IV. Abschnitt: DER MENSCH AUF DER SUCHE NACH DEM SINN DES SEINS

 

Die Frage, die in diesem Abschnitt geklärt werden soll, lautet: Wieso ist die Sinnsuche ein so beliebter Zeitvertreib, unter studierten und verantwortungsbewußten Menschen zumindest, und warum taugt die Philosophie Nietzsches so sehr dafür? Was gibt sie her für eine Art von Unzufriedenheit, die an den bestehenden Zwängen überhaupt nicht rüttelt, und für eine mit dieser Unzufriedenheit einhergehende Zufriedenheit mit dem eigenen Dasein, der eigenen gesellschaftlichen Stellung, die nur aufgrund verächtlicher Urteile über den Rest der Welt zustande kommt?

Oder, anders formuliert, inwiefern ist besagte Sinnsuche eine Art der theoretischen Beschäftigungen mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Zuständen, die von einer grundlegenden Kritik an ihnen nichts wissen will, weil sie deren Akzeptanz bereits voraussetzt; welcher Denkschemen und geistigen Haltungen bedient sich jemand, der nach dem „Sinn“ von Armut und Reichtum, Krieg und Rechtssprechung sucht, und inwiefern ist Nietzsche ein typischer Repräsentant genau dieser Vorgangsweise?

Denn eines fällt auf: Nietzsche hat sein Streben nach Größe nie in dem Sinne ernst genommen, daß er z.B. sengend und raubend durch die Lande gezogen wäre – etwas, was er immerhin des öfteren als Zeichen höchster Vornehmheit anpreist. Er ist nie Amok gelaufen, hat sich auch nicht in irgendein Afrikakorps einschreiben lassen, um süß und ehrenvoll fürs Vaterland zu sterben. Seine freiwillige Teilnahme am deutsch-französischen Krieg 1871, die ihm nur in der Rolle eines Krankenpflegers gestattet war, ist wohl eher als eine Jugendtorheit nach dem Motto „Dabeisein ist alles!“ einzustufen, als daß es der Auftakt zu irgendeiner Serie von Helden- und Gewalttaten gewesen wäre. Er ist auch nicht in die Politik gegangen, um ein zweiter Bismarck, Napoleon oder ähnliches zu werden, er ist weder Leistungssportler geworden noch hat er sonst eine derjenigen Karrieren eingeschlagen, die einem Menschen, der sich unbedingt von den anderen abheben will, in der bürgerlichen Gesellschaft offenstehen. Auch Frauen hat er, wie glaubhaft versichert wird, nie gepeitscht oder sonstwie mißhandelt.

Er war ein ganz gewöhnlicher Philologieprofessor, einer von diesen Leuten, dies zufrieden sind, in staubigen Hinterzimmern zwischen antiken Büsten die Geheimnisse längst vergangener Zeiten aus alten Schriften herauszuholen und einer bildungshungrigen Jüngerschar weiterzuerzählen. Ein sehr unspektakulärer Beruf. Später war er ein bescheidener Privatgelehrter mit mäßigen finanziellen Mitteln, der von seinen Bekannten – beiderlei Geschlechts! – als höflich und zuvorkommend geschildert wird. Mit Ausnahme der Tatsache vielleicht, daß ihn eine bösartige und – zumindest damals – unheilbare Krankheit in seinen letzten Lebensjahren geistig außer Gefecht gesetzt hat, läßt sich überhaupt nichts Außergewöhnliches an seinem Leben feststellen. Seine Biographie ist schlicht langweilig, noch dazu voller Krankengeschichten, und trägt zum Verständnis seiner Gedanken wenig bei. Angesichts dieses Lebenslaufes stellt sich nur die eine Frage: Wie kommt es, daß dieser unscheinbare und sanftmütige Mensch Ansichten formuliert hat, die ihm bereits zu seiner Zeit den Vorwurf eingetragen haben, er sei ein „zersetzender Geist“, und dem man später nichts Geringeres nachgesagt hat, als daß er ein Vorläufer Hitlers gewesen sei? Wie paßt das zusammen? Hat er nicht ernst gemacht mit seinen Vorstellungen und Absichten, Wasser gepredigt und Wein getrunken, oder ist sein ganzes Leben ein einziger Beleg dafür, wie sehr er Ernst gemacht hat damit?

Zunächst sucht Nietzsche nach dem wahren Grund für das, was ihn stört, die Geisteshaltungen seiner Zeitgenossen, den Umgang der Menschen miteinander. Er findet den Grund nie, denn das, was er bekrittelt, bespricht er als Mangel, als Abweichung von seiner Vorstellung einer „gesunden“ Menschennatur. Er versteht sich als „Arzt“, nicht nur seiner unmittelbaren Umgebung, sondern gleich der ganzen „Menschheit“. Das ist nicht nur eine Metapher: Mit dieser Wortwahl „Arzt“ legt er fest, daß er die vorgefundene bürgerliche Moral mitsamt ihren ganzen unappetitlichen Praktiken der Verstellung und Demütigung als „Krankheit“, als „Entartung“, betrachtet, und seine philosophischen Erörterungen als Weg zur Gesundheit.

Damit treibt er

 

1. Psychologie

im schlechtesten Sinne. Er bespricht seine Vorstellungen als Hilfeleistung an „den Menschen“, eine Vorgangsweise, die er einmal so charakterisiert hat:

„Unter hilfreichen und wohltätigen Menschen findet man jene plumpe Arglist fast regelmäßig vor, welche sich Den, dem geholfen werden soll, erst zurecht macht: als ob er zum Beispiel Hilfe »verdiene«, gerade nach  ihrer Hilfe verlange, und für alle Hilfe sich ihnen tief dankbar, anhänglich, unterwürfig beweisen werde, – mit diesen Einbildungen verfügen sie über den Bedürftigen wie über ein Eigentum …()… Die Eltern machen unwillkürlich“ (?) „aus dem Kinde etwas ihnen Ähnliches – sie nennen das »Erziehung« …“ (1)

Eine sehr „plumpe Arglist“ ist es allerdings, das, was man von jemandem will bzw. an ihm hervorbringen will, als dessen eigenes Interesse zu behaupten, und sich als den großen Menschenkenner und Experten, der ihm erst seine wahren Bedürfnisse aufschlüsseln muß. Jeder Psychotherapeut heute geht mit dieser Überzeugung an seinen Patienten heran, und der „Erfolg“ seiner Behandlung hängt dann davon ab, inwieweit der Behandelte die Autorität des Psychologen anerkennt und dessen Hirngespinste übernimmt, sich also dem Bild gleich macht, das der große Meister ihm von seinem Seelenleben entwirft.
Dabei befindet er sich wie Nietzsche im Widerspruch jedes Menschen, der die Besonderheiten der (staats-)bürgerlichen Individualität – denn ebendiese ist ihm ja Anlaß und Anschauungsmaterial für seine Überlegungen – aus der allgemeinen „Natur des Menschen“ (die auch wieder nichts anderes ist als seine Deutung dessen, was er an den Leuten seiner Zeit vorfindet) ableiten will: Er ergeht sich in Tautologien, setzt Dinge voraus, die er erst beweisen will, oder, wie bei seiner Version des Leib-Seele-Problems, macht Ursachen dingfest, die nie und nimmer welche sein können.
Wie kommt es, so fragt er zunächst, daß der „Wille zur Macht“, den er eigentlich jedem Menschen zuschreibt, sich so selten, so schwach oder gar nicht äußert?

Seine erste Antwort lautet: Weil er in die falsche Richtung losgeht!

„Dieser gewaltsam latent gemachte Instinkt der Freiheit – wir begriffen es schon – dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, in’s innere Eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen.“ (2)

Wie aus einem Instinkt der Freiheit auf einmal einer der Selbstzerstörung bzw. Selbstquälerei werden soll, ist rätselhaft. Es wäre dann entweder ein anderer Instinkt, denn die Verwandlung läßt sich aus den Bestimmungen der beiden „Instinkte“ nicht herleiten. Oder aber, der Instinkt der Freiheit wird, wie schon früher ausgeführt wurde (Abschnitt I. 2.), so leer gedacht, daß er sich chamäleonhaft je nach Bedarf in jeden beliebigen anderen verwandeln kann. So kann man natürlich auch jeder Beweisnot vorbeugen!
Rätselhaft ist ferner, warum der „Wille zur Macht“ sich bei gewaltsamer Behandlung eines Menschen nach innen kehren soll, und zwar in selbstzerstörerischer Weise. Wird er doch gerade als dasjenige Organ eingeführt und beschrieben, das vor keiner Gewalt zurückschreckt, um dem Individuum, dem er innewohnt, zur „Macht“ zu verhelfen. Von dem her müßte als praktische Betätigung dieses Triebes sich ergeben: Auf Gewalteinwirkung hin Gegengewalt, und zwar bis zum Sieg oder Untergang.

Nietzsche selbst ist es auch nicht ganz klar, wie diese von ihm erfundene Verwandlung funktionieren sollte. Das erste Angebot, das er dazu macht, lautet: Es muß äußere Umstände geben, welche bewirken, daß dieser Instinkt in einen so von ihm unterschiedenen umschlägt. Er geht auf die Suche nach körperlichen Grundlagen dafür, wie falsche Ernährung, Klima, Krankheiten:

„Kennt man die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel? Gibt es eine Philosophie der Ernährung?“ (3)

Seine Ursachenforschung auf diesem Gebiet nimmt teilweise abenteuerliche Formen an: Der Buddhismus hat seine Wurzeln im Reisessen, für europäische Dekadenz macht er Alkohol und schlechtziehende Öfen verantwortlich, ein „unberechenbares Wetter“ macht die Menschen „gegeneinander mißtrauisch“, die „Herkunft des deutschen Geistes“ wird u.a. aus „ausgekochten Fleischen“ und „der Entartung der Mehlspeise zum Briefbeschwerer“ (4) für Nietzsche erklärlich. Eine weitere Aufzählung erspare ich mir: Solcher Unsinn kommt heraus, wenn man die Betätigung des Willens aus ihm völlig äußerlichen, zufälligen Dingen erklären will – aus dem steten Drang heraus, Mittel zu seiner Beeinflussung zu finden.

Es würde Nietzsche schwerfallen, nur ein einziges Gefühl oder eine einzige Moralvorstellung aus körperlichen Vorgängen abzuleiten: Es gibt keine Verbindung zwischen dem einen und dem anderen, die Plausibilität solcher Schlüsse lebt nur von der Gleichzeitigkeit, (also einem weiteren zufälligen Moment,) mit der die unterschiedlichen Phänomene am gleichen Ort anzutreffen sind: Schwere Mehlspeisen allerorten und gleichzeitig Wagner-Opern und Bismarck'sche Reichsgründung – das muß doch etwas miteinander zu tun haben! Diese Art zu argumentieren hat Nietzsche zu Recht als Aberglauben bezeichnet:

„Etwas Gleichzeitiges hängt zusammen, meint man. Ein Verwandter stirbt in der Ferne, zu gleicher Zeit träumen wir von ihm, – also! Aber zahllose Verwandte sterben und wir träumen nicht von ihnen. Es ist wie bei den Schiffbrüchigen, welche Gelübde tun: man sieht später im Tempel die Votivtafeln Derer, welche zu Grunde gingen, nicht. – Ein Mensch stirbt, eine Eule krächzt, eine Uhr steht still, alles in Einer Nachtstunde: sollte da nicht ein Zusammenhang sein? …()… – Diese Gattung des Aberglaubens findet sich in verfeinerter Form bei Historikern und Kulturmalern wieder, welche vor allem sinnlosen Nebeneinander, an dem doch das Leben der Einzelnen und der Völker so reich ist, eine Art Wasserscheu zu haben pflegen.“ (5)

Ein zweites Erklärungsangebot von ihm macht innere Ursachen ausfindig, es lautet: Der „Wille zur Macht“ ist von Natur aus labil und neigt dazu, in sein Gegenteil umzuschlagen. Und zwar gibt es andere menschliche Eigenschaften, die dieses Umkippen verursachen können. Das ist im Grunde eine neuerliche Zurücknahme dessen, was die Bestimmung des „Willens zur Macht“ sein soll: Über andere „Triebe“ zu gebieten.

Solche der Bestimmung des Menschen in die Quere geratenden Eigenschaften sind der Stolz und die Eitelkeit:

„ … man hat im Gehorchen seinen Stolz, was das Auszeichnende aller Aristokraten ausmacht …“ (6)

„Zu den Dingen, welche einem vornehmen Menschen vielleicht am schwersten zu begreifen sind, gehört die Eitelkeit: …()…  Das Problem ist für ihn, sich Menschen vorzustellen, die eine gute Meinung über sich zu erwecken suchen, welche sie selbst von sich nicht haben – und also auch nicht »verdienen« – und die doch hintendrein an diese Meinung selber glauben …()…  Der Eitle freut sich über jede gute Meinung, die er über sich hört, (ganz abseits von allen Gesichtspunkten der Nützlichkeit, und ebenso abgesehn von wahr und falsch) ebenso wie er an jeder schlechten Meinung leidet: denn er unterwirft sich beiden …“ (7)

Ohne jetzt näher darauf einzugehen, inwiefern Nietzsche bei diesen Ausführungen das trifft, was Stolz oder Eitelkeit ausmacht, sei nur auf das Zwiespältige hingewiesen, das er dabei anspricht: Der Stolz, der eine aristokratische Eigenart sein soll, findet sein Genügen gerade im Dienen – wo ist der „Wille zur Macht“, dessen ungebrochenes Sich-Ausleben gerade ein Zeichen von Stärke, von Vornehmheit sein soll?
Und die Eitelkeit ist auch eine widersprüchliche Sache: Ein Mensch wird tätig, er bemüht sich, andere zu beeinflussen – um sich ihrem Urteil dann zu unterwerfen. Was ist das jetzt, vornehm oder sklavisch? Nietzsche weiß es auch nie so genau, er rätselt daran herum. (Was ihn nicht daran hindert, die Eitelkeit beinahe gleichberechtigt neben dem „Willen zur Macht“ zu einer der Triebfedern des menschlichen Handelns zu erklären.)

Festzuhalten ist als Ergebnis jedenfalls, was mit bezug auf Stolz und Eitelkeit über den „Willen zur Macht“ gesagt ist: Er muß sich überhaupt nicht als Herrschsucht äußern, wie ursprünglich über ihn behauptet wurde, er kann genauso gut der Unterwerfung des ICH dienstbar gemacht werden.
Ihren absoluten Gipfel findet diese Argumentationsweise dort, wo die Demut des Christenmenschen, die Nietzsche ansonsten als das Sklavischste, das es überhaupt gibt, brandmarkt, auf einmal als Machthunger entlarvt wird:

„Der Dämon der Macht. – Nicht die Notdurft, nicht die Begierde, – nein, die Liebe zur Macht ist der Dämon des Menschen. Man gebe ihnen Alles, Gesundheit, Nahrung, Wohnung, Unterhaltung, – sie sind und bleiben unglücklich und grillig: Denn der Dämon wartet und wartet und will befriedigt sein. Man nehme ihnen alles und befriedige diesen: so sind sie beinahe glücklich, – so glücklich als eben Menschen und Dämonen sein können. Aber warum sage ich dies noch? Luther hat es schon gesagt, und besser als ich, in den Versen: »Nehmen sie uns den Leib, Gut, Ehr’, Kind und Weib: Laß fahren dahin, – das Reich muß uns doch bleiben!« Ja! Ja! Das »Reich«!“ (8)

Hier ist die freiwillige Unterwerfung des Christen unter höhere Prinzipien eine Folge des „Willens zur Macht“, ohne daß diese Veränderung überhaupt als solche besprochen werden würde: Diese Unterwerfung soll gerade einen Beleg für ihn darstellen. Also: Der „Wille zur Macht“ ist gleichzeitig ein Wille zur Unterwerfung, sein eigenes Gegenteil. Damit ist die letzte Bestimmung, die diesem geheimnisvollen Trieb noch angehaftet hat, gänzlich absurd geworden. Es gibt nichts, was sich durch ihn erklären ließe, weil es nichts gibt, das sich durch ihn nicht erklären ließe, er ist der Motor des Menschlichen schlechthin. Und die gesamten psychologischen Erwägungen Nietzsches, die keinen kleinen Teil seines Gesamtwerkes ausmachen, kürzen sich auf die banale Feststellung zusammen, daß die Menschen so sind, wie sie sind, weil sie 1) eben so sind, und 2) nicht anders können. Diese Banalität wird aber als Menschenkenntnis vorgetragen, und ihr Vertreter hat das Gefühl, mit dieser tiefen Einsicht in die Hintergründe der Psychologie seinen Mitmenschen um einiges voraus zu sein.

Ich führe hier diese bereits in Abschnitt I angesprochenen Widersprüchlichkeiten noch einmal gesondert aus, um auf ihre Ähnlichkeit mit den heutigen Umtrieben der Psychologen hinzuweisen, die mit den gleichen Denkmustern operieren. Denn das sehr dürftige Endergebnis zweier Erklärungsansätze – eines äußeren und eines inneren – ist in der anfänglichen Fragestellung bereits angelegt. Wem die in der bürgerlichen Gesellschaft vorgefundene Einrichtung des Seelenhaushaltes widersprüchlich erscheint, und wer daraus den Schluß zieht, daß die menschliche „Natur“ aus dem Gleichgewicht geraten ist, kommt aus diesem selbstgeschaffenen Widerspruch nicht mehr heraus. Die Frage: Wann, wie und wodurch schlägt die seelische „Gesundheit“ in „Krankheit“ um, ist nämlich nie zu beantworten. Wäre der Mensch tatsächlich bloße Natur, Trieb, Instinkt, ein von Naturgewalten getriebenes Wesen also, so kann es gar keine Entartung geben – denn dann ist eben alles reine Natur; und Geburt, Leben und Tod sind genauso in Einklang mit der Natur wie der Wechsel der Jahreszeiten.

Ist aber der Mensch ein Wesen, das aus der Natur heraustritt, mit Willen und Bewußtsein begabt und daher Herr seiner Gedanken und Handlungen, so ist „natürlich“ kein Maßstab, der sich auf ihn anwenden ließe. Wo gewollt und gewünscht wird, hat die Natur keinen Platz: So vollzieht sich gerade die Befreiung von ihr. Wer ihn auf irgendeine „Natur“ verpflichten will, wem diese Freiheit, die dem willentlichen Tun innewohnt, ein Dorn im Auge ist, der ist immer ein Parteigänger der Gewalt als des einzigen Mittels, diese Freiheit zu beschneiden.

Dieser selbstgeschaffene Widerspruch, in dem sich die moderne Psychologie bequem eingerichtet hat, führt Nietzsche auch in die 3 Begründungsmuster, die es für einen solchen Ansatz gibt:

1. Er gibt eine Ursache an, die nicht befriedigt, daraufhin versucht er diese Ursache wieder aus etwas anderem zu erklären, und das wiederum von etwas anderem herzuleiten – er geht immer weiter weg vom Gegenstand seiner Überlegungen, ins Historische, in die Physiologie, und muß sich schließlich eingestehen, daß die Anfänge seiner Ursachenkette für ihn im Dunkeln liegen, oder
2. er bricht dieses grausame Spiel irgendwo dogmatisch ab und erklärt irgendeine Sache zur einzigen/wirklichen/Grund-Ursache, wie z.B. den „Willen zur Macht“ oder das Klima, oder
3. er geht im Kreis: z.B. bei seinen Überlegungen darüber, warum die ältere griechische „Wertungsweise“, die Heraklits und der Stoiker, von einer anderen, von Nietzsche als „niedriger“ empfundenen, abgelöst wird. Das Erscheinen von Sokrates weist darauf hin, meint er – der ist nämlich ein typischer Dekadenter –, dann gibt er Merkmale des Sokrates an, die er als typische Merkmale der Dekadenz bezeichnet, und dann wirft er die Frage auf: Wie kommt es, daß die – an und für sich „vornehmen“ – Athener an einem solchen Menschen und seinen Lehren Gefallen gefunden haben. Die Antwort Nietzsches lautet: Sie waren auch schon dekadent! Und woran merkt man das? Na, ganz einfach: Daran, daß sie an Sokrates Gefallen gefunden haben!

Das Endergebnis von Nietzsches Bemühungen, die Gründe für die von ihm festgestellten Mängel seiner Zeitgenossen zu finden, ist nicht so recht befriedigend. Um so stärker wird sein Bedürfnis nach Abgrenzung von ihnen.

 

2. Elite
Nietzsches Polemiken gegen Gleichheit und Erfolg

Zu den von Nietzsche am heftigsten bekämpften Dingen gehört die „Lehre von der Gleichheit“ der Menschen:

„Die blutige farce, mit der sich diese“ (französische) „Revolution abspielte, ihre »Immoralität«, geht mich wenig an: was ich hasse, ist ihre Rousseau’sche Moralität – die sogenannten »Wahrheiten« der Revolution, mit denen sie immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmäßige zu sich überredet. Die Lehre von der Gleichheit! … Aber es gibt gar kein giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das Ende der Gerechtigkeit ist …()… Daß es um jene Lehre von der Gleichheit herum so schauerlich und blutig zuging, hat dieser »modernen Idee« par excellence eine Art Glorie und Feuerschein gegeben …“ (9)

Nietzsche ist für diese Abneigung gegen die Gleichheit der Menschen heftig angegriffen worden – die Gleichheit stelle ein Grundrecht dar, wurde ihm entgegengehalten, sie sei ein humanistisches Prinzip usw., und er vertrete eine Herren- und Unterdrücker-Moral, wenn er sie leugne oder sich dagegen ausspreche. Das mag alles richtig sein, und was letzteres angeht, so hat er auch nie ein Hehl daraus gemacht. Weder ihm noch seinen Gegnern in dieser Frage scheint jedoch aufgefallen zu sein, daß die Verkündigung der Gleichheit immer mit gesellschaftlichen Rangordnungen einhergeht. In keiner kapitalistischen Demokratie ist bisher jemals durch die Gleichheit der Unterschied zwischen Unternehmern und Arbeitern, Universitätsprofessoren und Straßenkehrern, Herrschenden und Beherrschten aufgehoben worden. Wo es um Gleichheit geht, wird schließlich auch nie behauptet: Alle Menschen sind gleich – das würde jeder Anschauung widersprechen und sich schon an den wirklichen natürlichen Unterschieden, wie Haarfarbe, Körpergröße usw. blamieren, – von den sonstigen, vor allem den ökonomischen, ganz zu schweigen.

In Wirklichkeit heißt es immer: Vor dem Gesetz sind alle gleich. Das heißt aber nichts anderes als: Wenn eine Eigentumsordnung eingerichtet ist, ein staatliches Gewaltmonopol darüber wacht, daß sie auch eingehalten wird, dann haben alle Individuen das Recht (und auch die Pflicht), gemäß diesen Vorgaben und ihren eigenen Mitteln ihr Glück zu versuchen. Dabei wird keiner bevorzugt, es geht sehr gerecht zu: Wer über Eigentum verfügt, darf und soll es vermehren. Wenn ihm das nicht gelingt, geht es ihm so wie denen, die nie über eines verfügt haben: sie müssen sich alles, was sie brauchen, durch Arbeit verdienen. Diesen Zwang zur Konkurrenz findet jeder vor, ihm ist jeder gleichermaßen unterworfen, niemand kann sich dem entziehen: Das ist der politökonomische Gehalt der Gleichheit.

Ungeachtet der Tatsache, daß die solchermaßen definierte Gleichheit eine recht unangenehme Sache für die meisten Beteiligten – die Eigentumslosen nämlich – darstellt; auch ungeachtet dessen, daß mit ihr eine Form der Unterwerfung angesprochen wird, hat sie bis heute viele Anhänger und wenig Gegner. *1
Daß in einer Gesellschaft, wo die Gleichheit zum Prinzip gemacht wird, Rangunterschiede aller Art bestehen, macht ihre Anhänger selten irre. Das Schöne an der Gleichheit ist für sie, daß es eine Chancengleichheit gibt  – es kann ja jeder sein Glück versuchen, es steht ihm alles offen. Wer dann auf einem guten Posten gelandet ist, muß ihn wohl auch verdient haben: Wer viel Geld hat, hat sicher auch viel geleistet, wer regiert, muß immerhin von einer Mehrheit gewählt worden sein oder sonst irgendwie bewiesen haben, daß er der Beste ist, – und wer es zu gar nichts bringt, wird sich wohl auch nicht bemüht haben, ungeschickt gewesen sein, vielleicht auch Pech gehabt haben, in jedem Fall wird ihm seine Lage auch irgendwie entsprechen. (siehe Einschub: Rassismus und Erziehung) Der moderne Elite-Gedanke unterscheidet sich von dem Nietzsches dadurch, daß er nur einen Maßstab kennt, den des Erfolges, der Durchsetzungsfähigkeit eines Menschen – ein Maßstab, gegen den Nietzsche wiederholtermaßen protestiert hat:

„Die gewöhnlichsten Irrschlüsse der Menschen sind diese: Eine Sache existiert, also hat sie ein Recht. Hier wird aus der Lebensfähigkeit auf die Zweckmäßigkeit, aus der Zweckmäßigkeit auf die Rechtmäßigkeit geschlossen. Sodann: eine Meinung beglückt, also ist sie die wahre, ihre Wirkung ist gut, also ist sie selber gut und wahr. Hier legt man der Wirkung das Prädikat beglückend, gut im Sinne des Nützlichen, bei, und versieht nun die Ursache mit dem selben Prädikat gut, aber hier im Sinne des Logisch-Gültigen. Die Umkehrung der Sätze lautet: Eine Sache kann sich nicht durchsetzen, erhalten, also ist sie unrecht; eine Meinung quält, regt auf, also ist sie falsch …“ (10)

„Nicht nur die Zuschauer einer Tat bemessen häufig das Moralische oder Unmoralische an derselben nach dem Erfolge: nein, der Täter selber tut dies …()…  Der Erfolg gibt oft einer Tat den vollen ehrlichen Glanz des guten Gewissens, ein Mißerfolg legt den Schatten von Gewissensbissen über die achtungswürdigste Handlung. … ()… Auf ähnliche Weise soll der Erfolg die bessere Begründung ersetzen. Noch jetzt meinen viele Gebildete, der Sieg des Christentums über die griechische Philosophie sei ein Beweis für die größere Wahrheit des ersteren, – obwohl in diesem Falle nur das Gröbere und Gewaltsamere über das Geistigere und Zartere gesiegt hat.“ (11)

Die nietzscheanische Rangordnung ist demgegenüber eine ideale, die keinerlei Entsprechung in der Wirklichkeit haben soll, bei deren Erstellung er sich auch nicht durch Erfolge beirren lassen will. Bei den Individuen, die Nietzsche als Vorbilder in Geschichte und Gegenwart vorstellt, betont er oft genug, daß es sich um Ausnahmen handelt. Sie sind ihm – das ist eben wieder sein Realismus – Belege dafür, daß es Rangordnungen geben muß – nämlich weil es sie gibt. Er macht somit selbst den oben zitierten „Irrschluß“ wieder und wieder: Nationen, die Ehe, Rangordnungen, Kriege – das alles muß ein Recht haben, denn es existiert.*2

Die „höheren Naturen“ Nietzsches, seine „Vornehmen“, sind nicht identisch mit der Oberschicht seiner Zeit bzw. deren Repräsentanten. Seine Maßstäbe der Größe sind eben nur seinige und nicht die anerkannten seiner Zeitgenossen. Aus dem Auseinanderklaffen seiner Ansprüche und Maßstäbe und der Wirklichkeit, die er vorfindet, ergibt sich die für Nietzsche charakteristische Mischung von Ehrgeiz und Enttäuschung, Vereinnahmung seiner Leser und gleichzeitiger Publikumsbeschimpfung, Schwärmerei und Menschenverachtung. Wenn er von „der Herde“ und dem „Pöbel“ spricht, so meint er durchaus nicht oder nicht bloß das gemeine Volk, Arbeiter und arme Leute, sondern genauso Philosophen oder Künstler oder Wissenschaftler oder Politiker – es geht bei diesen verächtlichen Bezeichnungen (man erinnere sich zurück an das in Abschnitt I erwähnte Sammelsurium der Verächtlichkeit: Christen, Kühe, Weiber, Krämer, Engländer und andere Demokraten …) ausschließlich um Urteile über den Charakter. Das ist nichts anderes als eine Neuauflage des alten philosophischen Anspruchs, daß die Besten das Sagen haben sollten, ein Anspruch, der seit jeher mit der Klage verbunden war, daß die, die das Sagen haben, leider nicht die Besten sind.
Und es ist die typische Methode eines intellektuellen verantwortungsbewußten Menschen, der meint, wahre Heilslehren in der Schublade zu haben und an einer verständnislosen und primitiven Umwelt zu scheitern. In dieser Sichtweise liegt eine gewisse Selbstgefälligkeit: Ich allein weiß, was wichtig und richtig ist, und weil ich darin so einzigartig bin, muß ich notgedrungen verkannt bleiben:

„In Voraussicht, daß ich über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit herantreten muß, die je an sie gestellt wurde, scheint es mit unerläßlich, zu sagen, wer ich bin. Im Grunde dürfte man’s wissen: denn ich habe mich nicht »unbezeugt gelassen«. Das Mißverhältnis aber zwischen der Größe meiner Aufgabe und der Kleinheit meiner Zeitgenossen ist darin zum Ausdruck gekommen, daß man mich weder gehört, noch auch nur gesehn hat.“ (13)

Was übrig bleibt von diesem grandiosen Projekt, der „schwersten Forderung“, ist die Einsicht, daß es im Grunde und letztendlich nur einen wirklichen Übermenschen, Freigeist, Zarathustra, Vornehmen usw. gibt, und der heißt Friedrich Nietzsche:

„Und woran erkennt man im Grunde die Wohlgeratenheit! Daß ein wohlgeratner Mensch unsern Sinnen wohltut: daß er aus einem Holze geschnitzt ist, das hart, zart und wohlriechend zugleich ist. Ihm schmeckt nur, was ihm zuträglich ist …()… Er errät Heilmittel gegen Schädigungen, er nützt schlimme Zufälle zu seinem Vorteil aus; was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker. Er sammelt instinktiv aus Allem, was er sieht, hört, erlebt, seine Summe: er ist ein auswählendes Prinzip, er läßt Viel durchfallen. Er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder Landschaften verkehrt: er ehrt, indem er wählt, indem er zuläßt, indem er vertraut. …()… Er glaubt weder an »Unglück«, noch an »Schuld«: er wird fertig, mit sich, mit Anderen, er weiß zu vergessen, – er ist stark genug, daß ihm alles zum Besten gereichen muß. – Wohlan, ich bin das Gegenstück eines décadent: denn ich beschrieb eben – mich.“ (14)

Mit diesem Streben nach Entwicklung der eigenen „Wohlgeratenheit“ vertritt Nietzsche wiederum ein sehr anerkanntes Anliegen, nämlich eine Art von geistiger Haltung, die Weltanschauung heißt. Fast alle Elemente dieses Denkens sind hier angesprochen: Alles auf der Welt nur in Bezug auf sich selbst betrachten und gelten lassen; alles, was einem an Unannehmlichkeiten widerfährt, als Prüfung und Bewährungsprobe für die eigene Vortrefflichkeit ansehen und stolz drauf sein, wenn man sie „bestanden“ hat, also „stärker“ geworden ist. Sogar Landschaften dadurch „ehren“, daß man sie bereist; sich dafür herzurichten, daß man mit allem „fertig wird“. Und sich auszeichnen dadurch, daß man alles ausgehalten hat. In diesem weltanschaulichen Denken und der dazugehörigen Praxis des „was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ ist die Tatsache, daß man als Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft Zwängen und Einschränkungen aller Art ausgesetzt ist, aufgehoben, und zwar in zweierlei Hinsicht aufgehoben: Erstens ist festgehalten, daß es so ist. Nur auf dieser Grundlage kommt so ein Anliegen überhaupt zustande. Mit anderen Worten: Ein Mensch muß unter einem gewissen Leistungsdruck stehen, und sich dessen auch bewußt sein, damit er überhaupt auf die Idee kommt, seine Besonderheit und Vortrefflichkeit ausgerechnet an den Härten, denen er ausgesetzt ist, beweisen zu wollen.

Zweitens ist die Konkurrenz, in die jemand gestellt ist, aufgehoben im entgegengesetzten Sinne: Die Einschränkungen werden nicht mehr als etwas Feindseliges, dem eigenen Willen Entgegengesetztes verstanden, sondern sie sind in eine Chance verwandelt, in eine Möglichkeit, den Willen zu betätigen – und zwar so, daß es um gar keinen wie immer gearteten Vorteil mehr geht, sondern bloß mehr auf die Bestätigung der eigenen Durchhaltefähigkeit, der eigenen Durchsetzungsfähigkeit: der prinzipiellen Tauglichkeit für die Konkurrenz, innerhalb derer sich jemand bewähren will. Ein Mensch, der nur mehr „an sich arbeitet“, und alles, was ihm geschieht, nur als Bewährungsprobe für seine Charakterfestigkeit auffaßt, ist sehr weit davon entfernt, an den ihm aufgenötigten Lebensumständen etwas Kritikables zu entdecken: er betreibt Selbstverwirklichung, indem er alles, was ihm begegnet, nur mehr in der Art und Weise bespricht: Was bedeutet das für mich? und sich bemüht, möglichst alles positiv zu betrachten – es geht ihm um restlose Übereinstimmung mit seinen Zwängen, mit der Gewalt, der er unterworfen ist, um

 

3. Identität,

darum, sich so herzurichten, daß man „aus einem Holze geschnitzt ist“.
Was steht diesem Plan als Hindernis entgegen? Warum meint Nietzsche, daß es überhaupt solcher Anstrengungen, „rücksichtsloser Tapferkeit“ usw. bedürfe, warum stellt er sein Vorhaben als „schwerste Forderung“ dar?
Er stellt ein sehr schwerwiegendes Hindernis fest, und das ist die bürgerliche Moral – die in ihr verankerte Heuchelei begreift er als Widerspruch und kritisiert sie folgendermaßen:

„Gelingt die Erziehung, so ist jede Tugend des Einzelnen eine öffentliche Nützlichkeit und ein privater Nachteil im Sinne des höchsten privaten Zieles, …()… Das Lob des Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften – also Desjenigen, der nicht seine ganze Kraft und Vernunft auf seine Erhaltung, Entwicklung, Erhebung, Förderung, Macht-Erweiterung verwendet, sondern in Bezug auf sich bescheiden und gedankenlos, vielleicht sogar ironisch lebt, – dieses Lob ist jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit entsprungen! Der »Nächste« lobt die Selbstlosigkeit, weil er durch sie Vorteile hat! Dächte der Nächste selber »selbstlos«, so würde er jenen Abbruch an Kraft, jene Schädigung zu seinen Gunsten abweisen, der Entstehung solcher Neigungen entgegenarbeiten und vor Allem seine Selbstlosigkeit eben dadurch bekunden, daß er dieselbe nicht gut nennte! – Hiermit ist der Grundwiderspruch jener Moral angedeutet, welche gerade jetzt sehr in Ehren steht: die Motive zu dieser Moral stehen im Gegensatz zu ihrem Prinzipe! Das, womit sich diese Moral beweisen will, widerlegt sie aus ihrem Kriterium des Moralischen! …()… Sobald …()… der Nächste (oder die Gesellschaft) den Altruismus um des Nutzens willens anempfiehlt, wird der gerade entgegengesetzte Satz »du sollst den Vorteil auch auf Unkosten alles Anderen suchen« zur Anwendung gebracht, also in Einem Atem ein »Du sollst« und »Du sollst nicht« gepredigt!“ (15) *3

Nietzsche bemerkt hier Folgendes: Wer Selbstlosigkeit fordert, also Abstandnehmen vom eigenen Interesse, sollte einem sofort verdächtig werden: Denn wenn er selbstlos wäre, also nichts will, nichts braucht, alles hergeben oder teilen wollte, dann hätte er keinen Grund, Selbstlosigkeit zu fordern. Sobald jemand aber ein Interesse an der Selbstlosigkeit – oder allgemeiner: Tugendhaftigkeit – anderer entwickelt, so muß es daran liegen, daß er etwas von ihnen will. Ansonsten könnte ihnen der Grad der Tugend, den sie entwickeln oder nicht entwickeln, gleichgültig sein.
Ein solcher Widerspruch im Denken, einmal erkannt und festgehalten, verweist sofort auf die Praxis der Individuen, die mit einem solchen Widerspruch leben und umgehen. Er verweist auf gesellschaftliche Umstände, wie sie in unserer kapitalistischen Gesellschaft üblich sind: Jeder darf und soll seinen Vorteil suchen, wenn er sich dabei an die Gesetze hält. Was der Gesetzgeber aber erlaubt und verbietet, legt fest, daß für die meisten Armut und für einen kleinen Teil Wohlstand vorgesehen ist, sodaß ständig eine gewisse Drängelei um die besseren Plätze in der Hierarchie stattfindet: Jeder muß seinen Vorteil, so schäbig der im einzelnen auch sein mag, in Konkurrenz mit den anderen, also gegen sie, durchsetzen. Aber auch das hat wieder im Einklang mit dem Gesetz zu geschehen, wodurch eine physische Vernichtung des jeweiligen Gegenspielers von vornherein als Mittel der Durchsetzung ausscheidet. Man muß sich also mit dem/den anderen in einen Vergleich einlassen, sich ihrer fürs eigene Fortkommen bedienen und gute Miene zum bösen Spiel machen, wenn man den Vergleich verloren hat. Und genau für diese Art von Umgang miteinander ist die Heuchelei das angemessene Mittel.
Dieser von Nietzsche angeführte Widerspruch beruht also auf dem Gegensatz zwischen dem individuellen Interesse und den gesellschaftlichen Schranken, die es einerseits ermöglichen, ihm aber gleichzeitig bei seiner Verfolgung entgegenstehen. Um diesen Widerspruch aufzuheben, gibt es genau zwei Möglichkeiten. Entweder man beseitigt diese Schranken, den ganzen Gegensatz zwischen Reichtumsvermehrung und Bedürfnisbefriedigung, wie er in der kapitalistischen Gesellschaft eingerichtet ist. Das bedeutet einen Angriff auf den bürgerlichen Staat und das Kapitalverhältnis und gehört in den Bereich der revolutionären Theorie und Praxis.
Die andere Möglichkeit ist die, sich auf die Seite der Tugendhaftigkeit, also der Unterordnung, zu schlagen und jedes Interesse als Fehler zu betrachten und zu behandeln, sobald es mit irgendwelchen Gesetzen oder moralischen Normen nicht in Einklang zu bringen ist. Nietzsche wählt diesen Weg, und er polemisiert gegen Leute, von denen er meint, daß sie sich zu sehr aufs eigene Interesse verlegen:

„Die gemeine Natur ist dadurch ausgezeichnet, daß sie ihren Vorteil unverrückt im Auge behält und das dies Denken an Zweck und Vorteil selbst stärker als die stärksten Triebe in ihr ist.“ (16)

(Wir kennen diese gemeinen Naturen bereits aus früheren Abschnitten: Weiber, Kühe, Engländer und andere Demokraten…)
Was Nietzsche hier als „Trieb“ andeutet, ist wie immer sein rassistisches Ideal von „Vornehmheit“ – und er stellt klar, daß Vorteilskalkulationen sich mit seinem Ideal nicht vertragen. Sie sind ein Zeichen von „Gemeinheit“, also der Gegensatz zur „Vornehmheit“.
Damit erweckt er zunächst den Eindruck, als ob sein Idealtypus Mensch der Asket wäre und daß Nietzsche von den Menschen, die seinen Maßstäben genügen wollen, bedingungslose Entsagung fordert. Aber auch gegen Askese und asketische Ideale hat er sich gewandt, im besonderen im Falle des Christentums, das ihm als Symptom für Endzeit und Dekadenz schlechthin gilt – dagegen entwickelt er ja gerade seine „Moral im Dienste des Lebens“:

„Der Christ will von sich loskommen …()… Die vornehme Moral, die Herren-Moral, hat umgekehrt ihre Wurzel in einem triumphierenden Ja-sagen zu sich, – sie ist Selbstbejahung, Selbstverherrlichung des Lebens, …“ (17)

Die Selbstbejahung und -verherrlichung, die Nietzsche fordert, ist nichts anderes als der konsequent bis in die letzten philosophischen Höhen zu Ende gedachte Gedanke der Freiheit: Gegen materielle Bedürfnisse, also Streben nach Bequemlichkeit, Luxus, Wohlstand, in Anschlag gebracht, bedeutet er folgendes:
1. Jedes Bedürfnis, jeder Zweck sind bereits eine Einschränkung von mir, weil Festlegung meiner inhaltsleer und grenzenlos vorgestellten Freiheit, und daher von vornherein mit dem Generalverdacht belegt, daß sie meinem SELBST, meiner Persönlichkeit Abbruch tun könnten.
2. Und besonders, wenn ich mich irgendeiner Annehmlichkeit hingebe, so könnte ich in einem Augenblick der Selbstvergessenheit darauf verfallen, bloß zu genießen, anstatt mich jeden Moment meines Lebens an der Vervollkommnung meiner Persönlichkeit abzuarbeiten.
Die praktische Konsequenz aus so einem Vorhaben ist zwar Entsagung, Anspruchslosigkeit, aber das darf nicht zum Zweck der Übung werden, und Nietzsche begründet auch, warum:

„Eine Tugend muß unsre Erfindung sein, unsre persönlichste Notwehr und Notdurft: in jedem anderen Sinne ist sie bloß eine Gefahr …()… eine Tugend bloß aus einem Respekts-Gefühle vor dem Begriff »Tugend«, wie Kant es wollte, ist schädlich …()… Eine Handlung, zu der der Instinkt des Lebens zwingt, hat in der Lust ihren Beweis, eine rechte Handlung zu sein: Und jener Nihilist mit christlich-dogmatischen Eingeweiden verstand die Lust als Einwand … Was zerstört schneller als ohne innere Notwendigkeit, ohne eine tief persönliche Wahl, ohne Lust arbeiten, denken, fühlen? als Automat der »Pflicht«?“ (18)

Was Nietzsche in diesem und im vorigen Zitat zurückweist, den christlichen und Kantianischen Pflichtbegriff als äußerlichen, weist auf diejenige Lösung des moralischen Widerspruchs hin, die er anempfiehlt: Er verwirft jedes Bedürfnis, jeden Wunsch, aber auch jede moralische Norm, an die nicht vorher der Maßstab angelegt worden ist: Paßt das zu mir? Entspricht das meinem Selbst? und das sich als diesem SELBST entsprechend erwiesen hat. Und er verwirft auch jede Handlung, die nur aus einem Pflichtbewußtsein begangen wird, welches äußerlich ist, also Unterwerfung untere andere Instanzen zur Voraussetzung hat. Nietzsche verlangt ein Pflichtbewußtsein, das nur den eigenen Willen als einzige Instanz anerkennt.
Hier erweist sich die Tauglichkeit seines Konstrukts der menschlichen „Natur“, des Systems der Triebe und des „Willens zur Macht“, noch einmal – damit ist ein Menschenbild in die Welt gesetzt, das nach Herrschaft, Regeln und Pflicht geradezu schreit, um überhaupt über das „Chaos in sich“ (19) Herr werden zu können. Ohne dieses Menschenbild als Grundlage der ganzen Angelegenheit drängt sich nämlich an dieser Stelle sofort die Frage auf: Wenn der eigene Wille das oberste sein soll und das einzige, wovon jemand sein Denken und Handeln bestimmen lassen soll, warum braucht er dann so etwas wie Pflicht? Der Gedanke der Pflicht verweist doch immer auf ein Höheres, dem der Wille sich unterordnen soll …
Indem Nietzsche seinen Pflichtbegriff abgrenzt von dem Kants oder des Christenmenschen, erfindet er allerdings einen Unterschied, den es so gar nicht gibt. Auch bei der Religion oder der Kantianischen Moralphilosophie wird verlangt, daß das Individuum sich bestimmte festgesetzte moralische Maßstäbe zu eigen macht, sie zu den seinigen erklärt: Nur das ist überhaupt Moral – gehorchen, aber nicht aus Zwang, sondern aus Überzeugung. So empfindet der moralisch gefestigte Mensch diesen Gehorsam überhaupt nicht mehr als Knechtung und Unterwerfung, als „sklavisch“, sondern als frei gewählt, und er gewinnt darüber sein eigentümliches Selbstbewußtsein. Und diese geistige Unterwerfung ist in der Tat frei gewählt, denn zu bestimmten Gedanken und Denkweisen kann man einen Menschen wirklich mit keinerlei Methoden zwingen. (Gezwungen wird man zu anderen Dingen: zu Arbeit und Gefängnis, zu Schulbesuch und Bundesheer … und man hat die Freiheit, sich dazu zu denken, was man will! Seltsamerweise wird diese Freiheit meistens dazu benützt, sich auch noch gute Gründe dafür auszudenken, warum diese Dinge unbedingt nötig sind und es ohne sie überhaupt nicht geht. Bei so braven Bürgern kann natürlich ein Staat Meinungsfreiheit gestatten.)
Wenn Nietzsche also seinen Pflichtbegriff im Unterschied zu Kant und eigentlich gegen ihn aufstellen möchte, so sieht er nur die eine Seite der Moral: Den Imperativ, und er übersieht recht absichtsvoll die andere Seite: Die freiwillige Übernahme desselben. Dadurch, daß er sich ganz auf die Seite der Freiwilligkeit stellt und stellen will, erfindet er sich in der christlichen und Kantianischen Moral einen Gegner, der in dieser Form gar nicht existiert. Denn ohne Freiwilligkeit gibt es keine moralische Unterordnung. Wäre dem nicht so, wäre Moral eine notwendige Folge des Zwangs, so hätten weder Kant noch Nietzsche noch sonst ein Moralphilosoph jemals auch nur eine Seite schreiben brauchen.

Woher nimmt Nietzsche aber dann die Werte, auf die er sich selbst verpflichtet, und wieso will er sich überhaupt auf etwas verpflichten?
Die Antwort für beides liegt in dem im Anfang dieses Kapitels angeführten Widerspruch: Wenn es einer ist zwischen dem Interesse und den Beschränkungen, die ihm auferlegt sind, und wenn man nicht vorhat, sich um die Einschränkungen zu bekümmern, so muß man so lange am Interesse drehen und sich abarbeiten, bis es in keinem Widerspruch mehr zu den gesellschaftlichen Zuständen ist. Das ist eine Lebensaufgabe, weil sie letztlich immer nur als Anspruch existiert und nie restlos zu verwirklichen geht. Sie heißt nämlich nichts anderes als: Sich jedes eigene Interesse abgewöhnen und jedes Bedürfnis sofort aufgeben, sobald sich seiner Befriedigung etwas in den Weg stellt. Zusätzlich heißt sie, jede Schwierigkeit, die sich bei dieser Art von Umgang mit den eigenen Wünschen ergibt, als persönlichen Mangel und „Problem“ auffassen, mit dem man „umgehen“ lernen muß. Nietzsche charakterisiert diese „Suche“ so:

„Zum neuen Jahre. – Heute erlaubt sich jedermann, seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: …()… Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne zu sehen: – so werde ich einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen …()… Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung …()… ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!“ (20)

Das ist natürlich eine schwierige Aufgabe, die alle Arten von Interpretationskünsten erfordert und angesichts derer sich auch viel Unzufriedenheit darüber einstellen kann, daß man es noch immer nicht geschafft hat, mit allem zufrieden zu sein (z.B. mit dem mageren Gehalt, der schlechtgeheizten Wohnung, der ungeliebten Frau und den Dummheiten, die man tagtäglich zu hören bekommt) – man also noch immer ein „Anspruchsdenken“ hat. Zu so einer Aufgabe muß man sich natürlich immer wieder selbst verpflichten, sie erfordert eine gewaltige Menge Selbstdisziplin. Denn es ist zunächst, was die gedankliche Ebene betrifft, eine Aufforderung zur ständigen Selbsttäuschung, die Nietzsche sonst immer nur bei seinen Gegnern entdeckt:

„Viele Dinge nicht sehen, in keinem Punkte unbefangen sein, Partei sein durch und durch, eine strenge und notwendige Optik in allen Werten haben, – das allein bedingt es, daß eine solche Art Mensch überhaupt besteht. Aber damit ist sie der Gegensatz, der Antagonist des Wahrhaftigen, – der Wahrheit. …()… Ich nenne Lüge, etwas nicht sehen wollen, was man sieht, etwas nicht so sehen wollen, wie man es sieht: ob die Lüge vor Zeugen oder ohne Zeugen statt hat, kommt nicht in Betracht. Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt; das Belügen Anderer ist relativ der Ausnahmefall …“ (21)

Man muß nämlich ständig die Welt und alles, womit man gerade unmittelbar konfrontiert ist, so interpretieren, so fälschen, daß sich alles dem eigenen Interesse angemessen präsentiert. Auf der anderen Seite, was die Lebenspraxis betrifft, heißt es eben, ständig die eigenen Bedürfnisse zu zügeln und als Fehler, als Mangel der angestrebten Vollkommenheit zu betrachten und zu behandeln: So entpuppt sich Nietzsches groß angelegte „Umwertung aller Werte“ als Neuauflage des christlichen Sünde-Gedankens: weltliches Begehren als ererbten Fehler anzusehen und ausmerzen zu wollen – und darüber einen ganz eigenartigen Stolz über die eigene Person zu entwickeln, sich als auserwählt zu betrachten.

In einem Rückblick auf sein Leben bescheinigt sich Nietzsche selbst, daß er dieses ehrgeizige Programm zu seiner vollsten Zufriedenheit wenigstens an sich selbst vollstreckt hat; – und sogar, wenn das eine Übertreibung oder Ähnliches sein sollte, so sei es doch als sein Ideal vom Vollendeten, Vornehmen und Zarathustra festgehalten:

„Etwas »wollen«, nach Etwas »streben«, einen »Zweck«, einen »Wunsch« im Auge haben – das kenne ich Alles nicht aus Erfahrung. Noch in diesem Augenblick sehe ich auf meine Zukunft – eine weite Zukunft! – wie auf ein glattes Meer hinaus: kein Verlangen kräuselt sich auf ihm. Ich will nicht im Geringsten, daß Etwas anders wird als es ist; ich selber will nicht anders werden. Aber so habe ich immer gelebt. Ich habe keinen Wunsch gehabt.“ (22)

 

Zusammenfassung des IV. Abschnitts und Schluß

Nietzsche will die innere Gespaltenheit des bürgerlichen Moralisten aufheben, indem er ihn auffordert, die ständige Zurückweisung seiner Bedürfnisse zu seinem eigenen Interesse zu machen. Das heißt, er legt seinem Leser nahe, diejenigen Ziele, die ihm nicht erreichbar sind, aufzugeben und sich statt dessen auf die Pflege seines Charakters, seines SELBST, zu verlegen – und das als seine wahre Bestimmung zu erkennen. Damit darf er sich den anderen, die nur hinter ihren kleinen Vorteilen und Befriedigungen her sind, überlegen fühlen: Das ist die konkrete Handlungsanleitung zur Größe, und mit dieser Charakterfestigkeit bewährt man sich an jedem Platz, auf dem man in der bürgerlichen Gesellschaft gelandet ist – es kommt auf das, was man tut, ja gar nicht an, sondern darauf, die rechte Einstellung dazu aufzuweisen und zu pflegen – alles nämlich zu einer „tief persönlichen Wahl“ und „Lust“ zu erklären (heute heißt das: „Freude an seinem Beruf haben“) und auf keinen Fall als „Automat der Pflicht“ (heute heißt das: „bloßes Rädchen im Getriebe“) zu funktionieren. (Am Rande bemerkt: Es bieten sich für die Problematik Nietzsches schon eher die gehobenen Berufe an, wo die Not, jeden Groschen umzudrehen, vergleichsweise geringer ist als beim Rest der Menschheit.) Der Lohn, den man dabei davonträgt, ist, daß man sich anhand der abstoßenden Charaktere der „gemeinen Naturen“ (heute heißen diese Figuren „Kleinbürger“) und deren sklavischem Unterwerfungsbedürfnis immer wieder bebildern kann, wie sehr man sich positiv von ihnen abhebt, wie gut man daher selbst gelungen ist.
Dieses elitäre Bedürfnis ist zynisch und sonst nichts: Es kommt ganz ohne Kritik der Verhaltensweisen, die moderne Staatsbürger praktizieren, aus und setzt bei der Befassung mit den ihnen gleich die Verachtung als Ausgangs- und Endpunkt der theoretischen Betrachtung, wobei mit dieser Verachtung das Eigenlob und die Arroganz unmittelbar korrespondieren. Mit dieser Arroganz einher geht ein Weltbild, in dem alles auf dem Kopf steht: Armut und Gewalt, mit denen man tagtäglich in der einen oder anderen Form konfrontiert ist, erscheinen als Ergebnis einer Menschennatur, die auf rätselhafte Weise pervertiert ist und von der man sich selbst auf noch rätselhaftere Weise positiv abhebt – nach Maßstäben, die man sich selbst erfindet, und zwar so, daß man ihnen auf jedem Fall mehr entspricht als alle anderen. Damit ist dem Weltenlauf eine ganz eigenartige Notwendigkeit verliehen: Schuld daran, daß alles im argen liegt, sind immer die anderen, man selber würde alles gut und noch besser wissen und auch machen, aber niemand hört auf einen, weil alle Welt in ihre kleinlichen Sorgen verstrickt ist. Und darum muß alles so sein, wie es ist.*4
Und mit dieser Charakterpflege hat man einen Sinn gefunden, der einem das eigene Leben erträglich macht, dem man sich neben allem, was man an Pflichten hat, weihen kann. Nietzsche ist es wirklich gelungen, einen Ersatz für die christliche Religion zu finden, in dem bis auf Gott fast alles enthalten ist, was diesen Glauben auszeichnet: die

„Kunst, noch den Niedrigsten anzulehren, sich …()… in eine höhere Schein-Ordnung der Dinge zu stellen und damit das Genügen an der wirklichen Ordnung, innerhalb derer sie hart genug leben, …()… bei sich festzuhalten.“ (23)

Das genau ist es, was Nietzsche und jeden Nietzscheaner auszeichnet: Eine ideale Rangordnung vor Augen zu haben, in der sie ganz oben stehen, aber das ganze eben immer nur als Ideal, nicht auf Durchsetzung bedacht – dadurch kann dieses Weltbild nie scheitern – weil von irgendeiner Verwirklichung von vornherein abgesehen wird. Wer Staaten gründen und „Neue Ordnungen“ einsetzen will, muß nämlich andere Gründe für die moralische Verkommenheit der Menschen erfinden als Nietzsche. Wer den Grund für alles und jedes im Menschen selbst sieht, also Psychologie treibt wie Nietzsche, dessen einziger Forschungs- und Tätigkeitsbereich ist und bleibt das Innere des Menschen:

„»Erkenne dich selbst« ist die ganze Wissenschaft. – Erst am Ende der Erkenntnis aller Dinge wird der Mensch sich selbst erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Grenzen des Menschen.“ (24)

Das „Genügen an der wirklichen Ordnung“ zu finden und zu erhalten, ist also alles, wofür das Weltbild Nietzsches taugt, und man kann daraus eine Lebensaufgabe machen, einen inneren „Kampf“ ausfechten, von dessen Schwere die Umwelt überhaupt nichts bemerken muß, weil es eben ein innerer Kampf ist, der keineswegs zur Vernachlässigung derjenigen Pflichten, die ein Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft hat, führen muß.

Diesen Kampf kann man in dem schönen Bewußtsein führen, daß man sich gerade darüber seine Freiheit errungen hat und täglich neu erkämpft:

„Denn was ist Freiheit: Daß man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Daß man die Distanz, die uns abtrennt, festhält. Daß man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird …()… Der freigewordne Mensch, um wie viel mehr der freigewordne Geist, tritt mit Füßen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden …“ (25)

usw. usf.

Man kann sich das ganze natürlich auch sparen.

 

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*1 Es gibt allerdings einen ebenso hartnäckigen Vorbehalt gegen sie, der jedoch nie in eine so radikale Gegnerschaft wie diejenige Nietzsches mündet, obwohl er von der gleichen Überheblichkeit getragen wird. Er lautet: Gleichheit schön und gut, aber sie darf nicht in Gleichmacherei ausarten. Der Mensch sei doch ein Individuum, als solches unterschieden von anderen, einzigartig sozusagen. Aus diesem Einwand ließe sich zwar folgern, daß die ganze Gleichheit eine sehr fragwürdige Angelegenheit ist, zumindest als Ideal. Wenn sie ohnehin nicht geht, warum dann sie anstreben? (In diesem Streit der Menschenkenner zeichnet sich Nietzsche übrigens wieder einmal durch größere Konsequenz aus: Sind die Menschen verschieden, so sind sie nicht gleich, und umgekehrt.)
            Gegen die Gleichheit vor den Gesetz wollen diese Einwände aber nicht vorgebracht sein, richten sie sich doch meistens ohnehin an jene, die als Vollstrecker der staatlichen Anliegen für die Durchsetzung und Einhaltung dieser Gleichheit sorgen. Und daß das Lob der Individualität sich weniger auf Aussehen, Vorlieben, Begabungen und Temperament bezieht, als vielmehr auf die Hierarchie der Berufe und die Unterschiede beim Einkommen, merkt man daran, wann und wo sich gegen die „Gleichmacherei“ verwehrt wird: Anläßlich von Forderungen „sozial Schwacher“, wenn irgendwer – meistens vor Wahlen – ein paar Sprüche von Hebung des Lebensstandards von sich gibt, die ohnehin nie so gemeint sind, daß irgend jemandem ein sorgenfreies Leben bereitet werden soll. Oder wenn es gegen den Ostblock ging – gegen ein Gesellschaftssystem also, wo dieses „gesunde Ausleben“ des Individuums, sprich: die Konkurrenz, nicht als Grundlage der Ökonomie eingerichtet war.

*2 Eine übrigens eines „Freigeistes“ unwürdige Haltung, wie Nietzsche an anderer Stelle erwähnt:

„Alle Staaten und Ordnungen der Gesellschaft: die Stände, die Ehe, das Recht, alles dies hat seine Kraft und Dauer allein in dem Glauben der gebundenen Geister an sie, – also in der Abwesenheit der Gründe, mindestens in der Abwehr des Fragens nach Gründen. …()… Das Christentum …()… forderte Glauben und Nichts als Glauben und wies das Verlangen nach Gründen mit Leidenschaft ab; es zeigte auf den Erfolg des Glaubens hin: ihr werdet den Vorteil des Glaubens schon spüren, deutete es an, ihr sollt durch ihn selig werden. Tatsächlich verfährt der Staat ebenso und jeder Vater erzieht in gleicher Weise seinen Sohn: halte dies nur für wahr, sagt er, du wirst spüren, wie gut dies tut. Dies bedeutet aber, daß aus dem persönlichen Nutzen, den eine Meinung einträgt, ihre Wahrheit erwiesen werden soll, die Zuträglichkeit einer Lehre soll für die intellektuelle Sicherheit und Begründetheit Gewähr leisten. Es ist dies so, wie wenn der Angeklagte vor Gericht spräche: mein Verteidiger sagt die ganze Wahrheit, denn seht nur zu, was aus seiner Rede folgt: ich werde freigesprochen.–“ (12)

*3 Aus obigem Zitat geht, nebenbei bemerkt, hervor, wie sehr dieser Mann, der von einem Kritiker wie Lukács als Vertreter des „Irrationalismus“, als „Zerstörer der Vernunft“ bezeichnet wird, sich auf die LOGIK verstanden hat, mit welcher Leichtigkeit und Sicherheit er argumentiert und erkannte Widersprüche als solche bezeichnet – und als Mangel empfindet! – eine Art von Gebrauch des Verstandes, der in der zeitgenössischen Philosophie sehr unmodern geworden ist.

*4 Es gibt noch eine abgebrühtere Spielart dieses Weltbildes, und die lautet: Nicht nur die anderen sind Kleinbürger und Widerlinge, sondern ich selbst bin auch so, und daher weiß ich, wovon ich rede, wenn ich sage: der Mensch ist eigentlich ein Sau!
            Eine wesentliche qualitative Verbesserung gegenüber dem vorher ausgeführten Elitegedanken ist dabei nicht festzustellen. Arrogant ist so jemand übrigens genauso: Er sagt nämlich: Ich gebs wenigstens zu, aber die anderen, diese Feiglinge, versuchen ihre miese Verfassung auch noch zu vertuschen!

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1. Jenseits von Gut und Böse, 5/116
2. Zur Genealogie der Moral, 5/325
3. Die fröhliche Wissenschaft, 3/379
4. Ecce Homo, 6/279-280
5. Menschliches, Allzumenschliches I, 2/211
6. Morgenröte, 3/61
7. Jenseits von Gut und Böse, 5/212-214
8. Morgenröte, 3/209
9. Götzendämmerung, 6/150
10. Menschliches, Allzumenschliches I, 2/50
11.  -   "   -   "   -   "   -   "   -   "   -   , 2/80-81
12.   -   "   -   "   -   "   -   "   -   "   -  , 2/191
13. Ecce Homo, 6/257
14.  -   "   -   "  6/267
15. Die fröhliche Wissenschaft, 3/393
16.    "   -   "   -   "   -   "   -  , 3/374
17. Der Fall Wagner, 6/52
18. Der Antichrist, 6/177
19. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1/333
20. Die fröhliche Wissenschaft, 3/521
21. Der Antichrist, 6/237-239
22. Ecce Homo, 6/295
23. Jenseits von Gut und Böse, 5/81
24. Morgenröte, 3/53
25. Götzendämmerung, 6/139

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