5. Kultur

Die Kultur gilt Nietzsche als Gradmesser dafür, ob in einer bestimmten Gesellschaft, einer bestimmten Zeit sein Ideal von Moral durchgesetzt ist: das Ja zu Leben, oder ob eine andere, niedrigere, dekadentere Moral (er brandmarkt sie als „Pessimismus“, „Nihilismus“, „Verneinung“,) den Ton angibt:

„Man erinnert sich vielleicht, … ()… daß ich anfangs mit einigen Irrtümern und Überschätzungen und jedenfalls als  Hoffender auf diese moderne Welt losgegangen bin. Ich verstand – wer weiß, auf welche persönlichen Erfahrungen hin? den philosophischen Pessimismus des 19. Jahrhunderts als Symptom einer höheren Kraft des Gedankens, einer siegreicheren Fülle des Lebens, als diese in der Philosophie Hume’s, Kant’s und Hegel’s zum Ausdruck gekommen war, – ich nahm die  tragische Erkenntnis als den schönsten Luxus unserer Kultur, als deren kostbarste, vornehmste, gefährlichste Art Verschwendung, aber immerhin, auf Grund ihres Überreichtums als ihren  erlaubten Luxus …()… Man sieht, was ich verkannte …()… Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hilfsmittel des wachsenden oder des niedergehenden Lebens angesehen werden…“ 21

Wie aus dem obigen Zitat hervorgeht, ist es der gleiche Maßstab, nach dem Schopenhauer, Wagner u.a. einmal als Erneuerer der deutschen Kultur gepriesen, ein andermal als dekadent abgetan werden: Der des „wachsenden Lebens“, des Strebens nach Größe … Nietzsches immergleicher Gedanke, der inzwischen nichts Neues mehr ist.

Die Kultur ist Nietzsche der höchste Ausdruck der moralischen Verfassung eines Volkes, an ihr liest man ab, wies um die instinktmäßige Gesundheit in ihm steht. Im Grunde, so meint er, wird überhaupt nur gelebt und gearbeitet, gezeugt, geboren und gestorben, um die Kultur zu befördern. Nur in bezug auf sie haben die staatlichen Maßnahmen und privaten Tätigkeiten Bedeutung. (Die Logik ist ungefähr so: Da ohne trojanischen Krieg keine Ilias geschrieben worden wäre, ist jeder trojanische Krieg in Ordnung, solange er eine Ilias zur Folge hat.)

In dieser Parteinahme für die „Kultur“ liegt die Kaltblütigkeit Nietzsches und mit ihm aller Kulturfreunde. Der nationale Auftrag, also alles, was den Staatsbürgern an Leistung und Opfern abverlangt wird, bekommt so einen höheren Sinn:*(1) Es erscheint als Notwendigkeit der Bewahrung des Guten und Schönen, der Tradition und des Fortschritts. In dieser Betrachtungsweise wird es zur Pflicht (und damit zum Grund und der Existenzberechtigung) des Staates, für „die Kultur“ dazusein. Alles andere, was er den Leuten auferlegt, wird vergleichsweise bedeutungslos. Dieses auf den Kopf gestellte Verhältnis zwischen Staatsauftrag und Kulturleistung bewährt sich auch dort, wo der Kulturfreund kritisch wird: Die Entrüstung, die aufkommt, wenn ein moralisch zweifelhafter Film von der zuständigen Behörde verboten, ein anstößiges Theaterstück abgesetzt wird, entsteht dadurch, daß hier der Staat in den Augen der Kulturanhänger seiner Pflicht nicht genügend nachkommt bzw. gegen sie verstößt. Sie führt nicht zu Zweifeln an der eigenen Sichtweise, sondern bekräftigt diese noch.*(2)

Auch die Appelle wegen der „Freiheit der Wissenschaft und Forschung“ richten sich immer an den, der sie gewährt – konkret an den zuständigen Minister oder ein anderes Mitglied des Staatsapparates. Dieselben Kulturfreunde sind es z.B. auch, die heute der Weltmacht Nr.1 ihre Schlächtereien rund um den Globus als „Dilettantismus“ nachsehen bzw. für gar nicht der Rede wert befinden, während sie den Mangel an „Bildung“ und „Kultur“, der ihre Bürger auszeichnet, gar nicht genug beklagen und verhöhnen können. (McDonald’s, Disneyland, usw.)
Das Verhältnis ist tatsächlich umgekehrt: Die Repräsentanten des Staates fördern und subventionieren die Kultur, weil sie gerne ihre eigenen Absichten und Taten durch eine höhere Weihe schmücken und betonen.*(3) Sie stellen sich damit als Ausführende von menschheitsbeglückenden Dingen vor, die leider! noch nicht! ohne Opfer von Seiten der solchermaßen Beglückten zu haben sind. (Für die weniger anspruchsvollen Mitbürger gibt es eine andere Veranstaltung, die auch das Bedürfnis nach Geborgenheit im Großen Ganzen befriedigt, und die heißt Sport.)

 

5.1. Wissenschaft und Erkenntnis

Zunächst macht Nietzsche aus dem Willen zur Erkenntnis eine Frage der Tugend und des Anstands:

„ … ich will es nicht glauben, ob ich es gleich mit Händen greife: den Allermeisten fehlt das intellektuale Gewissen …()… Was ist mir aber Gutherzigkeit, Feinheit und Genie, wenn der Mensch dieser Tugenden schlaffe Gefühle im Glauben und Urteilen bei sich duldet, wenn  das Verlangen nach Gewißheit ihm nicht als innerste Begierde und tiefste Not gilt, – als Das, was die höheren Menschen von den niederen scheidet! Ich fand bei gewissen Frommen einen Haß gegen die Vernunft vor und war ihnen gut dafür: so verriet sich doch wenigstens das böse intellektuale Gewissen …()… nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens, …()… das ist es, was ich als  verächtlich empfinde, und diese Empfindung ist es, nach der ich zuerst bei Jedermann suche: – irgendeine Narrheit überredet mich immer wieder, jeder Mensch habe diese Empfindung, als Mensch. …“ 23

Wieder ein Nietzsche’scher Widerspruch: Wenn das „intellektuale Gewissen“ die „höheren Menschen von den niederen scheidet“, ist es seltsam, sieben Zeilen später zu behaupten, jeder habe dieses Organ. Entweder – oder!

Wieso macht Nietzsche aus dem Wissensdurst eine Anstandsfrage?

– 1. Er schätzt Wissensdurst und erklärt ihn daher zu einem Ausweis höheren Menschentums.

– 2. Er sieht sich um und findet diese Eigenschaft wenig ausgeprägt, daraufhin

– 3. überlegt er nicht, warum das so ist, aus welchen Gründen sich die Leute falsche Urteile bilden und daran festhalten, sondern

– 4. er stellt einen Mangel fest, – gemessen an dem, was er von den Menschen erwartet, fehlt ihnen etwas, und

– 5. um diesem Mangel abzuhelfen, bedürfte es seiner Meinung nach einer Verpflichtung auf Wißbegierde, zumindest einer Selbstverpflichtung dazu – die Leute müßten ein „Gewissen“ dafür entwickeln. Denn es ist für Nietzsche selbstverständlich, daß mit der richtigen Moral alle Dinge ins rechte Lot zu bringen sind – weil er für das, was ihm mißfällt, als Grund immer eine falsche Moral vermutet.

Solange die Bemühung um richtiges Denken als moralische Anstrengung begriffen wird, sie also ein von außen an das Individuum getragener Anspruch bleibt, ist damit die stillschweigende Annahme verbunden, daß es kein Eigeninteresse nach Erkenntnis geben kann. Obwohl Nietzsche auch diese Möglichkeit erwog, allerdings mit Vorbehalt:

„Weg also mit der Kapuze der Entsagung! der Miene der Demut! Viel mehr und viel besser: so klingt unsere Wahrheit! Wenn die Wissenschaft nicht an die  Lust der Erkenntnis, an den  Nutzen des Erkannten geknüpft wäre, was läge uns an der Wissenschaft? …()… Und wenn zwar in der Wissenschaft das Ich Nichts zu bedeuten hat, so bedeutet das erfinderische glückliche Ich …()… sehr viel in der Republik der wissenschaftlichen Menschen.“ 24

Obwohl Nietzsche im ersten Teil des Zitates die Gründe, Wissenschaft *(4) zu betreiben, richtig formuliert, deutet er im zweiten Teil bereits seinen ersten Einwand gegen sie an: Die Individualität kommt darin zu wenig zu ihrem Recht! Er legt soviel Wert darauf, daß ein starker Charakter seine Besonderheit zu jedem Zeitpunkt und ungeachtet der Betätigung, der er sich gerade hingibt, ausleben soll, daß er im wissenschaftlichen Streben nach Objektivität Verleugnung des ICH und Selbstbeschränkung sieht. Der Sachverhalt, daß Wissen geistig bereichert, nicht verarmt, war ihm durchaus auch bekannt, und deswegen lehnt er die Wissenschaft keineswegs ab. Aber in der strengen Objektivität, die sie auszeichnet, wittert er gleichzeitig die Gefahr des Sich-Selbst-Vergessens, also eine „Verneinung“ des „Lebens“.

Auch der zweite Einwand Nietzsches gegen die Wissenschaft ist, wie der erste, strenggenommen kein Einwand, sondern von ihm als Warnung gedacht, die Leistungen des Verstandes nicht zu überschätzen:

„Der überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang – denn es gibt an sich nichts Gleiches –, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen …()… An und für sich ist schon jeder hohe Grad von Vorsicht im Schließen, jeder skeptische Hang eine große Gefahr für das Leben. Es würden keine lebenden Wesen erhalten sein, wenn nicht der entgegengesetzte Hang, lieber zu bejahen als das Urteil auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten als abzuwarten, lieber zuzustimmen als zu verneinen, – außerordentlich stark angezüchtet worden wäre. … () …
»Erklärung« nennen wirs: Aber »Beschreibung« ist es, was uns vor älteren Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet. Wir beschreiben besser, – wir erklären ebenso wenig wie alle Früheren. …()… wir haben das Bild des Werdens vervollkommnet, aber sind über das Bild, hinter das Bild nicht hinaus gekommen. Die Reihe der »Ursachen« steht viel vollständiger in jedem Falle vor uns, wir schließen: dies und das muß erst vorangehen, damit jenes folge, – aber begriffen haben wir damit Nichts. Die Qualität, zum Beispiel bei jedem chemischen Werden, erscheint nach wie vor als ein »Wunder«, ebenso jede Fortbewegung; Niemand hat den Stoß »erklärt«. Wie könnten wir auch erklären! Wir operieren mit lauter Dingen, die es nicht gibt, mit Linien, Flächen, Körpern, Atomen, teilbaren Zeiten, teilbaren Räumen –, wie soll Erklärung auch nur möglich sein, wenn wir Alles erst zum Bilde machen, zu unserem Bilde! Es ist genug, die Wissenschaft als möglich genaue Anmenschlichung der Dingen zu betrachten …()… Ein Intellekt, der Ursache und Wirkung als Kontinuum, nicht nach unserer Art als willkürliches Zerteilt- und Zerstücktsein, sähe, der den Fluß des Geschehens sähe, – würde den Begriff Ursache und Wirkung verwerfen und alle Bedingtheit leugnen.“ 25

Nietzsche leugnet hier die Fähigkeit des denkenden Individuums, die gegenständliche Welt zu erfassen. Und zwar aus dem ebenso einfachen wie absurden Grund, daß der Gedanke nicht gleich dem Gegenstand ist. Denn daß sich Linien, Flächen usw. strenggenommen nicht in der Wirklichkeit auffinden lassen, ist richtig – aber das gilt für jede Abstraktion: Auch der Baum, der Tisch lassen sich in der Wirklichkeit nicht finden – immer nur besondere Bäume und Tische. Oder, was den Anfangsgedanken des obigen Zitates betrifft: Auch um festzuhalten, daß etwas ähnlich ist, muß man an ihm Gleiches festgestellt haben. Daß Verstand und Wirklichkeit zwei verschiedene Dinge sind, soll dagegen sprechen, daß es Erklärungen gibt? Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: Eben weil es zwei verschiedene Dinge sind, wird Wissenschaft, Nachdenken, Erklärung, erst notwendig: Sonst könnte man das Wissen ja gleich einatmen, oder ausschwitzen.

Nietzsche braucht nach dieser generellen Unzuständigkeitserklärung, die er über die gedankliche Tätigkeit ausspricht, gar nicht mehr anzuführen, was nicht begriffen, nicht erklärt ist. Er legt fest: Nichts ist begreifbar, denn wir können gar nicht begreifen. Er wendet gerade die Bezeichnungen der Verstandestätigkeit gegen sie selbst, was wieder einen Widerspruch enthält: Denn wie kann er über ein Begreifen, das es nicht gibt, Aussagen machen? Was für ein anderes „Begreifen“ schwebt ihm vor, wenn er das vorgefundene als bloß vermeintlich abtut? Wie kann er, mit seinem endlichen Verstand, darum wissen? Was um einen (Marsmenschen-?)Intellekt, der alles „als Kontinuum“ sieht, wenn er solche Betrachtungsweise „als Mensch“ gar nicht kennen kann?
Diese Methode, mit den Kategorien des Verstandes (Begriff, Urteil, Schluß, Ursache, Wirkung, Qualität usw.) gegen ihn vorzugehen, eine Vorgangsweise, die immer ein Widerspruch ist, (wie kann man z.B. von über dem Bild, hinter dem Bild wissen, wenn man über dasselbe nicht hinausgekommen ist?) – diese Vorgangsweise taucht nicht erst mit Nietzsche in der Philosophie auf. Er steht damit in der Tradition KANTs, auf den er sich in dieser Sache auch bezieht:

„Wenn Kant sagt, »der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor«, so ist dies in Hinsicht auf den  Begriff der Natur völlig wahr, welchen wir genötigt sind, mit ihr zu verbinden, …()… welcher aber die Aufsummierung einer Menge von Irrtümern des Verstandes ist. – Auf eine Welt, welche  nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen völlig unanwendbar, diese gelten allein in der Menschen-Welt.“ 26

Es ist immer der gleiche Widerspruch: Was will er von einer Natur wissen, die nicht „unserem“, also auch seinem Begriff entspricht? Wie will er, als Mensch, von einer „anderen“ als der Menschenwelt wissen? Es bleibt eine bloße Behauptung, deren Grund – also die Absicht, aus der heraus diese Behauptung gemacht wird, er an KANT sehr wohl erkannt und kritisiert hat:

„… um Raum für  sein »moralisches Reich« zu schaffen, sah er sich genötigt, eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches »Jenseits«, dazu eben hatte er seine Kritik der reinen Vernunft nötig! Anders ausgedrückt: er hätte sie nicht nötig gehabt, wenn ihm nicht Eins wichtiger als Alles gewesen wäre, das »moralische Reich« unangreifbar, lieber noch ungreifbar für die Vernunft zu machen, – er empfand eben die Angreifbarkeit einer moralischen Ordnung der Dinge von Seiten der Vernunft zu stark!“ 27

und an anderer Stelle, noch schärfer:

„Ein Schleichweg zum alten Ideal stand offen, der Begriff »wahre Welt«, der Begriff der Moral als Essenz der Welt ( – diese zwei bösartigsten Irrtümer, die es gibt!) waren jetzt wieder, Dank einer verschmitzt-klugen Skepsis, wenn nicht beweisbar, so doch nicht mehr  widerlegbar … Die Vernunft, das  Recht der Vernunft reicht nicht so weit … Man hatte aus der Realität eine »Scheinbarkeit« gemacht; man hatte eine vollkommen  erlogne Welt, die des Seienden, zur Realität gemacht … Der Erfolg Kant’s ist bloß ein Theologen-Erfolg …“ 28

Wieso also übernimmt Nietzsche doch Elemente von Kants Erkenntnistheorie, wenn er sie als Theologen-Trick entlarvt?

Die Antwort ist sehr einfach: Nietzsche will zwar nicht den Glauben an die Existenz Gottes gegen alle Kritik sicher machen, wie Kant es wollte, um seine ethischen Vorstellungen abzusichern, („ich sah mich genötigt, das Wissen aufzuheben, um zum Glauben Platz zu bekommen …“29) aber auch er hat einen Begriff von Moralität zu verteidigen, dessen „Angreifbarkeit … von Seiten der Vernunft“ er ebenfalls sehr stark empfindet!

Er geht dabei so weit, die Wissenschaft nicht nur zu einem Irrtum zu erklären, sondern gleich zu einer Art von Metaphysik:

„Wenn ihr so entzückt von der Gesetzmäßigkeit in der Natur redet, so müßt ihr doch entweder annehmen, daß aus freiem, sich selbst unterwerfendem Gehorsam alle natürlichen Dinge ihrem Gesetze folgen – in welchen Falle ihr also die Moralität in der Natur bewundert –; oder euch entzückt die Vorstellung eines schaffenden Mechanikers, der die kunstvollste Uhr, mit lebenden Wesen als Zierrath daran, gemacht hat. – Die Notwendigkeit in der Natur wird durch den Ausdruck »Gesetzmäßigkeit« menschlicher und ein letzter Zufluchtswinkel der mythologischen Träumerei.“ 30

Mit diesem Taschenspielertrick, mit dem er wissenschaftliches Denken als eine Form des Glaubens darstellt, oder zumindest: ihm die Gläubigkeit als Voraussetzung unterschiebt, ist der Gegensatz zwischen Glauben und Wissen (um den er an anderer Stelle genau Bescheid weiß! siehe Punkt 5.2.) getilgt. (Genaugenommen geht einem sogar jeglicher Unterschied verloren.) Haben sie doch den gleichen Ursprung, und der ist in irgendeinem Instinkt begründet, dient jedenfalls dem „Leben“. (vgl. auch Abschn. I, Zitat 1) Deshalb ist Nietzsche auch wieder ein Anhänger von Wissenschaft, allerdings mit einer weiteren Einschränkung, die sein dritter und schwerwiegendster Einwand gegen sie ist:

„die Wissenschaft …()… bedarf in jedem Betrachte erst eines Wert-Ideals, …()… sie selber ist niemals werteschaffend.“ 31

Es ist natürlich nicht die Wissenschaft, die eines Wert-Ideals bedarf, sondern Nietzsche, und er stellt in bezug auf dieses seinige Bedürfnis an der Wissenschaft einen Mangel fest. Er geht sogar so weit, ihr vorzuwerfen, daß sie es nicht fertigbringt, ein Gegenideal gegen das asketische Ideal des Christentums aufzurichten. 32
Gegen ein asketisches Ideal kann man im Grunde nur einen Einwand machen, und das ist das Beharren auf dem eigenen Bedürfnis, das Verlangen nach Annehmlichkeiten, Genuß, Wohlstand. Aber das ist nicht Nietzsches Konsequenz: Er spricht ausdrücklich von einem Gegen-Ideal, und das ist nicht mit der Befriedigung materieller Bedürfnisse zu verwechseln. Und dagegen, daß man diesem „Irrtum“, (zu meinen, mit der Wissenschaft könnte man mit dem ganzen religiösen Entsagungs-Getue aufräumen, wie er selber noch in Zitat 68 angedeutet hat), aufsitzen könnte, polemisiert er schärfstens:

„Wie? Das letzte Ziel der Wissenschaft sei, dem Menschen möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu schaffen? Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären, daß, wer möglichst viel von der einen haben  will, auch möglichst viel von der anderen haben  muß, …()… Und so steht es vielleicht!“ 33

Man merkt: Es wird gar kein Grund angegeben, warum die Wissenschaft nicht imstande sein sollte, „Unlust“-Quellen zu beseitigen, oder warum das prinzipiell unmöglich sein sollte. Der einzige „Grund“ ist Nietzsches Wunsch: möge es doch so sein!, den er hier zum Vater seines Gedankens macht. Wo die „Zucht des großen Leidens“ die Erhöhungen des Menschen schaffen soll, wird man doch eine derart wichtige Veranstaltung nicht abschaffen! (Das wäre nämlich das absolute Ende: Christ, Kuh, Engländer usw.)

Zusammenfassung von Nietzsches Auffassung über Wissenschaft:

Wissenschaft entsteht aus verschiedenen Trieben, ist daher natürlich und dient dem „Leben“, aber sie weist folgende Mängel auf:

1. befördert sie die Charakterbildung nicht oder nicht in der gewünschten Weise,

2. beruht sie auf Irrtümern und Einbildung, das macht zwar nichts, sollte einen aber daran hindern, sie zu überschätzen,

3. taugt sie nichts zur Begründung moralischer Normen und
4. verleitet sie die Leute womöglich dazu, sich in – Nietzsches Meinung nach – völlig unangemessener Form um ihr Wohlbefinden zu kümmern.

Die Schlußfolgerung Nietzsches, die sich aus dieser Ansammlung von Mängeln heraus geradezu aufdrängt, lautet: Sie braucht daher immer eine oder mehrere Ergänzungen. Für sich allein kann die Wissenschaft das, was Nietzsche sucht, nicht erfüllen.

_________________________________

*(1) Nietzsche charakterisiert seine Einstellung so:

„Dem Kultus des Genius’ und der Gewalt muß man, als Ergänzung und Heilmittel, immer den Kultus der Kultur zur Seite stellen: welcher auch dem Stofflichen, Geringen, Niedrigen, Verkannten, Schwachen, Unvollkommenen, Einseitigen, Halben, Unwahren, Scheinenden, ja dem Bösen und Furchtbaren eine verständnisvolle Würdigung und das Zugeständnis,  daß dies Alles nötig sei, zu schenken weiß.…“ 22

*(2) Diese Sichtweise ist nicht, wie wohlmeinende Betrachter meinen, der „Manipulation“ oder einem Mangel an Information geschuldet. In den gleichen Zeitungen, wo es auf Seite x einen Kulturteil gibt, wo man wieder einmal nachlesen kann, daß Regisseur A das Theaterstück B von Autor C schlecht/gut inszeniert hat, aber immer noch besser /schlechter als Regisseur D im Jahr y in der Stadt E, und daß Schauspieler F, der ja schon in Stück G von Autor H unter der Regie von I die Rolle J ausgezeichnet/miserabel gespielt hat, was aber darauf zurückzuführen ist, daß ... und so weiter, – in den gleichen Zeitungen steht auch mit ähnlicher Ausführlichkeit drinnen, was irgendwelche Politiker gerade wieder beschlossen und in die Tat umgesetzt haben, und auch die Folgen dieser Beschlüsse sind in ebendiesen Blättern nachzulesen: Etwas mehr Armut hier, einige Leichen dort, verschärfte Konkurrenzbedingungen in der Sparte soundso, florierender Geschäftsgang beim Unternehmen soundso. Das alles ist gar kein Geheimnis, man muß es nur zur Kenntnis nehmen.
Wenn Leute trotzdem Lesungen, Theaterstücke oder die neueste Erfindung auf dem Gebiet der Kommunikationstechnik für das Um und Auf und das Herz aller Dinge nehmen, so deswegen, weil sie trotz aller nicht zu übersehender Gewaltakte und Härten ein positives Verhältnis zum Staat entwickeln und bewahren wollen: Sie wollen sich einhausen, suchen eine Heimat, wo gut sein ist, und distanzieren sich als Vertreter eines „besseren“ Österreich (Deutschland, Luxemburg, Belutschistan) von seinem häßlichen Erscheinungsbild.

*(3) So ist Österreich z.B. nicht nur ein relativ unbedeutender Kleinstaat in Mitteleuropa mit mäßiger wirtschaftlicher Potenz, sondern auch die Heimat Mozarts, Haydns und der Lipizzaner, es verfügt über eine international anerkannte österreichische Literatur, usw. (wie auch die zweite Strophe der Bundeshymne besagt: „Heimat bist du großer Söhne, Volk begnadet für das Schöne, vielgerühmtes Österreich!“)

*(4) Wenn Nietzsche von Wissenschaft spricht, verbindet er damit einen Wissenschaftsbegriff, der heute nur mehr bei der Naturwissenschaft besteht – die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften haben sich von diesem Begriff, bei dem u.a. eine Scheidung in richtige und falsche Aussagen vorgenommen wird, längst distanziert.

 

1. vgl. z.B. Götzendämmerung, 6/140-142; Also sprach Zarathustra, 4/61-64; Jenseits von Gut und Böse, 5/120

2. Jenseits von Gut und Böse, 5/79

3. Morgenröte, 3/213

4. ebd.  3/228

5. Die fröhliche Wissenschaft, 3/485-486

6. ebd., 3/448

7. Götzendämmerung, 6/139

8. Also sprach Zarathustra, 4/58-60

9. Menschliches, Allzumenschliches II, 2/678-679

10. ebd.

11. Die fröhliche Wissenschaft, 3/462

12. Götzendämmerung, 6/141-142

13. Menschliches, Allzumenschliches I, 2/76-77

14. ebd., 2/282

15. z.B. Jenseits von Gut und Böse, 5/212

16. Die fröhliche Wissenschaft, 3/387

17. ebd., 3/427

18. Menschliches, Allzumenschliches I, 2/313-314

19. ebd., 2/299

20. Götzendämmerung, 6/142

21. Nietzsche contra Wagner, 6/424

22. Menschliches, Allzumenschliches II, 2/461

23. Die fröhliche Wissenschaft, 3/373-374

24. Menschliches, Allzumenschliches II, 2/417

25. Die fröhliche Wissenschaft, 3/471-473

26. Menschliches, Allzumenschliches I, 2/41

27. Morgenröte, 3/14

28. Der Antichrist, 6/176-177

29. KANT, Kritik der Reinen Vernunft, Vorrede zur 2. Ausgabe; Reclam 1979, S 32

30. Menschliches, Allzumenschliches II, 2/384

31. Zur Genealogie der Moral, 5/402

32. siehe: Zur Genealogie der Moral, 5/400 ff

33. Die fröhliche Wissenschaft, 3/383

 

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