Einschub: RASSISMUS UND ERZIEHUNG

Nach der Behandlung der zwei Formen von Notwendigkeit, denen der Mensch laut Nietzsche unterworfen ist, Natur und Geschichte, eine kurze Zwischenbilanz:

Bereits nach dem ersten Abschnitt, und noch ohne diejenigen Äußerungen zu behandeln, bei denen sein Prinzip auch für oberflächlichere Leseraugen fällig wird, (bei Frauen, Juden, Deutschen …,) steht fest, daß Nietzsche Rassist ist: Er legt (in seinen eigenen Worten) seine Moral, sein Ideal „in die Natur hinein“, reimt sich also die Menschen so zurecht, wie es seinen Wünschen und Vorstellungen entspricht:

Er will „Größe“ des Charakters, herausragende Gestalten – also sagt er: Dieser Hang zur Größe ist im Menschen bereits angelegt: Der „Wille zur Macht“.

„Größe“ gibt es nur dort, wo es Kleineres gibt: Damit der nietzscheanische Held sich von den „Anderen“ abheben kann, muß es sie geben: Die „Sklaven“ oder „die Masse“. Was ist mit deren „Willen zur Macht“? Er ist schwächer als derjenige der „Starken“ und verdient es daher, in seine Schranken gewiesen zu werden – sodaß bei denen, die bei dieser Sportveranstaltung unten zu liegen kommen, diese Unterwerfung ihnen genauso entspricht wie den anderen ihre Herrschaft.
Das ist die „natürliche Rangordnung“ Nietzsches.

Die Aufgabe der Gesellschaft, der „Gemeinde“ ist es nun, dieser Rangordnung, dieser inneren Berufung der Individuen stattzugeben. So natürlich ist sie nämlich auch wieder nicht, daß sie sich von selber durchsetzt: Sie will an den Individuen erst hervorgebracht werden, sie müssen ihrer „Berufung“ erst zugeführt werden.

Damit befindet sich Nietzsche im Grundwiderspruch der modernen Erziehungslehre: Der Zu-Erziehende trägt eine Bestimmung in sich, um die er nicht weiß, der Erzieher aber schon. Das grenzt an ein Wunder – woher will jemand wissen, was einem anderen entspricht, wenn nicht von ihm selber? Der Zögling selber ist aber der letzte, dessen Willensäußerungen zur Festsetzung dessen, was seine „eigentliche“ Bestimmung ausmacht, herangezogen werden. Im Gegenteil, der Erzieher beweist seine „Verantwortung“ darin, an seinen eigenen Vorstellungen davon, was für das Kind gut ist, festzuhalten – auch wenn und gerade wenn das Kind sich widerspenstig gebärdet.

Das Beschneiden bzw. Beeinflussen des kindlichen Willens geschieht nach dieser rassistischen Erziehungslehre nicht deswegen, weil

1. hier verhütet werden soll, daß Unwissenheit zu Verletzungen führt (heiße Herdplatte, offenes Fenster im 5. Stock, usw.),
2. die für das Kind zuständige Aufsichtsperson Ruhe haben will und das betreffende Kind daher ungeachtet seiner Proteste ins Bett steckt,
3. dem „Erziehungsberechtigten“ die Nerven durchgehen und er/sie dem Kind gegenüber gewalttätig wird, oder
4. weil ihm Kenntnisse beigebracht werden sollen, die der Erzieher für nützlich hält,

und sonstige Dinge, die allesamt vom Erziehenden festgelegt werden und bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auch werden müssen.*(1) Denn er sieht sich hier einem Geschöpf gegenüber, das zwar über einen Willen verfügt, dem es aber aus Mangel an Kenntnissen nicht möglich ist, die Inhalte dieses Willens bewußt zu setzen; dem zudem elementare Fertigkeiten nicht geläufig sind, um einen einmal gefaßten Entschluß in die Tat umzusetzen. Das Kind ist also ein Wesen, das der Beaufsichtigung und Leitung schon um des bloßen Überlebens willen in einem gewissen Ausmaß bedarf. Wie sehr es das braucht, und ab wann nicht mehr, ist individuell verschieden und läßt sich leicht erkennen, sofern man Wert drauf legt. Ich verrate hier kein Geheimnis, wenn ich feststelle, daß Eltern und Lehrer im allgemeinen keinen Wert darauf legen, weil es ihnen um anderes geht.*(2)

Erziehung sieht also immer so aus, daß das Kind das lernen und an sich ausbilden soll, was der Erzieher bzw. die Gesellschaft, in der das Kind aufwächst, für nötig hält. Es hängt von diesen Erziehungsinhalten – also den Anforderungen, die diese Gesellschaft an ihre Mitglieder stellt – und der Aufmerksamkeit, die auf die Ausbildung verwendet wird, ab, ob und wieviel Zwang für diese Erziehung erforderlich ist.
Rassistisch wird diese Erziehung in dem Augenblick, wo das Erziehungsziel – das ja auf jeden Fall von außen festgelegt wird – als innere Bestimmung, als „Natur“ des Kindes, als unausgesprochener Auftrag, den es in sich trägt, gehandelt wird. Damit handelt der Erzieher immer im eigentlichen Interesse des Kindes, gleichgültig, ob es mit den Anforderungen fertig wird oder nicht. Gleichgültig ist es auch, wie sehr oder wie oft sein Wille im Verlauf dieser Prozedur gebrochen werden muß, gleichgültig ist, mit welchen Mitteln. Mit der Erfindung der „inneren Bestimmung“, des „SELBST“, hat sich der Erzieher gegen jede Willensäußerung des Kindes immun gemacht – auch und vor allem für den Zeitpunkt, an dem es durchaus imstande ist, seine Interessen selbst wahrzunehmen. Wer als Jugendlicher und Erwachsener noch immer nicht die Merkmale aufweist, die seiner „Natur“ entsprechen sollen, bei dem ist etwas „schiefgegangen“, er „fällt aus dem Rahmen“, „schlägt aus der Art“ usw. Das kann für den Betroffenen unangenehme Folgen haben.
Denn so ein Rassismus entsteht dort und nur dort, wo ein gesellschaftliches Interesse besteht, sich den Willen der solchermaßen Erzogenen mit Gewalt dienstbar zu machen, sie so herzurichten, das sie das Gebotene tun, ohne täglich wieder von neuem darauf verpflichtet werden zu müssen. Oder mit anderen Worten, da werden Menschen auf ein Gesellschaftssystem vorbereitet, das eine Menge Unannehmlichkeiten für sie bereithält und gleichzeitig von ihnen verlangt, sich diese Unannehmlichkeiten zum Eigeninteresse zu machen, sie in das Programm ihres Willens aufzunehmen.

Womit wir bei der Realität unseres heutigen Erziehungssystems wären.

Was ich bei Nietzsche unter „Natur“ und „Geschichte“ abgehandelt habe, ist heute ein sehr anerkannter Beitrag zur pädagogischen Debatte und läuft dort unter der Rubrik „Anlage“ und „Umwelt“. Wieviel Prozent der Leistung eines Schülers, so fragt man dort, sind seiner Veranlagung, seinen natürlichen Fähigkeiten geschuldet, wieviel Prozent seiner Umwelt? Worauf ist sein Versagen zurückzuführen? Ist er unbegabt, oder liegt es daran, daß der Vater Hilfsarbeiter ist und die Mutter auf den Strich geht?

Was bei derlei Überlegungen als Selbstverständlichkeit unterstellt ist, sind die Anforderungen, an denen Schüler sich zu bewähren haben. Daß man in Deutsch und Englisch, Geschichte und Geographie und anderen mehr oder weniger überflüssigen Gegenständen den vom Lehrer verlangten Stoff irgendwie so weit beherrschen, d.h., auswendig lernen muß, daß man zwischen 1 und 4 eingestuft wird, erscheint niemandem, der die Anlage-Umwelt-Debatte führt, als eine Behandlung, die dem Heranwachsenden unzuträglich ist. Schließlich ist die Schule die erste Bewährungsprobe für einen zukünftigen demokratischen Untertanen, und danach, wie er sie besteht, entscheidet sich mit ziemlicher Sicherheit, welcher Berufsgruppe er zukünftig angehören wird: Derjenigen der „Kopfarbeiter“ oder derjenigen der „Handarbeiter“. In der Schule soll festgestellt werden, wer seiner „Natur“ nach besser zum Fließbandarbeiter „veranlagt“ ist und wer sich eher zum Ingenieur „eignet“.

Die Natur ist nämlich einerseits so praktisch, genau diejenigen Fähigkeiten, die in einem modernen kapitalistischen Staat nötig und gefragt sind, anzubieten, und zwar auch noch in der richtigen Anzahl – 1000 Dirigenten auf 3 Bauarbeiter z.B. wäre die falsche Verteilung. Andererseits ist die Natur so unpraktisch, die Leute nicht schon gleich mit einem Schild „Ich bin Tischler“ oder schlicht „Chemiker“ geboren werden zu lassen, sodaß es eines kompletten Ausbildungswesens bedarf, um die jeweilige „Eignung“ festzustellen – alles im Interesse des Menschen, selbstverständlich.*(3)

Die rassistische Festlegung der „natürlichen Anlage“ kommt ohne die Ergänzung der „Umwelt“ nicht aus: Obwohl es ein kleiner theoretischer Widerspruch ist und bleibt, daß der Natur erst auf die Sprünge geholfen werden muß, macht diese „Natur“ einen Geburtshelfer notwendig. Weil es eben nicht in irgendeinem Menschen angelegt ist, mündiger Staatsbürger oder nietzscheanischer Held zu werden, weil das eine von außen an ihn herangetragene Forderung ist, die er sich ungeachtet aller Nachteile, die ihm daraus erwachsen, zu eigen machen soll, deswegen muß sie an ihm erst durch entsprechende Behandlung herausgebildet werden. Und wenn das nicht gelingt, wenn die Individualität und der Eigensinn sich als stärker erweisen, so ist für den Anhänger eines solchen rassistischen Menschenbildes kein Grund gegeben, von seiner Annahme einer „natürlichen Bestimmung“ abzulassen: Die „Umstände“ sind schuld, die „Umwelt“, zu der dann die Erziehung mit dazugehört, hat „versagt“. Oder der Mensch ist „entartet“. (Heute heißt das in der Psychologie „abweichendes Verhalten“.)

Nietzsches Rassismus fällt auf, weil er vom heutigen abweicht, und er macht sich lächerlich, weil er den Vorstellungen eines versponnenen Privatgelehrten entspringt, während der anerkannte Rassismus heute immerhin die Staatsgewalt und die öffentliche Meinung hinter sich hat. Wer sich über Nietzsche entrüstet, sollte überlegen, ob ihn bei dessen Menschenbild stört, daß hier das, was Menschen tun oder tun sollen, zu ihrer Natur erklärt wird. Oder ob er bei seiner Kritik des nietzscheanischen Rassismus den heutzutage gebräuchlichen als Maßstab zugrundelegt und Nietzsche seine Abweichung von bei uns heute durchgesetzten Urteilen vorwirft.

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*(1) Von anderen, äußeren Schranken abgesehen, die mit den Lebensbedingungen dieses Gesellschaftssystems zu tun haben: Daß ein Kind hier eine Belastung für die Eltern darstellt, Zeit und Geld kostet, – 2 Dinge, die bei arbeitenden Menschen knapp sind. Daß ein Kind Geduld beansprucht, die schon anderorten über die Maßen strapaziert worden ist, – daß seine Erziehung und Beaufsichtigung daher meistens gerne und frühestmöglich anderen Institutionen wie Kindergarten, Schule, Internat usw. überlassen werden … Das Erziehungsziel ist bei Eltern (den Erziehungs-Amateuren) ziemlich ähnlich wie bei Lehrern und anderen Profis: Ein Mensch, der sich möglichst problemlos in die bestehende Ordnung einfügt.

*(2) Die vom Gesetzgeber festgelegten Altersstufen für Schulpflicht und Straffälligkeit, Wehrpflicht und Wahlrecht haben erst recht nichts mit einer tatsächlich erreichten Reife zu tun. Vom individuellen Reifegrad macht er sich überhaupt unabhängig, indem er Durchschnittswerte festlegt. Diese wiederum dienen ihm dazu, stufenweise seinen gewaltsamen Zugriff auf das Individuum auszubauen, indem er die Menschen verpflichtet, mit fortschreitendem Alter ihren Willen in immer stärkerem Ausmaße seinen Zwecken dienstbar zu machen. So vollzieht sich die Karriere vom bloßen Paßbesitzer zum „mündigen Staatsbürger“.

*(3) Dieser Rassismus verliert nichts von seiner Schärfe, wenn der Betroffene das Endergebnis seiner Aussortierung anerkennt und behauptet, es entspräche seiner Anlage, welche gesellschaftliche Stellung er einnimmt. Wenn der Inhaber einer gehobenen Position meint, er verdiene diesen Posten dank seiner Tüchtigkeit, und derjenige, der in einer untergeordneten Stellung gelandet ist, sich dreinfindet mit der Begründung, für etwas anderes tauge er nicht und sei schon in der Schule zu dumm für alles gewesen – so ist das zwar ein Beweis für den Erfolg und die Durchgesetztheit dieses Rassismus, nicht aber für seine Richtigkeit.

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