, er unterwirft sich selbst noch einmal *3 Das Bewußtsein, das Nietzsche dem Willen zur Macht
zur Seite stellt, ist ihm kongenial: *4 Nietzsche, dieser angebliche Rechtfertiger des Imperialismus und sonstiger Grausamkeiten überholt, überlebt, widerlegt? Der Machthunger oder Agressionstrieb, die zeitgenössischen Versionen des Willens zur Macht, sind heute sehr anerkannte Kategorien in wissenschaftlicher und Alltags-Psychologie, wann immer es darum geht, Ehestreitigkeiten, Kriege und ähnliches damit zu erklären, daß die Menschen eben so sind. *5 d.h., eben gegenüber diesem Auftrag der Selbsterhaltung, einem Zweck, der das genaue Gegenteil dessen ist, als das Nietzsche ihn darstellt, er behauptet, es sei die Maßlosigkeit selbst. Tatsächlich ist Selbsterhaltung das bescheidenste Programm, das man sich überhaupt ausdenken kann. Die eigene Existenz soll hier nicht die Voraussetzung dafür sein, sich das Leben angenehm zu gestalten, sich um Genuß, Bequemlichkeit, Zerstreuung zu kümmern, sondern das bloße Überleben soll schon das einzige Ziel sein. Wer das als seinen Zweck angibt, meldet schon den Verzicht auf jegliche Ansprüche an, bevor sie ihm überhaupt von außen bestritten werden. Einen untertänigeren nietzscheanisch ausgedrückt: verächtlicheren Zweck gibt es nicht. *6 Die Aufforderung zur Selbstaufgabe ist nicht ein Verstoß, eine Aufkündigung des Gebotes der Selbsterhaltung, sondern seine Fortsetzung. Es tritt nur ein höherer Zweck hinzu: Im Interesse der Gemeinde, der Art, der Aufgabe, die es zu erfüllen gilt, und in derem Rahmen man überhaupt erst ein Existenzrecht für sich geltend macht, opfert man das eigene Leben. Denn für sich genommen ist es ja ohne Bedeutung, nur als Werkzeug, als Ausführer von Größerem hat man sich, der eigenen Person überhaupt Bedeutung zugestanden: So vollzieht sich der Übergang zum Märtyrer. (Übrigens auch zum Vaterlandsverteidiger, zum terroristischen Bombenleger und was für Karrieren die moderne Welt sonst noch anzubieten hat für Menschen, die ihm bedingungslosen Opfer ihre höchste Erfüllung finden wollen.) *7 Kühe als Demokraten? Dabei haben *8 Folgendes sollte hier zu denken geben: Der Instinkt der Freiheit
soll etwas sein, was zur menschlichen Natur gehört, sie sogar mehr
oder weniger ausmacht aber dort, wo Nietzsche ihn nicht
findet, zweifelt er nicht an dieser seiner Bestimmung, sondern sagt: Diese
Menschen verleugnen ihre Natur und sind daher verächtlich. Diese
Methode ist ein Sich-Immunisieren gegen die Überprüfung einer
Theorie, eines Urteils, denn mit ihr wird gesagt: Die Richtigkeit meines
Urteils bemißt sich gar nicht daran, ob ich damit den behandelten
Gegenstand auch treffe denn dort, wo sich die Sache anders verhält,
liegt ein Mangel des Gegenstandes vor, nicht einer meiner Theorie. *9 Dabei läß sich leicht feststellen, daß die Menschen
in der bürgerlichen Gesellschaft zu-nächst gerade wegen ihrer
ökonomischen oder sonstwie gewaltsam festgelegten Tätigkeit
und nicht wegen ihrer psychischen Verfassung in Gegensatz zueinander
geraten: Der Produzent z.B. irgendwelcher Güter (Landwirt, Handwerker,
Unternehmer) will möglichst teuer verkaufen, der Konsument in seiner
beschränkten Zahlungsfähigkeit will möglichst billig kaufen;
der Unternehmer will seine Produktionskosten niedrig halten, spart daher
am Lohn, der Arbeiter wiederum muß von seinem Lohn leben, er kann
ihm daher nie hoch genug sein. ____________________________________ ZITATE 1. Die fröhliche Wissenschaft, 3/473 2. Zur Genealogie der Moral, 5/279 3. Also sprach Zarathustra, 4/111 4. Götzendämmerung, 6/95-96 5. Zur Genealogie der Moral, 5/326 6. Jenseits von Gut und Böse, 5/32 7. ebd., 5/161 8. Morgenröte, 3/326 9. Jenseits von Gut und Böse, 5/54 10. ebd., 5/34 11. Die fröhliche Wissenschaft, 3/490 12. Morgenröte, 3/209 13. Menschliches, Allzumenschliches II, 2/422 14. Götzendämmerung, 6/139-140 15. Zur Genealogie der Moral, 5/275 16. Die Geburt der Tragödie, 1/29 17. Jenseits von Gut und Böse, 5/21-22 ___________________________________________________________________________
verfaßt und als Dissertation eingereicht: 1988, erstmals publiziert: WUV Verlag 1995, Neuauflage: 2005 weiter zu: Probleme eines Moralisten weiter zu: „Geschichte“ bei Nietzsche weiter zu: Rassismus und Erziehung weiter zu: I. Teil, IV. Abschnitt: Der Mensch auf der Suche nach dem Sinn des Seins weiter zu: II. Teil, II. Abschnitt: Vorwuerfe gegen Nietzsche weiter zu: II. Teil, III. Abschnitt: Die Nietzsche-Rezeption |