ÜBER DIE WIDERSPRÜCHLICHKEIT VON MORALPHILOSOPHIE AM BEISPIEL FRIEDRICH NIETZSCHES

 

 

Vorwort: Probleme eines Moralisten

 

 

I. Teil. DAS PHILOSOPHISCHE SYSTEM NIETZSCHES

 

Einleitung. Zu Nietzsches Methode und Stil

 

I. Abschnitt: NATUR

1. Die Natur und die Triebe

2. Der Wille zur Macht

3. Das Leben ein Kampf

Zusammenfassung

 

II. Abschnitt: GESCHICHTE (oder: KULTUR I)

1. Ursprung

2. Zeitgeist

3. Historische Umstände als Bedingung

 

Einschub: RASSISMUS UND ERZIEHUNG

 

III. Abschnitt: GEGENWART oder DIE NATION

1. Rasse und Volk

2. Krieg

3. Die Ehe und die Frauen

4. Armut und Reichtum. Die „Arbeiterfrage“

5. Kultur

xxx5.1. Wissenschaft und Erkenntnis
xxx5.2. Religion
xxx5.3. Kunst
xxx5.4. Philosophie

Zusammenfassung

 

IV. Abschnitt: DER MENSCH AUF DER SUCHE NACH DEM SINN DES SEINS

1. Psychologie

2. Elite und Erfolg

3. Identität

Zusammenfassung und Schluß

 

 

II. Teil: DIE NACHWELT

 

I. Abschnitt: NIETZSCHES KONJUNKTUREN IM ZEITGEIST

1. Worin Nietzsche unzeitgemäß ist

2. Worin Nietzsche zeitgemäß ist

 

II. Abschnitt: VORWÜRFE GEGEN NIETZSCHE

1. „Frauenfeind“

2. „Wegbereiter des Faschismus“

xxx2.1. Zum Faschismusvorwurf überhaupt
xxx2.2. Zum Verhältnis von Geist und Macht
xxx2.3. Warum gerade Nietzsche?

 

III. Abschnitt: ZUR NIETZSCHE—REZEPTION

1. Allgemeines

2. „Krise!“ Nihilismus und Die Lehre von der ewigen Wiederkunft

3. Die Nietzsche-Kritik von Georg Lukács

xxx3.1. Zu den Begriffen „Irrationalismus“ und „Dialektik“ bei Lukács und sein Verhältnis zu Hegel
xxx3.2. Philosophie und Politik. Vom Klassenkampf in der Philosophie
xxx3.3. Tendenz und Tradition
xxx3.4. Nietzsche: Irrationalist und Gegner des Sozialismus
xxxZusammenfassung der Nietzsche-Kritik von Lukács

 

Bibliographie

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I. Abschnitt: NATUR

 

1. Die Natur und die Triebe

 

„Natur“ als Grund für irgendwelche Handlungen (oder: Gedanken, Verhaltensweisen) von Menschen anzunehmen, ist die einfachste und gleichzeitig anspruchsvollste Form, Notwendigkeit zu behaupten. Es wird dabei erstens festgestellt: Es ist so und so, und zweitens wird damit gleich behauptet: Weil es so sein muß! Einfach, um nicht zu sagen banal, ist das Vefahren deshalb, weil es ganz ohne irgendwelche weils und darums auskommt und der ausgestreckte Zeigefinger – man siehts doch! – schon das ganze Argument sein soll. Anspruchsvoll ist es wiederum darin, daß der Grund für die Handlung, über die gerade nachgedacht wird, gleich als etwas Unabwendbares hingestellt wird: Denn das, was natürlich ist, also die Grundlage aller Existenz und allen stofflichen Reichtums, ist schließlich wirklich etwas, dem sich niemand entziehen kann.*1
Diese Vorstellung einer Natur, die den Menschen bestimmt und der er ausgeliefert ist, hat sich einen eigenen Begriff geschaffen, den des Triebes.
Für Nietzsche ist fast alles Trieb, es gibt einen Trieb zur Grausamkeit, zur Selbsterhaltung, zur Arterhaltung, zur Ausschweifung … Wissenschaft entsteht als Gemisch verschiedener Triebe:

„Es gehört so viel zusammen, damit ein wissenschaftliches Denken entstehe: und alle diese nötigen Kräfte haben einzeln erfunden, geübt, gepflegt werden müssen! In ihrer Vereinzelung haben sie aber sehr häufig eine ganz andere Wirkung gehabt als jetzt, wo sie innerhalb des wissenschaftlichen Denkens sich gegenseitig beschränken und in Zucht halten: – sie haben als Gifte gewirkt, zum Beispiel der anzweifelnde Trieb, der verneinende Trieb, der abwartende Trieb, der sammelnde Trieb, der auflösende Trieb.“ (1)

Trieb: Das ist die Natur in uns, die uns zu dem drängt, was wir dann tun.
Wer zweifelt, wird dazu getrieben, wer ißt, vielleicht auch, usw. Ganz einfach. Der Trieb ist also eine Kraft, die sich ohne willentliches Zutun Bahn bricht und auf deren Vorhandensein man nur aus der Wirkung, die man wahrnimmt, schließen kann.
Genauer besehen kommt bei dieser Erklärung nichts hinzu, sie ist tautologisch: Der Trieb als die dahinterstehende Kraft hat seine gesamte Bestimmung darin, sich in der jeweiligen Handlung zu äußern, diese wiederum ist bloß eine Äußerung der Kraft. Anders gesagt: Die Kraft soll das Wesentliche sein, aber man weiß nichts über sie, die Äußerung hat man zwar vor sich, aber nicht sie, sondern das Dahinterstehende soll ihren eigentlichen Kern ausmachen. So wird eines aus dem anderen und damit keines von beiden erklärt, das einzige Ergebnis dieses Hin und Her ist, daß man das plumpe „es wird schon unumgänglich sein“ mit dem Schein eines guten Grundes versehen hat.
Nietzsche hat an einer Stelle selbst die Ahnung befallen, daß diese Kategorie der dahinterstehenden Kraft nicht viel hergibt:

„Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Tun, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heißt, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äußerungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es freistünde, Stärke zu äußern oder auch nicht. Aber es gibt kein solches Substrat; es gibt kein „Sein“ hinter dem Tun, Wirken, Werden … Das Volk verdoppelt im Grunde das Tun, wenn es den Blitz leuchten läßt, das ist ein Tun-Tun: Es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung.“ (2)

Wie sehr allerdings nicht nur „das Volk“, sondern er selbst mit der Konstruktion des „Triebes“ (oft verwendet er dafür auch das Wort „Instinkt“) sich dieses Denkschemas bedient, ist ihm nicht aufgefallen. Was ihm aufgefallen ist, ist seine Dürftigkeit, er bleibt nicht dabei stehen, sondern gibt noch andere Bestimmungen der von ihm abgehandelten Einstellungen und Tätigkeiten an – ohne jedoch von „Trieb“ als Naturbestimmung und letztem Grund allen Handelns zu lassen.
Das ist eine notwendige Folge davon, sich der Kategorie der Kraft und ihrer Äußerung zu bedienen: Weil sie sich so umstandslos auf alles anwenden läßt, erfaßt sie das Besondere, das Einzelne, ja gerade nicht –, dieses muß um der bloßen Unterscheidung von anderem willen auf andere Weise hergeleitet werden.
Der Zusammenhang dieser Triebe macht für Nietzsche das ICH, die Subjektivität aus. Er nennt diesen Zusammenhang den Willen zur Macht.

 

2. Der Wille zur Macht

Stets bekämpfte Nietzsche die Lehre vom freien Willen als einen der Grundirrtümer der Philosophie und Psychologie – obwohl sich Belegstellen finden lassen, aus denen hervorgeht, daß er die Willensfreiheit unterstellt, ja sogar auf sie setzt. Zum Beispiel:

„Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit.“ (3)

Was veranlaßt ihn also zu seiner Polemik gegen den freien Willen? Er schreibt:

„Man hat das Werden seiner Unschuld entkleidet, wenn irgendein So-und-So-Sein auf Wille, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückgeführt wird: die Lehre vom Willen ist wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe, das heißt des Schuldig-finden-wollens … Die Menschen wurden »frei« gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können, … Das Christentum ist eine Metaphysik des Henkers.“ (4)

Nietzsche fällt auf, daß es in den meisten Fällen, wo vom freien Willen die Rede ist, um die Schuldfrage geht. Und da hat er recht. Die Debatte „Ist der Wille frei oder determiniert?“ verdankt sich ja nicht einer nüchternen Betrachtung dessen, was der Wille ist – da wäre sie schnell entschieden. Sondern sie wird auf dem Boden des Rechts und der Moral geführt und es geht stets um das Ausmaß der Schuldzuweisung.*2 Da wird anhand des Willens ein Streit geführt über ganz andere Dinge als im Menschen vorfindliche Voraussetzungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen – ein Streit über etwas, was aus dem Willen und der Psychologie eines Menschen niemals hervorgehen kann. In dieser Debatte ist der Zweck der, das Individuum unter wirkliche oder eingebildete Rechtsmaßstäbe zu subsumieren. Die unausgesprochene Grundlage dieser Auseinandersetzung ist also die Gewalt, und zwar eine Art von Gewalt, die auf die Anerkennung der ihr Unterworfenen Wert legt – das macht eben die rechtmäßige Gewalt aus.
Wie sehr Nietzsche bei aller Ablehnung der Konsequenzen auf dem Boden der Rechtskategorien bleibt, zeigt seine Parteinahme für die Unschuld. Dieser Begriff hat ja nur dort Bedeutung, wo sich jemand vor einer höheren Instanz für eine Übertretung von von ihr festgesetzten Regeln verantworten muß. In diesem Rechtsstreit, in dem Nietzsche „die Menschheit“ (= Angeklagter) gegen „die Moralphilosophie“ bzw. „die Religion“ (= Richter) und die Anhänger von Moralphilosophie und Religion (= Ankläger) antreten läßt, (eine sehr philosophische und dementsprechend fiktive Parteienstellung) nimmt er die Rolle des Verteidigers ein. Er greift nicht das Recht an, den Rechtsstreit, das ständige Rechten und Messen an Idealen – die moralische Methode im Denken also – das alles erkennt er mit seiner Kritik ja gerade an. Ihn stört das Ergebnis, der Schuldspruch, und er will ihn aufheben, indem er den Delinquenten für unzurechnungsfähig erklärt.
Aus dieser Entschuldigungs-Absicht heraus bestreitet Nietzsche die Willensfreiheit und präsentiert seinen Ersatz: Den Willen zur Macht [oder: „Instinkt der Freiheit“(5)]. Es ist ein Trieb unter anderen, der allerdings die wundersame Eigenschaft hat, über die anderen Triebe zu gebieten:

„Ein Mensch, der will –, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht, oder von dem er glaubt, daß es gehorcht.“ (6)
„Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint: … versteht ihr diesen Gegensatz? und daß euer Mitleid dem »Geschöpf im Menschen« gilt, dem was geformt, gebrochen, geschmiedet, gerissen, gebrannt, geglüht, geläutert werden muß …“ (7)

Im menschlichen Inneren scheint es, um in der nietzscheanischen Bildersprache zu bleiben, ungefähr so zuzugehen wie in einer Mischung aus Kasernenhof, Schmiede und mittelalterlicher Folterkammer. Es gibt aber auch idyllischere Vorstellungen des Seelenhaushaltes:

„Man kann wie ein Gärtner mit seinen Trieben schalten … Dies Alles steht uns frei.“ (8)

Es ist kein Wunder, daß Nietzsche sich hier in besonderem Maße der Bilder bedient. Denn die Widerlegung oder vielleicht korrekter ausgedrückt, die von ihm angestrebte Umgehung der Willensfreiheit ist damit gerade nicht geleistet: Auch innerhalb dieses Gruselszenarios gibt es ein bestimmendes Element, das als „Schöpfer“ wirkt und seine Schmiede- und Läuterungsarbeiten durchführt oder an Untergebene delegiert. Ein Element, das durch nichts anderes mehr bestimmt ist als sich selbst, also frei ist. Eben dieses Element ist der „Wille zur Macht“, ein Trieb ohne Inhalt, der dennoch über die anderen gebietet oder sich gerade wegen seiner Inhaltsleere der anderen parasitär bemächtigt – ohne daß sich erkennen ließe, welche Veränderung deren Unterwerfung oder Inbesitznahme an ihnen hervorbringen sollte. Freiheit im Sinne von Leere ist die einzige Eigenschaft, die der „Wille zur Macht“ aufweist.
Es ist aber auch nicht diese Freiheit, also Unbestimmtheit, die Nietzsche seine Attacke gegen den freien Willen reiten läßt, sondern die Vorstellung des zweckgerichteten Handelns, also die Vorstellung, daß die Handlungen des Menschen bewußt geplant werden und kraft eines willentlichen Entschlusses erfolgen.*3
Diese Behauptung ist sehr seltsam, denn sie widerlegt sich selbst: Nietzsche ist wegen seiner selbstgewählten Verteidigerrolle so radikal in seinem Antimoralismus, daß er die Grundlage seiner ganzen Tätigkeit leugnet und seine eigenen Zwecke bestreitet. Denn was ist seine Tätigkeit als Philosoph? Er faßt Gedanken, Absichten, bringt sie zu Papier, sucht nach Verbreitungsmöglichkeiten, publiziert sie, wendet sich damit an andere Individuen mit der Absicht, auf ihr Bewußtsein Einfluß zu nehmen und ihrem Willen einen anderen Inhalt zu geben – und während er das alles tut, stellt er in Abrede, daß es möglich ist!

Was gewinnt Nietzsche für die Befestigung seines eigenen Welt und Menschenbildes dadurch, daß er den „Willen zur Macht“ einführt? Was leistet dieses Konstrukt für das Folgende?

Mit dem „Willen zur Macht“ führt Nietzsche eine Herrschaftsordnung im Inneren des Menschen ein, ein Gewaltverhältnis ohne Zweck und Inhalt, das die Besonderheit des Menschen gegenüber der übrigen Natur ausmachen soll: Mit ihm tritt der Mensch aus der Natur heraus, wird zum „nicht festgestellten Tier“ und beginnt auf spezifisch menschliche Art zu „leiden“ – an seiner inneren Zerrissenheit und der abgebrochenen Brücke zum problemlosen „Glück“ der tierischen Existenz.
Auf seiner Konstruktion des „Willens zur Macht“ baut Nietzsche seinen Begriff von Moral auf: Sie ist

„die Lehre von den Herrschafts-Verhältnissen …, unter denen das Phänomen »Leben« entsteht…“ (10)

Ein Zurück gibt es aber auch nicht, diese Moral soll als solche nämlich nicht direkt der Natur zu entnehmen sein, Nachahmung der Tierwelt kommt für Nietzsche nicht in Frage (– wenngleich am Resultat keine Kritik ausgedrückt ist …):

„die meisten anderen Tiergattungen“ (außer dem Menschen) … „glauben … an ein Normaltier und Ideal in ihrer Gattung,“ … (sie haben) „die Sittlichkeit der Sitte sich endgültig in Fleisch und Blut übersetzt.“ (11)

Nietzsches Definition der Menschennatur gibt die Grundlage für folgende Behauptungen ab:

– 1. Moral ist als Naturnotwendigkeit festgelegt: Sie ist laut Nietzsche das Werkzeug, mit dem der Mensch seiner inneren Gegensätze Herr werden kann und muß – Moral ist das einzige Werkzeug. Nur mit ihr ist dem Menschen Überleben möglich.

– 2. Der Mensch ist seiner Subjektrolle entkleidet: Nicht er als Individuum bestimmt, was zu geschehen hat, sondern Geistersubjekte wie „das Leben“, „die Natur“, dieser oder jener „Trieb“ und anderes gebieten über ihn, fordern, drängen usw.

– 3. Der Mensch ist gleichzeitig in seiner Subjektrolle bestätigt und gerechtfertigt – darauf vor allem kommt es an! – indem ihm jede Absicht in seinen Handlungen bestritten wird: Weil der „Wille zur Macht“, sein „Dämon“(12) sich innerhalb der Grenzen seines ICH nicht austoben kann, muß er – allein aus Gründen der Selbsterhaltung – nach draußen gehen und seine Unterwerfungstätigkeit an anderen ausüben, also deren Triebe und „Willen zur Macht“ beschneiden.*4 In diesem Machtkampf entsteht die „natürliche Rangordnung“.

 

3. Das Leben ein Kampf

Das Innere des Menschen ist also eine gewalttätige Angelegenheit, bei der ständig Triebe unterschiedlichen Ranges – auch dieser wiederum von der Natur vorgegeben – miteinander kämpfen. Indem man sich zu seinen Trieben bekennt, d.h., sie als die eigenen anerkennt und betont, und sie so handhabt, daß man als Individuum erhalten bleibt, betätigt man seine Freiheit. Der freie Mensch ist sehr verantwortungsvoll, aber nur gegenüber sich selbst.*5 Er erkennt keinen fremden Willen über dem seinigen an, er beugt sich nicht, kurz, er ist ein Held:

„Denn was ist Freiheit! Daß man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Daß man die Distanz, die uns abtrennt, festhält. Daß man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird. Daß man bereit ist, seiner Sache Menschen zu opfern, sich selber nicht abgerechnet.*6 Freiheit bedeutet, daß die männlichen, die kriegs und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andre Instinkte, zum Beispiel über die des »Glücks«. Der freigewordne Mensch, um wieviel mehr der freigewordne Geist, tritt mit Füßen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem Krämer, Christen, Kühe,*7 Weiber, Engländer und andre Demokraten träumen. Der freie Mensch ist Krieger.“ (14)

Bei diesen Bestimmungen von Freiheit fällt auf:

– 1. Freiheit ist ein Wert, ihre Güte steht von vornherein, d.h., ohne Begründung, fest – wer hier fragt: Warum soll ich angesichts ihrer solchermaßen beschriebenen Unkosten für Freiheit sein? ist sofort entlarvt und abgetan: Weib, Kuh, Engländer usw.*8

– 2. Diese Freiheit verheißt keine Annehmlichkeiten, will aber trotzdem erkämpft werden, denn sie wird einem ständig von anderen bestritten.

Daraus wiederum ergeben sich folgende Fragen: Warum sollen Krämer, Christen und Ähnliches ihm seine Freiheit neiden und wegnehmen wollen, wo er doch gerade festgestellt hat, daß es ihnen um anderes geht? Warum stört ihn dieses Volk eigentlich? Wenn er die Freiheit hat und sie das Wohlbefinden, so ist doch ohnehin alles bestens geregelt: Jeder hat, was er will!

War schon beim nietzscheanischen Entwurf des Systems der Triebe und des Willens nicht einzusehen, warum die Existenz verschiedener Triebe zu Unfrieden unter ihnen führen muß (wenn man schon in einem ICH vereint ist, in einem Haus wohnt, unter einem Dach, so ist es doch zumindest genauso naheliegend, sein Zusammensein auf dem Wege der Einigung abzuwickeln. Aus „unterschiedlich“ und „zusammen“ ergibt sich doch nicht zwingend die Schlußfolgerung „daher gegeneinander“!) – so ist hier erst recht kein vernünftiger Grund angegeben, warum menschliches Zusammenleben notwendig in Zwist und Kampf ausarten muß.
Was hier vom Leser verlangt wird, ist nichts weniger, als daß er sich auf seine praktischen Lebensumstände besinnt, seine Erfahrungen im Umgang mit anderen, seine großen und kleinen Auseinandersetzungen, Enttäuschungen und Zurückweisungen; und daß er dann die nietzscheanischen Ausführungen über Trieb, Freiheit und Gewalt als Erklärung seiner alltäglichen Erfahrungen nimmt und sagt: Genau so ist es!
Denn die Vorstellung des ständigen Kampfes aller gegen alle, des naturgegebenen Gegensatzes zwischen den Menschen, ist nichts anderes als eine idealisierte Form der kapitalistischen Konkurrenz. Idealisiert ist diese Vorstellung insofern, als alle Gründe für diese Konkurrenz, die besonderen Tätigkeiten und Interessen eben, die bürgerliche Individuen aneinandergeraten lassen, gestrichen sind und nur mehr der pure Gegensatz übrig bleibt.*9
Dieses Ideal des „Kampfes ums Dasein“, der nur unter bestimmten Bedingungen ausgesetzt wird – seltsamerweise nämlich genau dann, wenn sich alle einer übergeordneten Gewalt unterwerfen, – dieses Bild ist nicht von Nietzsche in die Welt gesetzt worden: Die Verteidiger und Rechtfertiger der bürgerlichen Gesellschaft – und des bürgerlichen Staates als der Gewalt, die die kapitalistische Konkurrenz einrichtet und aufrechterhält – von Hobbes bis zu den Sozialdarwinisten, die die „natürliche Auslese“ und das „Überleben des Stärkeren“ als Prinzip des Kapitalismus erfinden – sie haben die Vorstellung vom maßlosen Gewalttäter, dessen einziges Bedürfnis die Schädigung der anderen ist, geboren.

Und Nietzsche geht hier genauso vor wie schon bei der Frage des freien Willens: Er hat an diesem Punkt gar nicht die Absicht, den Staat und das Gewaltmonopol zu rechtfertigen, aber er übernimmt das Bild und schlägt sich wiederum auf die Seite des Individuums – so wie es in diesem Bild gezeichnet wird. Er zieht die umgekehrte Schlußfolgerung von Hobbes & Co. und sagt: Gut, ja, der Mensch ist ein Wolf, ein Raubtier, aber von wegen, er sei zu „Höherem“ fähig! (Das „Höhere“ ist bei den anderen dann Unterwerfung und Moralität.) Wenns seine Natur ist, so ist das eben sein Höchstes, das muß man ihn ausleben lassen, alles andere ist ein Verstoß gegen seine Eigenart:

„Sie“ (Nietzsches Große, seine idealen Charaktere) „treten in die Unschuld des Raubtiergewissens zurück, als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung, mit einem Übermute und seelischem Gleichgewichte davongehen … auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier … nicht zu verkennen. … Diese »Kühnheit« vornehmer Rassen, toll, absurd, plötzlich, wie sie sich äußert, das Unberechenbare, Unwahrscheinliche selbst ihrer Unternehmungen, … ihre Gleichgültigkeit und Verachtung gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen, ihre entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstören, in allen Wollüsten des Sieges und der Grausamkeit. …“ (15)

 

Zusammenfassung dieses ersten Abschnitts

„Natur“ ist für Nietzsche eine, ja schlicht die Grundbestimmung des Menschen, sowohl als Ausgangs als auch als Endpunkt. Obwohl sie Ursache der Zerrissenheit und des menschlichen Leidens ist, soll sie ihm dazu verhelfen, die vorgestellte ursprüngliche Einheit des Menschen – mit sich und der restlichen Natur – wiederherzustellen. Dieses Ideal der seelischen „Gesundheit“ bzw. des Strebens nach ihr verkörpert für ihn der griechische Gott Dionysos:

„Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohn, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubtiere der Felsen und der Wüste.“ (16)

Dieses rosige, leicht biblisch eingefärbte Bild steht zwar in Widerspruch zum vorigen Zitat, wo gerade die Unfriedlichkeit gepriesen wird – das Bindeglied im nietzscheanischen Denken ist eben die Natur: Nur in bezug auf sie herrscht Einheit, und dem, was sie gebietet, hat das Individuum zu gehorchen. Wenn Fressen und Gefressenwerden anstehen, dann muß man eben dabei mitmachen.
Als Werkzeug für die (Wieder)Herstellung dieser Einheit soll die Moral – die natürliche, der Natur abgelauschte – dienen.
Diesen Gedanken der „Einheit mit der Natur“ hat Nietzsche einmal selbst kritisiert, allerdings an den Anhängern der Stoa:

„»Gemäß der Natur« wollt ihr leben? Oh, ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maß, gleichgültig ohne Maß, ohne Ab und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiß zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht – wie könntet ihr gemäß dieser Indifferenz leben? Leben – ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist? … Und gesetzt, euer Imperativ »gemäß der Natur leben« bedeute im Grunde soviel als »gemäß dem Leben leben« wie könntet ihrs denn nicht? Wozu ein Prinzip aus dem machen, was ihr selbst seid und sein müßt? – In Wahrheit steht es ganz anders: indem ihr entzückt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, wollt ihr etwas Umgekehrtes … der Natur, sogar der Natur, eure Moral, euer Ideal, vorschreiben und einverleiben …“ (17)

 

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*1 Um Mißverständnissen vorzubeugen: Natürlich hat jeder Mensch eine Seite, die Natur ist, sie betrifft die Lebensnotwendigkeiten Nahrungsaufnahme und Stoffwechsel einschließlich aller Störungen, Wärme und Schlaf, – mit Einschränkungen, weil bereits dem Willen unterworfen, die Sexualität – diese Dinge gehören der Physiologie des Menschen an. Ich behandle hier, mit Nietzsche, die Art von „Natur“-Bestimmungen, die sich in der Psychologie des Menschen finden lassen sollen, also darin, wie er sich in seinem Denken, Fühlen und Handeln mit der Natur – seiner eigenen und der äußeren – und mit der Gesellschaft, in der er lebt, auseinandersetzt.

*2 Die Praxis dieser ins Moralische überhöhten und als Aussage über die „Natur des Menschen“ vertretenen Schein-Debatte (Schein- deswegen, weil die Einigkeit viel ausgeprägter ist als der Gegensatz, den die Streitpartner einander aufmachen,) läßt sich in den Gerichtssälen und Chronikteilen der Zeitungen demokratischer Staaten studieren: Freiwillig und bei vollem Bewußtsein: Höchststrafe; unter Alkohol- bzw. Drogeneinfluß (= determiniert): nur in Grenzen in die Zuständigkeit der Justiz fallend, gegebenenfalls in entsprechende Anstalten einzuweisen; im Affekt gehandelt, Heimkind (= teilweise determiniert): mildernde Umstände; Vorsatz: verschärfend; … bei der Festlegung des Strafausmaßes spielt auch die Einsicht eine wichtige Rolle, genauso wie das Geständnis: Damit gibt der Übeltäter seine Zustimmung zu dem Gericht, das über ihn gehalten wird, er unterwirft sich selbst noch einmal …

*3 Das Bewußtsein, das Nietzsche dem „Willen zur Macht“ zur Seite stellt, ist ihm kongenial:
„Denken ist nur das Verhalten dieser“ (= unserer) „Triebe zueinander.“ (9)

*4 Nietzsche, dieser angebliche „Rechtfertiger des Imperialismus“ und sonstiger Grausamkeiten – überholt, überlebt, widerlegt? Der „Machthunger“ oder „Agressionstrieb“, die zeitgenössischen Versionen des „Willens zur Macht“, sind heute sehr anerkannte Kategorien in wissenschaftlicher und Alltags-Psychologie, wann immer es darum geht, Ehestreitigkeiten, Kriege und ähnliches damit zu erklären, daß die Menschen „eben so sind“.

*5 d.h., eben gegenüber diesem Auftrag der Selbsterhaltung, einem Zweck, der das genaue Gegenteil dessen ist, als das Nietzsche ihn darstellt, er behauptet, es sei die Maßlosigkeit selbst. Tatsächlich ist Selbsterhaltung das bescheidenste Programm, das man sich überhaupt ausdenken kann. Die eigene Existenz soll hier nicht die Voraussetzung dafür sein, sich das Leben angenehm zu gestalten, sich um Genuß, Bequemlichkeit, Zerstreuung zu kümmern, sondern das bloße Überleben soll schon das einzige Ziel sein. Wer das als seinen Zweck angibt, meldet schon den Verzicht auf jegliche Ansprüche an, bevor sie ihm überhaupt von außen bestritten werden. Einen untertänigeren – nietzscheanisch ausgedrückt: verächtlicheren – Zweck gibt es nicht.

*6 Die Aufforderung zur Selbstaufgabe ist nicht ein Verstoß, eine Aufkündigung des Gebotes der Selbsterhaltung, sondern seine Fortsetzung. Es tritt nur ein höherer Zweck hinzu: Im Interesse der Gemeinde, der Art, der Aufgabe, die es zu erfüllen gilt, und in derem Rahmen man überhaupt erst ein Existenzrecht für sich geltend macht, opfert man das eigene Leben. Denn für sich genommen ist es ja ohne Bedeutung, nur als Werkzeug, als Ausführer von „Größerem“ hat man sich, der eigenen Person überhaupt Bedeutung zugestanden: So vollzieht sich der Übergang zum Märtyrer. (Übrigens auch zum Vaterlandsverteidiger, zum terroristischen Bombenleger und was für Karrieren die moderne Welt sonst noch anzubieten hat für Menschen, die ihm bedingungslosen Opfer ihre höchste Erfüllung finden wollen.)

*7 Kühe als Demokraten? Dabei haben
„alle guten Dinge … etwas Lässiges und liegen wie Kühe in der Wiese.“ (13)

*8 Folgendes sollte hier zu denken geben: Der „Instinkt der Freiheit“ soll etwas sein, was zur menschlichen Natur gehört, sie sogar mehr oder weniger ausmacht – aber dort, wo Nietzsche ihn nicht findet, zweifelt er nicht an dieser seiner Bestimmung, sondern sagt: Diese Menschen verleugnen ihre Natur und sind daher verächtlich. Diese Methode ist ein Sich-Immunisieren gegen die Überprüfung einer Theorie, eines Urteils, denn mit ihr wird gesagt: Die Richtigkeit meines Urteils bemißt sich gar nicht daran, ob ich damit den behandelten Gegenstand auch treffe – denn dort, wo sich die Sache anders verhält, liegt ein Mangel des Gegenstandes vor, nicht einer meiner Theorie.
(Für diesen Mangel gibt es heute verschiedene Namen: „komplex“, „schwierig“, „dialektisch“, oder in der Psychologie: „verklemmt“.)

*9 Dabei läß sich leicht feststellen, daß die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft zu-nächst gerade wegen ihrer ökonomischen oder sonstwie gewaltsam festgelegten Tätigkeit und nicht wegen ihrer psychischen Verfassung in Gegensatz zueinander geraten: Der Produzent z.B. irgendwelcher Güter (Landwirt, Handwerker, Unternehmer) will möglichst teuer verkaufen, der Konsument in seiner beschränkten Zahlungsfähigkeit will möglichst billig kaufen; der Unternehmer will seine Produktionskosten niedrig halten, spart daher am Lohn, der Arbeiter wiederum muß von seinem Lohn leben, er kann ihm daher nie hoch genug sein.
Auch dort, wo die Individuen auf ihre gesellschaftliche Tätigkeit erst vorbereitet werden, in der Schule, geht es darum, die anderen auszustechen – denn in jeder Schulklasse gibt es Schlußlichter, deren Karriere irgendwo zwischen Volksschule und Matura zu Ende ist, und wer will schon zu denen gehören? … Sogar dort, wo die Zuneigung die Menschen zusammenführt, in der Ehe und anderen Formen des Zusammenlebens, ist zumindest ein Nährboden für Zwist und Streitigkeiten immer schon vorhanden: Es handelt sich schließlich hier um Menschen, die ihre Armut miteinander teilen – so will jede Anschaffung und Ausgabe genau überlegt sein, sie bedeutet Einschränkung in anderen Dingen, und was der eine sich leistet, fehlt dem anderen bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse.

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ZITATE

1. Die fröhliche Wissenschaft, 3/473

2. Zur Genealogie der Moral, 5/279

3. Also sprach Zarathustra, 4/111

4. Götzendämmerung, 6/95-96

5. Zur Genealogie der Moral, 5/326

6. Jenseits von Gut und Böse, 5/32

7. ebd., 5/161

8. Morgenröte, 3/326

9. Jenseits von Gut und Böse, 5/54

10. ebd., 5/34

11. Die fröhliche Wissenschaft, 3/490

12. Morgenröte, 3/209

13. Menschliches, Allzumenschliches II, 2/422

14. Götzendämmerung, 6/139-140

15. Zur Genealogie der Moral, 5/275

16. Die Geburt der Tragödie, 1/29

17. Jenseits von Gut und Böse, 5/21-22

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verfaßt und als Dissertation eingereicht: 1988, erstmals publiziert: WUV Verlag 1995, Neuauflage: 2005

www.facultas.at

weiter zu: Probleme eines Moralisten

weiter zu: „Geschichte“ bei Nietzsche

weiter zu: Rassismus und Erziehung

weiter zu: I. Teil, IV. Abschnitt: Der Mensch auf der Suche nach dem Sinn des Seins

weiter zu: II. Teil, II. Abschnitt: Vorwuerfe gegen Nietzsche

weiter zu: II. Teil, III. Abschnitt: Die Nietzsche-Rezeption

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