III. Abschnitt: GEGENWART oder DIE NATION

 

Mit dem Interesse des Erziehers also betrachtet Nietzsche die Welt und untersucht verschiedene Gemeinwesen darauf, wie weit die in ihnen vorfindlichen Lebensbedingungen und Moralvorstellungen, der herrschende „Zeitgeist“ eben, seinem Erziehungsideal entsprechen.

Der bürgerliche Staat wird so mit den griechischen Stadtstaaten verglichen, mit dem römischen Reich, mit mittelalterlicher Fürsten-Herrlichkeit, und er kommt dabei schlecht weg. Hätte Nietzsche eine Notenskala wie ein Lehrer, so würde er der modernen Nation Noten zwischen Befriedigend und Nichtgenügend ausstellen.
Hier wird jede natürliche Ordnung mehr oder weniger auf den Kopf gestellt, meint er: Herrschende gebärden sich als „Diener ihres Volkes“, Untertanen als Herren, die moderne Ehe taugt nichts, weil in ihr beide das Sagen haben, Autorität wird verachtet, Dekadenz macht sich breit, usw. usf. …1
Die Zwecke des Staates werden von Nietzsche nur geteilt, indem er sie als eine Form von Moralität überhaupt interpretiert.

Da er zugleich an seiner rassistischen Konstruktion eines natürlichen Willensinhaltes festhält, sind alle staatlichen Institutionen und Gesetze für ihn Äußerungen dieses „Willens zur Macht“, aber entartet, die Welt ist für ihn grundlegend in Unordnung, er meint:
Weil die falsche Moral gelehrt wird, setzt sich die Natur nicht durch.

Wenn ich mich also in diesem Abschnitt Nietzsches Auffassungen über den Staat widme, ist es wichtig, stets im Auge zu behalten, als was Nietzsche den Staat bespricht: Als Ergebnis der bürgerlichen Moral und gleichzeitig als Bedingung für sie. Nietzsche weiß, daß Tugendhaftigkeit mit Gewalt durchgesetzt werden muß, daß Härten und Zwang dafür notwendig sind – insofern gesteht er dem Staat Notwendigkeit zu: Er ist eben zur Zeit gerade diejenige Gewalt, die Moral durchsetzt, dadurch hat er für Nietzsche eine Existenzberechtigung.

(Der Methode nach betreibt Nietzsche hier Rechtfertigung: Er unterschiebt dem Staat einen anderen Zweck als dieser hat, nämlich seinen eigenen. So errichtet er seine Wunschvorstellung eines „Gemeinwesens“ und mißt das, in dem er lebt, an dieser Wunschvorstellung. Dadurch ist er zwar unzufrieden, daß es sie so wenig erfüllt, aber er hat den Staat als unvollkommene Verwirklichung einer an und für sich guten Sache doch irgendwie umarmt und mit ihm leben gelernt.)

Welche Moral aber dieses Phantasiegebilde*(1) durchsetzt, ist ihm Anlaß zu bitterer Klage: Sie hindert die Leute daran, ihrer „Naturbestimmung“ nachzukommen, ja sie hindert sie sogar daran, sie überhaupt zu erkennen. Dadurch werden sie auch gehindert, eine Rangordnung im nietzscheschen Sinn, ein besseres Gemeinwesen, zu errichten, – vielmehr halten sie am bestehenden fest.
Nietzsches Kritik am Staat und der bürgerlichen Moral ist für ihn ein Versuch, die Menschen aus diesem vermeintlichen Teufelskreis ausbrechen zu lassen. Er charakterisiert seine Absichten so:

„Der Philosoph, wie  wir ihn verstehen, wir freien Geister – als der Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die Gesamt-Entwicklung der Menschheit hat: dieser Philosoph wird sich der Religionen zu seinem Züchtungs- und Erziehungswerke bedienen, wie er sich der jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Zustände bedienen wird.“ 2

 

1. Rasse und Volk

Wenn Nietzsche von „Rassen“ und „Völkern“ schreibt, hat er dabei nichts weniger im Sinn als Körpermerkmale oder Landesgrenzen. Die kommen bei ihm wiederum höchstens als Ergebnis dessen vor, was er als Merkmale von „Rasse“ ausmacht.

„Gekreuzte Rassen sind stets zugleich auch gekreuzte Kulturen, gekreuzte Moralitäten: sie sind meistens böser, grausamer, unruhiger. Die Reinheit ist das letzte Resultat von zahllosen Anpassungen, Einsaugungen und Ausscheidungen, und der Fortschritt zur Reinheit zeigt sich darin, daß die in einer Rasse vorhandene Kraft sich immer mehr auf einzelne ausgewählte Funktionen  beschränkt, während sie vordem zu vieles und oft Widersprechendes zu besorgen hatte …“ 3

Zunächst fällt hier ein logischer Widerspruch auf: Wenn Reinheit einer Rasse „letztes Resultat“ von Einsaugungen und Ausscheidungen sein soll, kann es gar keine „gekreuzten Rassen“ geben – das unterstellt eine ursprüngliche Rassenreinheit.

Die Reinheit, von der Nietzsche spricht, verweist allerdings darauf, wie sehr er bei seinem Rassenbegriff vom Ergebnis ausgeht. Das, was er an Staaten und deren Völkern vorfindet, ist ihm Material für sein Konstrukt einer „Rasse“: Eine „natürliche Moralität“, die einen bestimmten Menschenschlag auszeichnet, der sich wiederum einen ihm (und damit dieser „natürlichen Moralität“) entsprechenden Lebensraum aussucht und ein Staatswesen errichtet, somit zum „Volk“ wird. Zu dieser natürlichen Moralität trägt sogar das Wetter bei, auch das kann „moralisch“ sein 4, auch alle möglichen Lebensumstände und üblen Gewohnheiten können für schlechte Sitten verantwortlich sein:

„Vielleicht ist die europäische Unzufriedenheit der neueren Zeit daraufhin anzusehen, daß unsere Vorwelt … dem Trunk ergeben war. …()… – Die deutsche Unlust am Leben ist wesentlich Wintersiechtum, eingerechnet die Wirkungen der Kellerluft und des Ofengiftes in deutschen Wohnräumen.“ 5

Nietzsche betrachtet also die europäische Staatenwelt und die Unterschiede zwischen den verschiedenen Nationalitäten unter dem Gesichtspunkt: Was sind die natürlichen (klimatischen, geographischen usw.) Ursachen für die Verschiedenheiten? Welche historischen Bedingungen haben dabei mitgewirkt, daß alles so geworden ist, wie es ist? Warum mußte es so kommen und nicht anders?

Mit dieser Vorgangsweise, diesem Versuch der Erklärung von nationalen Besonderheiten, stellt Nietzsche keinen Ausnahmefall dar. Noch fast jedem ist die Methode geläufig, nach einer Urlaubsreise die Eigenarten von Italienern, Türken, Griechen oder Engländern aus dem Klima, dem „Temperament“, der Geschichte und der geographischen Lage abzuleiten.

Seltsam erscheint bei diesen alltäglichen Überlegungen – genauso wie bei Nietzsche –, daß den Leuten nicht zunächst einmal das viel stärker ausgeprägte Gemeinsame auffällt, wenn sie über das Ausland reden: Überall gibt es Recht und Justiz, Regierung, Polizei, Geld, Heere … lauter Dinge, die durchaus nicht auf den Bäumen wachsen. Diese ganzen Erscheinungsformen der Staatsgewalt sind als derartig selbstverständlich anerkannt, daß kein Gedanke mehr darauf verschwendet wird. Daher ist es auch keiner Überlegung wert, wie sich diese verschiedenen Staatsgewalten auf die natürlichen, geographischen und sonstigen Bedingungen beziehen, die sie auf ihrem Territorium vorfinden. Das ist nämlich die Ursache dafür, wie die Lebensbedingungen der jeweiligen Untertanen aussehen und wie deren Anschauungen über Armut und Reichtum, Schicksal und Sittlichkeit und vieles andere mehr ausfallen – eben das, was den „Nationalcharakter“ ausmacht. Wer aber diese Grundlage der nationalen Besonderheit nicht wahrnimmt, der landet notgedrungen bei den gleichen Erklärungen wie Nietzsche und macht Landschaft und Wetter dafür verantwortlich.

Sein Verhältnis zum eigenen, dem deutschen Volk, und zum „Deutschtum“ schwankt in dem Maße, in dem sich seine Wertvorstellungen ändern: Solange er Krieg und Kampfhandlungen als hervorragende Attribute „menschlicher Größe“ ansieht, sie ihm daher auch Anzeichen für die hohe Entwicklungsstufe eines Volkes sind, so lange schätzt er das deutsche Volk hoch ein. Hält er künstlerische Tätigkeit, gehobene Umgangsformen für Zeichen edler Gesinnung, so schneiden die Deutschen bei ihm schlecht ab. Einmal lobt er sie für ihre Disziplin, ein andermal dagegen wirft er ihnen Luther und die Reformation vor, dann ihren schlechten Kunstgeschmack… Es ist immer der gleiche Anspruch, an dem er die Völker und die Individuen mißt, an dem der Größe – aber was macht diese „Größe“ aus?

Darüber grübelt Nietzsche. Seine Kennzeichen für Größe sind veränderlich und subjektiv und müssen es auch sein. Denn was heißt „Größe“? Es heißt: Jemand entspricht meinem Charakterideal, und zwar mehr als alle anderen. Oder, auf eine Nation bezogen: Sie ragt in bezug auf das, was ich als wichtig betrachte, über die anderen hinaus. Objektive Größe gibt es nur, wo sie sich in Zentimetern oder Quadratkilometern messen läßt, von der ist aber bei Nietzsche nicht die Rede.

Nietzsche bietet hier das Bild eines Nationalisten, der kein bedingungsloser Anhänger der eigenen Nation ist. Während der gewöhnliche Nationalist seinen Staat und das was dort gebräuchlich ist, zum Maßstab erhebt, an dem dann die übrige Staatenwelt gemessen wird, ist Nietzsche Weltbürger: er legt sich nicht auf seine Heimat fest, auch auf keinen anderen Staat, sondern wägt zwischen allen ab. Er anerkennt das Prinzip der Nation: Staat muß sein, genauso wie er vorher mit der Moral umgegangen ist: sie muß sein, aber damit erhebt sich die Frage: welche?

Da die „Völker“ für Nietzsche deswegen existieren, weil sie jeweils verschiedene Wertvorstellungen repräsentieren, und da für ihn Verschiedenheiten natürlicherweise Gegensätze hervorrufen, erklärt es sich für ihn auch ganz einfach, daß es Kriege geben muß.

 

2. Krieg

Und für Nietzsche ist es zunächst gut, daß es Kriege gibt, daß für ein Ideal gekämpft und gestorben wird, denn: „Der Krieg ist der Vater aller guten Dinge, der Krieg ist auch der Vater der guten Prosa!“ 6 und „der Krieg erzieht zur Freiheit“ 7, befördert also die Kultur und Dichtung und andere wichtige Veranstaltungen.
In seiner Parteinahme für den Krieg täuscht Nietzsche sich allerdings sehr über das Wesen des Krieges.*(2) Was immer man von seinem kämpferischen Freiheitsideal halten mag, so ist doch nicht zu übersehen, daß es bei Kriegen nie und nimmer um das geht, was er darin sehen möchte:

„Ich sehe viel Soldaten: möchte ich viel Kriegsmänner sehen! »Ein-form« nennt man’s, was sie tragen, möge es nicht Ein-form sein, was sie damit verstecken!
Ihr sollt mir Solche sein, deren Auge immer nach einem Feinde sucht – nach  eurem Feinde. Und bei Einigen von euch gibt es einen Haß auf den ersten Blick.
Euren Feind sollt ihr suchen, euren Krieg sollt ihr führen und für eure Gedanken! Und wenn euer Gedanke unterliegt, so soll eure Redlichkeit darüber noch Triumph rufen!

Euren höchsten Gedanken aber sollt ihr euch von mir befehlen lassen – und er lautet: der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.
So lebt euer Leben des Gehorsams und des Krieges! Was liegt am Lang-Leben! Welcher Krieger will geschont sein!
Ich schone euch nicht, ich liebe euch von Grund aus, meine Brüder im Kriege! –“ 8

Nietzsches Sehnsucht nach lauter Individualisten in Feldgrau zeugt von einem gewissen Willen zur Selbsttäuschung, denn welcher Soldat kämpft schon gegen seinen Feind und für seine Gedanken? Erstens wird überhaupt nicht um Gedanken gekämpft, weil die sind bekanntlich frei und jeder kann sie fassen oder auch lassen, gekämpft wird vielmehr um handfeste materielle Interessen, und zwar solche, die sich ohne Gewalt nicht durchsetzen lassen.

Ein Soldat, also ein Armeeangehöriger, kämpft jedenfalls für den Bestand und Einfluß seines Staates, und er kämpft gegen Menschen, die er nie zuvor gesehen hat, die also schon nicht seine Feinde in dem Sinne, daß er irgendeine persönliche Auseinandersetzung mit ihnen gehabt haben könnte, sind. Sein einziges Verhältnis zu ihnen ist, daß der Staat, in dem er Untertan ist, einem anderen Staat den Krieg erklärt hat, und ihn daher jetzt auf dessen Staatsvolk losläßt. Das Einverständnis mit diesem seinem Verheiztwerden liegt auf Seiten des Wehrmannes oft genug vor, weil Staatsbürger eben Nationalisten sind und die Zwecke und Absichten ihres Staates anerkennen, im Frieden wie im Krieg. Von diesem Einverständnis macht sich aber kein Staat abhängig: Er verkündet eine Wehrpflicht und auf das Verweigern dieses letzten Dienstes steht in Kriegszeiten der Tod. Da also die persönliche Einstellung des einzelnen Soldaten ganz bedeutungslos ist, Pflichterfüllung und Gehorsam seine einzigen Gebote, deswegen steckt er auch in einer Uniform – weil es auf seine Individualität überhaupt nicht ankommt.

Es ist Nietzsches Idealismus des Kampfes, der hier voll zum Zuge kommt: Wo das grundlose Gegeneinander zum höchsten Zweck und zur Bestimmung des Menschen erklärt wird, sind die wirklichen tödlichen Auseinandersetzungen das Anschauungsmaterial, an dem sich zeigt, wie die „Natur“ zu ihrem Recht kommt. Es klingt wie Hohn, wenn es auch nicht so gemeint ist, wenn Nietzsche das Auslöschen des eigenen Lebens als höchsten Auftrag und „Überwindung“ des Menschen bezeichnet. Er sieht beim Soldaten nur mehr das Heldenhafte, den Idealismus, das Fehlen jeder Art von Streben nach Annehmlichkeiten, (wie man es bei Krämern, Engländern, Kühen usw. findet,) und er übersieht geflissentlich den Zwang, die dem Individuum fremden, äußerlichen Zwecke, denen es beim Kriegführen unterworfen ist.

Wie verkehrt sich Nietzsche nicht nur die Zwecke des Menschenmaterials des Krieges, sondern auch des Subjektes der ganzen Veranstaltung, des Staates, erklärt, soll auch noch kurz ausgeführt werden.
Eine Regierung, die sich und ihr Volk auf einen Waffengang vorbereitet, schafft sich nicht nur das entsprechende Gerät an und verpaßt ihrer wehrfähigen Jugend eine Ausbildung an demselben, sondern bereitet die Leute auch geistig darauf vor, daß sie vielleicht irgendwann einmal den Angehörigen eines anderen Landes den Schädel einschlagen sollen: Sie betreibt Feindbildpflege, und daran ist Nietzsche etwas aufgefallen. Diese Feindbildpflege beginnt nämlich gar nicht erst dann, wenn man sich die künftigen Gegner besonders primitiv, unzivilisiert und verhetzt vorstellt, sondern viel früher:

„Keine Regierung gibt jetzt zu, daß sie das Heer unterhalte, um gelegentliche Eroberungsgelüste zu befriedigen; sondern der Verteidigung soll es dienen. Jene Moral, welche die Notwehr billigt, wird als ihre Fürsprecherin angerufen. Das heißt aber: sich die Moralität und dem Nachbar die Immoralität vorbehalten, weil er angriffs- und eroberungslustig gedacht werden muß, wenn unser Staat notwendig an die Mittel der Notwehr denken soll; überdies erklärt man ihn, der genau ebenso wie unser Staat die Angriffslust leugnet und auch seinerseits das Heer vorgeblich nur aus Notwehrgründen unterhält, durch unsere Erklärung, weshalb wir ein Heer brauchen, für einen Heuchler und listigen Verbrecher, welcher gar zu gern ein harmloses und ungeschicktes Opfer ohne allen Kampf  überfallen möchte. So stehen nun alle Staaten jetzt gegen einander: sie setzen die schlechte Gesinnung des Nachbars und die gute Gesinnung bei sich voraus.“ 9

Und in diesem Punkt hat Nietzsche recht: Wer die Verteidigungs-Ideologie teilt, der muß schon vorher der Meinung gewesen sein, daß der eigene Staat nichts Böses tun kann, und daß man dem Ausland und seinen Bewohnern im Grunde nicht über den Weg trauen kann. Seine Verlängerung jedoch geht ganz in die verkehrte Richtung: Er nimmt diese Deutung des Heeres, die ja nur dazu dienen soll, dem Kanonenfutter künftiger Kriege den Staatengegensatz und die Feindschaftserklärung(en) des eigenen Staates plausibel zu machen, für seinen Grund, und meint, die Herrschenden im Lande würden auf ihre eigenen Ideologien hereinfallen: Er meint also, jeder Staat verfolge an und für sich friedliche Zwecke und rüste nur aus Angst vor den anderen:

„Und es kommt vielleicht ein großer Tag, an welchem ein Volk, durch Kriege und Siege, durch die höchste Ausbildung der militärischen Ordnung und Intelligenz ausgezeichnet und gewöhnt, diesen Dingen die schwersten Opfer zu bringen, freiwillig ausruft: »wir zerbrechen das Schwert« – und sein gesamtes Heerwesen bis in die letzten Fundamente zertrümmert. Sich wehrlos machen, während man der Wehrhafteste war, aus einer Höhe der Empfindung heraus, – das ist das Mittel zum wirklichen Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung ruhen muß: während der sogenannte bewaffnete Friede, wie er jetzt in allen Ländern einhergeht, der Unfriede der Gesinnung ist, der sich und dem Nachbar nicht traut und halb aus Haß, halb aus Furcht die Waffen nicht ablegt.“ 10

Es ist klar: Wenn Nietzsche ein Volk als natürliche Einheit festlegt, und von den politischen und ökonomischen Gegensätzen nichts wissen will, so muß ihm ein Kriegsgrund nur durch Willkür, Zufall oder Irrtum erklärbar sein und die Ideologien im Lande müssen ihm Ausdruck des Volksglaubens sein. Sogar dann allerdings ist das obige Zitat widersinnig: Wenn ein Volk wirklich deswegen Krieg macht, weils so daran gewöhnt ist und auch wenn es „halb aus Furcht, halb aus Haß die Waffen nicht ablegt“, welchen Grund sollte es dann haben, einen „wirklichen“ Frieden zu wollen und auf eine Änderung der eigenen „Wehrhaftigkeit“ aus sein? *(3)

Auch Zweifel, ob diese „militärische Ordnung und Intelligenz“ auch wirklich das Wahre ist für seine Vorstellungen von „Größe“ und „Veredelung“, sind Nietzsche in Anschauung des Heerwesens manchmal gekommen:

„Man gebe acht auf die Kommandorufe, von denen die deutschen Städte förmlich umbrüllt werden, jetzt wo man vor allen Toren exerziert: welche Anmaßung, welches wütende Autoritätsgefühl, welche höhnische Kälte klingt aus diesem Gebrüll heraus!“ 11

Solches Befremden über die Realität der Kriegsvorbereitungen ist nichts anderes als das typische Erschrecken eines Schöngeistes, wenn seine Träume einmal mit der häßlichen Wirklichkeit konfrontiert werden, und ihm liegt eine sehr eigenartige Vorstellung von Krieg und Heerwesen zugrunde: In Nietzsches Kriege zieht man offenbar mit derjenigen Stimmung und Ausrüstung, wie sie für eine Wanderung im Gebirge erforderlich sind. Oder mit den Gefühlen und der Rüstung eines Ritters von König Arthurs Tafelrunde.

Ein Gemeinwesen will nicht nur behauptet und nach außen verteidigt werden, auch im Inneren will einiges getan sein, damit die ganze Angelegenheit vorankommt. Für Fortpflanzung und Aufzucht des Nachwuchses wird mittels der Institution der Ehe gesorgt.

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*(1) Nietzsches Vorstellung vom Staat hat wenig mit dem wirklichen zu tun: Dem ist Moral ja nicht Zweck der ganzen Veranstaltung, sondern sie dient ihm als Mittel, um sich die Staatsbürger bei den ganzen Pflichten und Scherereien, die er ihnen auferlegt, gehorsam und willig zu erhalten. Darum, um willige Mütter, Arbeiter und Soldaten zu haben, fördert er Religion und gute Sitten.

*(2) Wie sollte es auch anders sein, bei dieser Betrachtungsweise?

*(3) Heute gibt es den gleichen Kinderglauben an die prinzipielle Güte der Politik, er kommt im Gedanken der „Abschreckung“ vor: Es herrsche ein „Gleichgewicht des Schreckens“ zwischen den „Supermächten“ und sie würden nur aus Gewohnheit, Angst und sonstigen falschen Gründen ihre atomaren und sonstigen Arsenale anlegen: Mit dieser Überzeugung kann man immer appellieren an die hohe Politik, daß sie unbewußt! ein gefährliches Spiel spiele, während die NATO einen Aufrüstungsschritt nach dem andern setzt, im persischen Golf und an einigen anderen Plätzen auf und ab promeniert, Libyen bombardiert und Nicaragua mit einem Dauerkrieg überzogen wird, usw. usf. So geht alles seinen Gang und die friedensbewegten Besserwisser können jammern, daß leider niemand auf sie hört, obwohl sie die „Lösung“ der „Menschheitsprobleme“ in der Tasche haben. Bis zum nächsten Krieg!

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1. vgl. z.B. Götzendämmerung, 6/140-142; Also sprach Zarathustra, 4/61-64; Jenseits von Gut und Böse, 5/120

2. Jenseits von Gut und Böse, 5/79

3. Morgenröte, 3/213

4.  -   "   -   "  3/228

5. Die fröhliche Wissenschaft, 3/485-486

6.   -   "   -   "   -   "   -   "  -  3/448

7. Götzendämmerung, 6/139

8. Also sprach Zarathustra, 4/58-60

9. Menschliches, Allzumenschliches II, 2/678-679

10. ebd.

11. Die fröhliche Wissenschaft, 3/462

 

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