3. Die Ehe und die Frauen

„Aus der modernen Ehe ist ersichtlich alle Vernunft abhanden gekommen: das gibt keinen Einwand gegen die Ehe ab, sondern gegen die Modernität. Die Vernunft der Ehe – sie lag in der juristischen Alleinverantwortlichkeit des Mannes, …()… sie lag in ihrer prinzipiellen Unauflösbarkeit …()… Sie lag insgleichen in der Verantwortlichkeit der Familien für die Auswahl der Gatten. Man hat mit der wachsenden Indulgenz zugunsten der Liebes-Heirat geradezu die Grundlage der Ehe, das, was erst aus ihr eine Institution macht, eliminiert. Man gründet eine Institution nie und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe nicht, wie gesagt, auf die »Liebe«, – man gründet sie auf den Geschlechtstrieb, auf den Eigentumstrieb (Weib und Kind als Eigentum), auf den Herrschafts-Trieb, der sich beständig das kleinste Gebilde der Herrschaft, die Familie, organisiert,…“ 12

Hier täuscht sich Nietzsche in mehrfacher Hinsicht. Die Ehe gründet sich, eben weil sie eine Institution ist, weder auf die Liebe noch auf den Wunsch, seine Sexualität zu befriedigen (von den anderen, von Nietzsche erfundenen Trieben ganz zu schweigen). Liebe und Sexualität mögen Anlässe sein, sich zu verheiraten, der Grund dafür sind sie nicht. Beides läßt sich unkomplizierter und besser abwickeln, ohne daß der ganze Zirkus um Aufgebot und Jawort, Treuegelöbnis und Mitgift, Scheidung und Eifersuchtsmord aufgeführt wird.

In der archaischen Form, von der Nietzsche spricht, und in der sich die Ehe unter staatlicher Patronanz in einer ganzen Reihe von Weltgegenden erhalten hat, vor allem dort, wo der Islam Staatsreligion ist, in dieser Form gründet sie sich auf unmittelbare Gewalt. Die Ehepartner werden von den Eltern ausgewählt und haben sich dem zu fügen. Will einer der solchermaßen Verheirateten die Ehe nicht eingehen oder auflösen, so drohen ihm, abgesehen vom Verlust jeglicher Existenzgrundlage, harte Strafen, bis zum Tod, und ganze Sippen stehen mit ihrer Ehre dafür gerade, daß entweder die Ehe eingehalten oder die Sanktion vollstreckt wird. Dies nur zur „Vernunft“, deren Verlust Nietzsche beklagt.

Die moderne Ehe hingegen gründet sich auf Gesetze, also auf mittelbare Gewalt. Hier verpflichten sich zwei Menschen freiwillig, ihre(n) Auserwählte(n) stets zu lieben. Was das heißt, wußte Nietzsche:

„Man kann Handlungen versprechen, aber keine Empfindungen; denn diese sind unwillkürlich. Wer jemandem verspricht, ihn immer zu lieben oder immer zu hassen oder ihm immer treu zu sein, verspricht etwas, das nicht in seiner Macht steht; wohl aber kann er solche Handlungen versprechen, welche zwar gewöhnlich die Folgen der Liebe, des Hasses, der Treue sind, aber auch aus anderen Motiven entspringen können: denn zu einer Handlung führen mehrere Wege und Motive. Das Versprechen, Jemanden immer zu lieben, heißt also: so lange ich dich liebe, werde ich dir die Handlungen der Liebe erweisen; liebe ich dich nicht mehr, so wirst du doch die selben Handlungen, wenn auch aus anderen Motiven, immerfort von mir empfangen: so daß der Schein in den Köpfen der Mitmenschen bestehen bleibt, daß die Liebe unverändert und immer noch die selbe sei. – Man verspricht also die Andauer des Anscheines der Liebe, wenn man ohne Selbstverblendung jemandem immerwährende Liebe gelobt.“ 13

(Ohne Selbstverblendung, nebenbei bemerkt, geht das gar nicht: Was für einen Grund gibt es, so etwas bewußt zu geloben?)

Das genau ist es, wozu Eheleute sich verpflichten: Im Gesetzeswerk bis ins kleinste Detail festgelegte Dienste gegenüber dem anderen abzuleisten, auch wenn die Zuneigung, die ursprünglich einmal bestanden hat, nicht mehr vorhanden ist. Die Auflösbarkeit der Ehe tut ihrer Tauglichkeit keinen Abbruch – denn auch da erteilt der Gesetzgeber genaue Richtlinien, unter welchen Bedingungen eine Ehe aufgelöst werden darf, und die Bestimmungen über Vermögenstrennung und Unterhaltspflicht tragen oft genug dazu bei, daß Ehen auch noch dann aufrechterhalten werden, wenn den Ehepartnern die Gegenwart des jeweils anderen bereits unerträglich geworden ist. Dieselben Bedingungen, die eine Scheidung ermöglichen (bzw. verhindern), stellen auch sicher, daß im Falle der Auflösung einer Ehe die Zuständigkeiten festgelegt werden, sofern dieser Pakt die staatlicherseits erwünschten Folgen – Kinder – gehabt hat. Daß nämlich zukünftige Staatsbürger geboren und aufgezogen werden, und zwar so, daß die Erzeuger selbst die Unkosten dafür tragen, ist der Hauptgrund für die Einrichtung der Ehe. Zusätzlich wird dabei noch sichergestellt, daß die lieben Kleinen auch die nötige moralische Vorbildung bekommen – notfalls mit ein paar „g'sunden Watschen“ – um sich später ohne größeren Widerstand in das zu fügen, was auf sie zukommt. (Wo Zweifel bestehen, daß Kinder „anständig“ erzogen werden, spricht man von „Verwahrlosung“ und andere Institutionen, wie Jugendamt und Fürsorge, sehen sich zum Einschreiten genötigt.) Die Auflösung einer Ehe tut also den staatlichen Zwecken keinen Abbruch, da der Unterhalt für diejenigen Familienmitglieder, die nicht erwerbsfähig sind, ja weiterhin dem obliegt, der bisher dafür gesorgt hat, ebenso wie die Aufsicht über noch Minderjährige.

Zurück zu Nietzsche und seinen Vorstellungen über die Ehe.

Für ihn ist die Ehe gut und wichtig, weil sie verschiedenen Trieben, vor allem dem „Herrschaftstrieb“ (der nichts anderes ist als sein immer wieder herbeizitierter „Wille zur Macht“,) Befriedigung gewährt. Da in seinem Weltbild Herrschaft naturnotwendig ist, kommt es für ihn darauf an, Institutionen zu finden oder zu schaffen, wo sich dieser „Herrschaftstrieb“ angemessen austoben kann – und die Ehe ist für ihn eine solche Institution.

Wo geherrscht wird, dort gibt es Unterworfene, und beides soll irgendwie aus der „Natur“ der beiden Seiten erklärt werden. Daher meint Nietzsche: Es entspricht dem Mann, zu gebieten, die Frau ist zum Gehorchen geboren.

Wie kommt er zu diesem Schluß? Er kommt darauf, weil er eben dieses Verhältnis vorfindet. Es ist so, daß in den meisten Ehen der Mann das Sagen hat, weil er für den Unterhalt sorgt und die anderen daher von ihm abhängig sind, und weil sich oft genug die Frau auch noch in dieses Verhältnis fügt, es von vornherein akzeptiert und die Ehe in dem Wissen eingeht, hiermit aus einer Abhängigkeit – der von den Eltern – in eine andere, die des Mannes, zu geraten. Diese Haltung mag zu Nietzsches Zeiten ausgeprägter gewesen sein, ist aber heute noch eher die Regel als die Ausnahme.

(Nietzsche kommt zu dem Schluß, daß die Ehe „natürlich“ ist – aus dem gleichen Grund, aus dem er schließt, daß Herrschaft „natürlich“ sein muß – weil es sie gibt und er meint, daß es daher wohl irgendeine Notwendigkeit damit haben wird.)

Die Ehe gilt ihm daher als Erfüllung natürlicher Anlagen und er präsentiert sein Frauenbild:

„Die Frauen wollen dienen und haben darin ihr Glück …“ 14

In dieser ihnen von ihm zugedachten „Berufung“ kann Nietzsche den Frauen durchaus etwas abgewinnen: Stellen sie durch ihre Hingabe doch Bedingungen zur Verfügung, unter denen sich der Charakter des Mannes entwickeln kann. (Und Hingabe ist eine Tugend, die bei Nietzsche hoch im Kurs steht: gilt sie ihm doch als eines der wesentlichsten Merkmale einer aristokratischen Moral 15, also derjenigen Moral, die er den Menschen, auf die er setzt, – den „Großen“, – anempfiehlt, damit sie ihrer Bestimmung nachkommen.) Allerdings birgt die hingebungsvolle Liebe einer Frau auch immer die Gefahr in sich, daß sie den Mann zu sich herunterzieht und er dadurch übersieht, seiner Pflicht zum höheren Menschentum nachzukommen. Das ist Nietzsches Bedenken gegen Liebe und Ehe:

„Am deutlichsten aber verrät sich die Liebe der Geschlechter als Drang nach Eigentum: der Liebende will den unbedingten Alleinbesitz der von ihm ersehnten Person, er will eine ebenso unbedingte Macht über ihre Seele wie ihren Leib, er will allein geliebt sein und als das Höchste und Begehrenswerteste in der anderen Seele wohnen und herrschen … erwägt man endlich, daß dem Liebenden selber die ganze andere Welt gleichgültig, blaß und wertlos erscheint und er jedes Opfer zu bringen, jede Ordnung zu stören, jedes Interesse hintennach zu setzen bereit ist: so wundert man sich in der Tat, daß diese wilde Habsucht und Ungerechtigkeit der Geschlechterliebe dermaßen verherrlicht und vergöttlicht worden ist, wie zu allen Zeiten geschehen …“ 16

So ein selbstgeschaffenes Gefängnis, so ein goldener Käfig mag für Frauen das Richtige sein, das Ziel ihrer Sehnsüchte und das, wofür sie eigentlich da sind, meint Nietzsche, für seine freien Geister ist es nichts:

„… der Freigeist will nicht bedient sein und hat darin sein Glück.“ 14

Diese Bedenken sind auch der Grund für seine Verachtung der Frauen: Er sieht sie als eine der Fußangeln an, an denen seine heroischen Naturen zu Fall kommen: Sie werden bescheiden, gehen im Eheglück auf, pflegen die Art Wohlbefinden, die die verächtlichen Naturen auszeichnet (Christ, Weib, Krämer…). Und diese Bedenken gegen die Frauen nehmen bei ihm zeitweise solche Ausmaße an, daß er sie zu einer einzigen Bedrohung seines Menschen-Erziehungs-Planes hochstilisiert, und eine Psychologie der Frau entwirft, in der ihr diese Bedrohung als Zweck zugeschrieben wird. Bei dieser Publikumsbeschimpfung Nietzsches kommen nur Kant und die Priester noch schlechter weg als die Frauen.

Also: Nietzsche verachtet die Frauen, weil er

– seinen immergleichen Maßstab, den seines Charakterideals, der „Befähigung zur Größe“, an sie anlegt,

– ihre gesellschaftliche Stellung zu ihrer Natur erklärt und

– ihnen daher diese Befähigung abspricht,

– um ihrem Willen doch noch einen Inhalt zu geben, ihnen einen Zweck unterschiebt, den sie gar nicht haben können, weil er ein Erfindung Nietzsches ist,

– dank seiner glücklichen Festlegung des „Willens zur Macht“ als Äußerung der „Natur“ nicht mehr zwischen Naturbestimmungen (Geschlecht) und wirklichen Willensentscheidungen (für Religion, für Moralphilosophie) unterscheiden kann.
In manchen Augenblicken relativiert er auch seine harten Urteile über das andere Geschlecht, in der einzigen Form, die für ihn in Frage kommt: nicht indem er seine eigenen Urteile auf ihre Stimmigkeit prüft, auch nicht, indem er das Rollenverhalten der Frauen kritisiert, sondern indem er sie entschuldigt: wie alle Menschen, so können auch sie nichts dafür …

„Man brachte einen Jüngling zu einem weisen Manne und sagte: »Siehe, das ist einer, der durch die Weiber verdorben wird!« Der weise Mann schüttelte den Kopf und lächelte. »Die Männer sind es, rief er, welche die Weiber verderben: und Alles, was die Weiber fehlen, soll an den Männern gebüßt und gebessert werden, – denn der Mann macht sich das Bild des Weibes, und das Weib bildet sich nach diesem Bilde.« – »Du bist zu mildherzig gegen die Weiber, sagte einer der Umstehenden, du kennst sie nicht!« Der weise Mann antwortete: »Des Mannes Art ist Wille, des Weibes Art Willigkeit, – so ist das Gesetz der Geschlechter, wahrlich! ein hartes Gesetz für das Weib! Alle Menschen sind unschuldig für ihr Dasein, die Weiber aber sind unschuldig im zweiten Grade …“ 17

Wenn Verteidigung und Fortpflanzung geregelt sind, so kommt man als ideeller Staatengründer nicht umhin, einige Überlegungen auf die Erzeugung und Verteilung der materiellen Güter zu verschwenden.

 

4. Armut und Reichtum. Die „Arbeiterfrage“.

Nietzsche widmet diesem Thema keinen breiten Raum in seinen Schriften. Er war ein sehr überzeugter Anhänger des Prinzips „Arbeit schändet“. Überall dort, wo er Tätigkeiten nicht als „Schaffen“, als „schöpferisch“ interpretieren kann, sondern zugestehen muß, daß sie dem bloßen Broterwerb dienen, ist ihm ein gewisser Ekel anzumerken – man liest zwischen den Zeilen förmlich das Nasenrümpfen mit.*(4)

Was er zu den Wirkungen des Reichtums und der Armut bemerkt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen:

„Der Reichtum erzeugt notwendig eine Aristokratie der Rasse, denn er gestattet, die schönsten Weiber zu wählen, die besten Lehrer zu besolden, er gönnt dem Menschen Reinlichkeit, Zeit zu körperlichen Übungen, und vor allem Abwendung von verdumpfender körperlicher Arbeit. Soweit verschafft er alle Bedingungen, um, in einigen Generationen, die Menschen vornehm und schön sich bewegen, ja selbst handeln zu machen: die größere Freiheit des Gemüts, die Abwesenheit des Erbärmlich-Kleinen, der Erniedrigung vor Brotgebern, der Pfennig-Sparsamkeit. – Gerade diese negativen“ (gemeint ist: logisch negativ, Abwesenheit von) „Eigenschaften sind das reichste Angebinde des Glücks für einen jungen Menschen, ein ganz Armer richtet sich gewöhnlich durch Vornehmheit der Gesinnung zugrunde, er kommt nicht vorwärts und erwirbt nichts, seine Rasse ist nicht lebensfähig. – Dabei ist aber zu bedenken, daß der Reichtum fast die gleichen Wirkungen ausübt, wenn einer 300 Taler oder 30.000 jährlich verbrauchen darf: es gibt keine wesentliche Progression der begünstigenden Umstände mehr. Aber weniger zu haben, als Knabe zu betteln und sich zu erniedrigen, ist furchtbar: Obwohl für Solche, welche ihr Glück im Glanz der Höfe, in der Unterordnung unter Mächtige und Einflußreiche suchen oder welche Kirchenhäupter werden wollen, es der rechte Ausgangspunkt sein mag. (– Es lehrt, gebückt sich in die Höhlengänge der Gunst einzuschleichen.)“ 18

Zunächst ist Nietzsche hier vorbehaltslos zuzustimmen. Wer der Sorge um seinen Lebensunterhalt enthoben ist, wer die Muße und die Mittel hat, um seinen Interessen ungestört nachzugehen, der findet wirklich alle Bedingungen für gründliche und umfassende Bildung und Körperpflege vor. Zusätzlich fallen bei ihm alle Gründe für die Entwicklung derjenigen Gefühle weg, die einem den Umgang mit einigen Mitmenschen gründlich verleiden können, – Gefühlen, die jedenfalls aus der Not geboren sind und nicht aus dem Überfluß, wie Neid, Geiz und Schadenfreude. Man muß nur stets bedenken, was Bedingung heißt: Sie zwingt zu nichts, sondern ermöglicht nur: Es liegt am Individuum, diese Möglichkeiten zu nutzen.

Auch in der Festlegung eines Maßes für Reichtum hat Nietzsche recht, wenn auch niemand mehr mit Talern etwas anfangen kann. Solange Reichtum in Geld gemessen wird und nicht in Gütern und Annehmlichkeiten, über die man verfügt – was zwar üblich, aber deswegen durchaus nicht selbstverständlich ist – so lange stellen sich die Grenzen dieses Reichtums in Geld dar. Sein Maß hat er jedenfalls im Bedürfnis: Wo es nicht befriedigt werden kann, dort ist zuwenig da. Wo es befriedigt wird, ist genug da; alles zusätzliche schadet zwar nicht, ist jedoch überflüssig. Also: Dort, wo das bedürftige Individuum auf seine Kosten kommt, ohne irgendwelche Strapazen auf sich nehmen zu müssen, dort kann man von Reichtum sprechen. Alles darunter ist Armut.*(5)

Daß ein Mensch, der über keinerlei Reichtümer verfügt, sich gewisse Haltungen, wie z.B. Großzügigkeit, nicht leisten kann, ist auch noch richtig. Dann aber kommt ein typischer Nietzsche-Übergang: Er beginnt, von „Rasse“ zu reden. In diesem Fall ist „Rasse“ nicht an nationale Zugehörigkeit geknüpft, sondern an eine gesellschaftliche Stellung. Nietzsche meint, die Menschen hätten es sozusagen im Blut, arm oder reich zu sein. Reichtum und Armut sind für ihn nur eine andere Erscheinungsform seines „natürlichen Gegensatzes“ von Herrschaft und Sklaverei. Die „Lebensfähigkeit“ dieser Art von „Rasse“ beweist sich für ihn dann darin, sich die seinen Lebensumständen entsprechende Geisteshaltung zuzulegen: Den Reichen die Vornehmheit, den Armen der Stumpfsinn:

Meine Utopie. – In einer besseren Ordnung der Gesellschaft wird die schwere Arbeit und Not des Lebens Dem zugemessen sein, welcher am wenigsten durch sie leidet, also dem Stumpfesten, und so schrittweise aufwärts bis zu Dem, welcher für die höchsten sublimiertesten Gattungen des Leidens am empfindlichsten ist und deshalb selbst noch bei der größten Erleichterung des Lebens leidet.“ 19

(Aus dem Zitat geht nicht hervor, worunter ein solchermaßen auf Händen Getragener dann noch „leiden“ müßte. Vermutlich an Migräne oder etwas Ähnlichem. Oder am Bruch mit der Natur.)

Dieses Zitat steht im Widerspruch zum vorigen, das in sich bereits einen Widerspruch enthält. Wenn Vornehmheit und Karrierismus die Folgen günstiger bzw. ungünstiger Lebensumstände sind, so kann es niemand geben, der schon von vornherein eine Eignung für Not und Schwerarbeit aufweist. Nietzsche rettet diesen Rassismus (zumindest sich selbst gegenüber) wieder mit der Anlage-Umwelt-Schaukel: Ja, die Arbeiter sind zum Arbeiten geboren ( – sie heißen schon so!), aber man muß sie auch noch richtig behandeln und erziehen, damit sie das selber erkennen und sich in ihre eigene „Berufung“ (in Fabrik und Bergwerk) fügen. Die politische Emanzipation des Proletariats hält er für den falschen Weg:

Die Arbeiter-Frage. – Die Dummheit, im Grunde die Instinkt-Entartung, welche heute die Ursache aller Dummheiten ist, liegt darin, daß es eine Arbeiter-Frage gibt. Über gewisse Dinge fragt man nicht: erster Imperativ des Instinktes. – Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen will, nachdem man erst eine Frage aus ihm gemacht hat. Er befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu fragen. Er hat zuletzt die große Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber, daß hier eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein Typus Chinese, sich zum Stande herausbilde: und dies hätte Vernunft gehabt, dies wäre geradezu eine Notwendigkeit gewesen. Was hat man getan? – Alles, um auch die Voraussetzung dazu im Keime zu vernichten, – man hat die Instinkte, vermöge deren sich ein Arbeiter als Stand möglich, sich selber möglich wird, durch die unverantwortliche Gedankenlosigkeit in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter militärtüchtig gemacht, man hat ihm das Koalitions-Recht, das politische Stimmrecht gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits als Notstand (moralisch ausgedrückt als  Unrecht – ) empfindet? Aber was  will man? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, so muß man auch die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herren erzieht. –“ 20

Was Nietzsche hier schreibt, erweckt den Eindruck, als wären die Arbeiter des 19. Jahrhunderts erst dadurch, daß sie von Politikern und Philanthropen als „Problem“ entdeckt worden sind, auf den Gedanken gekommen, daß ihre Lage eine sehr unangenehme ist. Er nimmt die Gründe für die Unzufriedenheit der Proletarier überhaupt nicht zur Kenntnis, sondern gemeindet sie sofort in sein Weltbild ein, in dem es vor allem um das Zustandekommen oder Verhindern von „natürlichen Rangordnungen“ geht. Und wie immer, wenn so ein versponnener Denker wie Nietzsche sich in die aktuelle Tagespolitik einmischt, wird er furchtbar realistisch und meint: Die gegenwärtige Rangordnung wird schon irgend etwas mit meiner eingebildeten zu tun haben, und daher sind die Arbeiter offenbar die, die für die Abteilung „Sklaverei“ vorgesehen sind. Jetzt wehren sie sich aber dagegen, und das kann kein gutes Ende nehmen! „Instinkt-Entartung“!

Dadurch, daß Nietzsche an den tatsächlichen Gründen und Verlaufsformen des Klassenkampfes kein Interesse hat, interpretiert er die damaligen Folgen auch nicht richtig. Daß die Arbeiter sich jetzt auch fürs Vaterland verheizen lassen dürfen, bedeutet doch eher eine Verschärfung ihres Unterworfen-Seins als eine Milderung. Ähnlich beim Wählen: Mit dem Stimmzettel bestätigt ein Mensch seine Regierung, gibt sein Einverständnis ins eigene Regiert-Werden, in seine Ohnmacht.*(6) Wenig versteht Nietzsche in seiner offenen Ausdrucksweise von den Techniken moderner Herrschaft, und ihrer vollendetsten Form, der Demokratie: Hier geht es darum, daß der Untertan sich frei fühlen darf, als Souverän seiner Lebensumstände – während seine Pflichten und Rechte, also sein ganzes praktisches Tun und Lassen, von einer ganz anderen Instanz ziemlich genau festgelegt worden sind.

Nietzsche nimmt seine eigenen Sorgen bitter ernst: Weil er an seinem Entsprechungs-Ideal von Lebensumständen und Gesinnung festhält, meint er, Herrschaftsordnungen seien nur dann stabil, wenn die Herren sich als Herren fühlen und die Sklaven anerkennen, daß sie Sklaven sind. Die Konsequenz dieses Rassismus ist für ihn hier, daß er sein Ideal derart gegen die wirkliche Ordnung geltend macht, daß er ihr nicht nur ihren „Sinn“ – Nietzsches „Natur“ zum Durchbruch zu verhelfen – bestreitet, sondern gleich ihre Lebensfähigkeit: Eine Herrschaft, die gegen die „Instinkte“ vorgeht, ist in Nietzsches Augen dem Untergang geweiht.
Über diesen profanen Notwendigkeiten, die bei einem Gemeinwesen beachtet werden müssen, steht natürlich das Höhere, das „eigentliche“ Ziel jedes Gemeinwesens, die geistige und künstlerische Produktion, die es hinterläßt – daran bemißt sich für ihn auch seine Güte, auch wenn die dort existierende Herrschaft sich im Lauf der Zeit nicht durchsetzen konnte und untergegangen ist.
Nietzsche legt, mit seinem „Umwelt“-Auftrag (siehe Abschnitt II) im Auge, fest: Die Kultur, also die geistige Betätigung der Menschen über ihre unmittelbaren Bedürfnisse hinaus, scheint der gesellschaftliche Ort zu sein, wo Wertmaßstäbe in die Welt gesetzt werden. Und er untersucht verschiedene Abteilungen des Kulturbetriebes darauf, wie sehr das in ihnen stattfindet.

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*(4) An dieser Stelle hat Nietzsche einen – wenngleich minimalen – Berührungspunkt mit MARX. Es ist der Gedanke der „Entfremdung", den er in seinen frühen Schriften, z.B. den „Pariser Manuskripten“ und dem „Konskript über Mill“ entwickelt. Der Unterschied zu Nietzsche liegt in der Konsequenz, die er daraus zieht: MARX möchte das von ihm festgestellte Übel gesamtgesellschaftlich aufheben, Nietzsche will ihm persönlich aus dem Weg gehen und es anderen übrig lassen.
          Nietzsche ist dabei konsequenter, denn der „Entfremdungs“-Gedanke ist eigentlich keine Kritik der Lohnarbeit. Es ist darin nur festgehalten, daß die Arbeit, die ein Mensch verrichtet, nicht seinem wie immer gearteten „schöpferischen Bedürfnis“ entspringt, sondern diesem fremd ist. Welchen Zwecken die Lohnarbeit wirklich dient – nämlich Erzeugung von Mehrwert und damit Profit für den Kapitaleigner, Schaffung von abstraktem Reichtum und produktiver Armut, die den Arbeiter immer wieder zum Verkauf seiner Arbeitskraft und in Folge zur Ruinierung seiner Gesundheit zwingt, usw. – all das ist unbegriffen und gar nicht angesprochen, wenn von „Entfremdung“ die Rede ist. Da wird vielmehr beklagt, daß bei dieser Art von Arbeit der Sinn fehlt, der einem ansonsten alle Härten erträglich machen würde. Insofern ist es eine Kritik, die kapitalistische Verhältnisse gar nicht angreift, sondern nur bejammert. Wer heute etwas gegen die „Entfremdung“ tun will, macht keinen Aufstand, sondern erzeugt Modeschmuck im Wohnzimmer, den er dann in der Fußgängerunterführung verkauft, oder er eröffnet Alternativbeisln, die er mit Solidaritätsspenden finanziert und mittels Selbstausbeutung aufrechterhält, – und dabei entwickelt er noch einen gewaltigen Stolz darüber, daß er sich der Lohnarbeit entzogen hat. Trostloserweise sind die „Entfremdungs"-Kapitel heutzutage so ziemlich das einzige, was die meisten Linken an Marx interessant finden, und das sagt einiges darüber aus, was „links“ sein heute heißt: Es ist jedenfalls sehr billig zu haben.

*(5) um die obere Grenze dessen, was ein Mensch will, scheren sich vor allem diejenigen nicht, die immer gerne von der „Verschwendungssucht“ des Menschen faseln. Sie wollen nichts davon wissen, daß jedes Bedürfnis sein Maß in sich hat, und wenn es befriedigt ist, damit auch erloschen ist. Man will schließlich etwas, und wenn man es hat, braucht man es nicht mehr zu wollen, man hat es ja. Aber die Vorstellung des maßlosen Bedürfnisses, (15 Vanille-Eis hintereinander, bis man sich den Magen verdorben hat) bzw. des maßlosen Individuums, das aus Mangel an sonstiger Beschäftigung Bedürfnisse in einem solchen Ausmaß entwickelt, daß es mit ihrer Befriedigung gar nicht mehr nachkommt – diese Vorstellung ist sehr nützlich für jemanden, der eine Ökonomie, in der für die meisten Menschen nur Armut vorgesehen ist, als menschenfreundlich darstellen will: Da kommen nämlich die Schranken der Zahlungsfähigkeit und Zwänge zur Lohnarbeit auf einmal als Hilfe, der eigenen Bedürfnisse Herr zu werden, vor.

*(6) Auch diese Sichtweise ist heute verbreitet unter Mitgliedern der Oberschicht von kapitalistischen Staaten: Ihr Elite-Anspruch ist so umfassend, daß sie das gemeine Volk, das immerhin den Reichtum erarbeitet, der ihnen zugute kommt, am liebsten in ein anderes Stockwerk des Globus aussiedeln würden, um ihm nicht ununterbrochen zu begegnen, am Badestrand, auf den Schipisten usw. Solche arroganten Typen empfinden bereits das Auftreten von Sozialdemokraten in der Politik als Untergrabung ihrer Stellung und halten die Institutionen des Klassenfriedens, wie die Gewerkschaft oder die Sozialpartnerschaft, für die fünfte Kolonne des Kommunismus und der Weltrevolution.
         Ihnen gegenüber treten Verteidiger dieser Institutionen auf, oft deren eigene Vertreter. Gegenüber unverblümten Befürwortern der Ausbeutung können Gewerkschaftsführer und Soziologen sich als Arbeiterfreunde und Wohltäter aufspielen. Tatsächlich sind es zwei Seiten der gleichen Medaille: Die Arbeitervertreter vertreten den Arbeiter nicht als das bedürftige Individuum, das er ist, sondern als Repräsentant der Lohnarbeit, als Vertreter der Ware Arbeitskraft, auf die die Unternehmer so scharf sind. Damit haben sie einmal ihr Einverständnis in das Klassenverhältnis ausgedrückt, die Ideologie vom „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“ übernommen, als zwei Seiten eines im Grunde gedeihlichen Verhältnisses zum Wohle aller. Die Gewerkschaft holt sich bei der Basis ihr Mandat zur Arbeitervertretung ab und macht damit nationale Politik, und ehemalige Arbeiter können somit aufsteigen zu Parlamentspräsidenten, Ministern, sogar Kanzlern. Dort verwalten sie dann die Ausbeutung und die Armut – besonders glaubwürdig.

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12. Götzendämmerung, 6/141-142

13. Menschliches, Allzumenschliches I, 2/76-77

14. ebd.,  2/282

15. z.B. Jenseits von Gut und Böse, 5/212

16. Die fröhliche Wissenschaft, 3/387

17. ebd., 3/427

18. Menschliches, Allzumenschliches I, 2/313-314

19. ebd., 2/299

20. Götzendämmerung, 6/142

 

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