II. TEIL: DIE NACHWELT

Krise Nihilismus Irrationalismus Hegel Logik

III. Abschnitt: ZUR NIETZSCHE-REZEPTION

 

1. Allgemeines

Vor mehr als 100 Jahren hat der Däne Georg Brandes als Erster Vorlesungen über die Philosophie Nietzsches gehalten. Was seitdem alles über Nietzsche geschrieben und behauptet worden ist, kann natürlich im Rahmen dieser Arbeit in keiner Weise erschöpfend behandelt werden. In Anschauung der Behandlung, die Nietzsches Gedanken in diesen mehr als hundert Jahren zuteil geworden ist, gewinnt die Beurteilung, die Nietzsche selbst einmal einem Zeitgenossen und Hegelianer hat angedeihen lassen, von neuem Aktualität:

„Und so verfahren die Strausse unserer Tage tatsächlich: Sie wollen von einem Künstler nur so weit wissen, als er sich für ihren Kammerdienst eignet und kennen nur den Gegensatz von Beräuchern und Verbrennen.“ (1)

Drei Formen der Herangehensweise (und deren Mischformen) lassen sich zunächst unterscheiden:
Die erste Gruppe derer, die sich mit Nietzsche befassen, sind diejenigen, die seine Gedanken benützen, um ihre eigenen philosophischen Anschauungen aufzuputzen. Mit der Berufung auf Nietzsche und der Interpretation seiner Gedankengänge soll gezeigt werden, daß die eigenen Vorstellungen Tradition haben, daß es so etwas wie eine kulturgeschichtliche Tendenz zu ihnen hin gibt. Bei dieser Art der Beschäftigung mit Nietzsche werden gewisse Elemente seiner Philosophie übernommen und ins eigene Weltbild eingebaut. So sind die bekannten Nietzsche-Interpreten der 30er-Jahre verfahren, HEIDEGGER, JASPERS und LÖWITH, und sie haben damit ein Nietzsche-Bild geprägt, das eben mehr über ihre Philosophie verrät als über diejenige Nietzsches. Dieses Nietzsche-Bild ist auch zu einem guten Teil von den französischen Anhängern Nietzsches übernommen haben. Seine zentralen Momente sind die Lehren vom „Willen zur Macht“ und „der ewigen Wiederkunft des Gleichen“, die wichtigsten Quellen sind der „Zarathustra“, die nachgelassenen Fragmente und Briefe sowie die ebenfalls nach Nietzsches Tod zusammengestoppelte Schrift „Der Wille zur Macht“. Damit ist eine weitere Problematik dieses Nietzsche-Bildes angesprochen: Gerade diejenigen Schriften, an die er nicht mehr die letzte Hand angelegt hat, sollen den „wirklichen“ Nietzsche zeigen; gerade diejenigen Schriften, die in noch höherem Maße als seine veröffentlichten zur Deutung, zum Hinein- und Herauslesen einladen, ja geradezu danach verlangen, werden zur Besprechung seiner Philosophie herangezogen. (Von der besonderen Problematik des Nietzsche-Nachlasses, in dem seine Schwester überall die Finger drin gehabt hat, ganz zu schweigen.*1) Verschiedene Vertreter der Kritischen Theorie, besonders ADORNO und HABERMAS, gehören auch noch in diese erste Gruppe, obwohl sie sich doch mehr an das Gesamtwerk halten und weniger verfälschen als die Existenzphilosophen, – ihnen zufolge soll schon Nietzsche die „Probleme“, die sie für zentral erachten, entdeckt und formuliert haben. Ihr Interesse gilt vornehmlich seiner Erkenntnistheorie und der von ihm angeblich ebenfalls erkannten „Sinnkrise“ des modernen Menschen.
Die zweite Abteilung umfaßt die eigentliche Nietzsche-Forschung, wie sie seinerzeit von Brandes begonnen wurde. Sie bringt alle möglichen Arten von Nacherzählungen seiner Gedanken; Erläuterungen und Querverweise, und ist einerseits von dem Bemühen um Einfühlen und Verstehen seiner Philosophie geprägt – insofern geht es hier seriöser zu als bei den Vertretern der ersten Abteilung –, andererseits wird im Rahmen dieser Forschung alles an Details von und über Nietzsche zusammengetragen, dessen man nur habhaft werden kann. Jede irgendwo fallengelassene Bemerkung Nietzsches, jede Briefstelle, Lebensgewohnheiten und Bekanntschaften werden liebevoll recherchiert und als „neuer Beitrag zum Verständnis F.N.s“ gefeiert. Karl SCHLECHTA, der Herausgeber der dreibändigen Nietzsche-Ausgabe aus den 50er-Jahren, jagt über Landes- und Sprachgrenzen hinweg einem fehlinterpretierten i-Punkt nach und verfaßt einen mehrseitigen Bericht über diesen seinen heroischen Einsatz an der Wissenschafts-Front.(2) Es gibt Aufsätze über die Kompositionen Nietzsches, psychoanalytische Deutungen seiner Aufzeichnungen, und jede Menge vergleichender Literatur, der Art „Nietzsche und X“, wobei sich für X beliebig einsetzen lassen: Karl Marx und Sören Kierkegaard und Franz Kafka und F.M. Dostojewskij und wer immer – Hauptsache, der Autor hat irgendeine Verbindung zwischen ihnen entdeckt, oder meint zumindest, eine solche entdeckt zu haben. Mehr, als daß Nietzsche anno soundso dies geschrieben hat und X anno soundso das, und daß das doch sehr interessant ist, erfährt man leider dabei meistens nicht.
Solche Formen der Beschäftigung mit einem Gegenstand, die man als Denkmalpflege bezeichnen könnte, hat Nietzsche selbst einmal spöttisch wie folgt charakterisiert:

„Die Geschichte gehört also zweitens dem Bewahrenden und Verehrenden, dem, der mit Liebe und Treue dorthin zurückblickt, woher er kommt …()… durch diese Pietät trägt er gleichsam den Dank für sein Dasein ab. …()… Der Besitz von Urväter-Hausrat verändert in einer solchen Seele seinen Begriff: denn sie wird vielmehr von ihm besessen. Das Kleine, das Beschränkte, das Morsche und Veraltete erhält seine eigene Würde und Unantastbarkeit dadurch, daß die bewahrende und verehrende Seele des antiquarischen Menschen in diese Dinge übersiedelt und sich darin ein heimisches Nest bereitet. …()… Den höchsten Wert aber hat jener historisch-antiquarische Verehrungssinn, wo er über bescheidne, rauhe, selbst kümmerliche Zustände, in denen ein Mensch oder ein Volk lebt, ein einfaches, rührendes Lust- und Zufriedenheits-Gefühl verbreitet …()… Das ist nun freilich nicht der Zustand, in dem der Mensch am meisten befähigt wäre, die Vergangenheit in reines Wissen aufzulösen; …“ (3)

Diese Art der Behandlung Nietzsches bringt im allgemeinen keine Erkenntnisse über seine An- und Absichten zutage*2, ist des öfteren vor allem langatmig und erinnert schlimmstenfalls an die Art von Interesse, die Hausmeister und Schlüssellochgucker ihren Mitmenschen entgegenzubringen pflegen: Nietzsche ganz privat, als Mensch, als Leidender, als unglücklich Verliebter, usw. usf. …*3
Die dritte Gruppe umfaßt die seiner Kritiker, die vor allem im sozialistischen Lager zu suchen sind. Siehe dazu die Abhandlung über Lukács.
Kirchliche Kreise haben Nietzsche lange Zeit als Gegner betrachtet, aber sie sind inzwischen dazu übergegangen, ihn einzuvernehmen und als verirrten Sohn zu betrachten, der eigentlich nur das Christentum auf seine Grundlagen und „wahren Werte“ zurückführen wollte – eine Interpretationsleistung, um die sich auch schon JASPERS verdient gemacht hat.

 

2. „Krise!“, „Nihilismus“ und Die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen

Eine sehr häufige Form der Einvernahme Nietzsches für diverse heute „aktuelle“ Sichtweisen stellt die Feststellung dar, er hätte eine Krise von irgendetwas „erkannt“ – der Moral, der Sinnsuche, der bürgerlichen Gesellschaft, usw. Diejenigen, die solches in Nietzsches Philosophie zu finden meinen, stellen damit sofort eine Schicksalsgemeinschaft her, die zumindest einmal Nietzsche, den Leser und sie selbst umfaßt. Wer jetzt sonst dazugehört, „Europa“ oder „die Philosophie“, ist zunächst ganz unwichtig: Mit dieser Eingemeindung wird klargestellt, daß derjenige Gegenstand, der angeblich in der „Krise“ sein soll, den Angehörigen dieser Gemeinschaft 1. ein Anliegen sein soll und 2. betreut gehört, weil es ihm nicht gut geht. Mit dem Hinweis „Krise“ wird man also aufgefordert, sich um die Moral/den Sinn/den „Geist“ zu bemühen – daß er einem ein Anliegen zu sein hat, ist dabei ganz selbstverständlich. (Sonst wäre der Hinweis ja unsinnig: Wer etwas gegen Moral hat und hört, sie sei in der Krise, der sagt daraufhin doch nur: Fein, und hoffentlich geht sie dabei drauf!) Eine Sinnkrise, wie sie Nietzsche angeblich ausgesprochen oder angedeutet haben soll, ist etwas besonders Verzwicktes: Da wird gefordert, daß man fest nach einem „Sinn“ bei allem, was geschieht, suchen soll, und gleichzeitig wird einem verboten, einen bestimmten zu finden – wer sagt: Jesus ist die richtige Antwort auf alle Fragen! wird verlacht und abgetan: Er macht es sich viel zu leicht, weil so einfach kommt man der Krise nicht aus! Und wer sich pessimistisch gibt und verkündet, alles sei sinnlos, der zeigt damit, wie ernst er die Sinnsuche betreibt und wie schwer er sich es dabei macht – er gibt sie ja nicht auf, sondern setzt sie fort, auch wenn er davon überzeugt ist, kein wie immer definiertes Ziel erreichen zu können. Dieses Verfahren, so ehrenwert es in moralphilosophischen Kreisen sein mag, ist aber stets mit dem Verdacht des Nihilismus belegt bzw. mit der Warnung vor ihm verbunden. An die Wand gemalt wird dabei das abschreckende Beispiel eines Menschen, der die Sinnsuche aufgibt und mit ihr den Glauben an Hintergründiges und „Eigentliches“, der also an Nichts mehr glaubt, sondern womöglich – größtmögliches Unheil – über alles, worüber er nachdenkt, etwas wissen will. Daher fehlt bei keinem Philosophen, der alte Glaubens- und Sinnvorstellungen angreift, der vorbeugende Angriff, man dürfte darüber nicht zum Nihilisten werden, sondern müßte sich zumindest um die Herstellung oder Befestigung neuer derartiger Vorstellungen bemühen: Also ein Bekenntnis irgendeiner Art ablegen.
Bei Nietzsche gibt es an diesem Punkt eine kleine Begriffsverwirrung, weil er zunächst gerade die gläubigen Menschen als Nihilisten bezeichnet: solche nämlich, die an etwas Falsches glauben, an etwas Jenseitiges. An anderer Stelle kokettiert er selbst damit, ein „Nihilist“ zu sein, weil er die alten – also ursprünglich von ihm selbst als „nihilistisch“ bezeichneten – Werte angreift und den Glauben an sie zerstören will. Letztlich ist er sich mit seinen Interpreten an diesem Punkt herzlich einig: Die Sinnsuche muß fortgesetzt werden, weil alles andere ist „Wille zum Ende“, also gerade das Gegenteil dessen, was er an den Menschen schätzt und befördern will. Daß gerade dieser Punkt – die Beschäftigung mit dem „Nihilismus“ – von seinen Rezipienten so hervorgehoben wird, liegt aber m. E. weniger an seiner Verwendung des Wortes als an dem sittenpolizeilichen Standpunkt der Moralphilosophie, die die Verbrechen gegen die Menschheit lieber schon im Vorfeld ahndet, also bereits auf Verdacht hin tätig wird.

Die „Lehre von der ewigen Wiederkunft“ gehört eher in die Rezeptionsgeschichte als in eine Abhandlung über Nietzsches Philosophie. Nicht, daß Nietzsche ihr keine Bedeutung zugemessen hätte: Er hat öfters erwähnt, daß er sie für sehr bedeutend hält, die erste Annäherung dieser „Idee“ beschreibt er ähnlich wie christliche Hysteriker die Erscheinung eines Erzengels oder der Jungfrau Maria:

„… der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann –, gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: „6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit“. Ich ging an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgetürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke.“ (4)

da erschien er, der Geist, und ?
Nietzsche hat sich zu dieser angeblich so großartigen und neuen Idee in seinen noch selbst redigierten Schriften eher spärlich und gleichnishaft geäußert; um so mehr Aufmerksamkeit haben ihr einige seiner Interpreten gewidmet.
Aber es genügt auch hier, sich an ihn, nämlich seine von ihm selbst nicht veröffentlichten Aufzeichnungen zu halten:

„Meine Freunde, ich bin der Lehrer der ewigen Wiederkunft.
Das ist: ich lehre, daß alle Dinge ewig wiederkehren und ihr selber mit – und daß ihr schon unzählige Male dagewesen seid und alle Dinge mit euch; ich lehre, daß es ein großes langes ungeheures Jahr des Werdens gibt, das, wenn es abgelaufen, ausgelaufen ist, gleich einer Sanduhr immer wieder umgedreht wird: so daß alle diese Jahre sich selber gleich sind, im Kleinsten wie im Größten.“ (5) *4

Wer allem, was ist, irgendeine Art von „Entwicklung“ nachsagen will, die „es“ selbsttätig und selbständig durchläuft, wer sich also wie Nietzsche ein geheimnisvolles Über-Subjekt vorstellt, von dem alle Menschen und Dinge irgendwie abhängig sind, hat genau drei Möglichkeiten, was die individuelle und was die Menschheits-Geschichte angeht.

Erstens, individuell:
1. nach dem Tod kommt man in den Himmel, verbessert sichs also irgendwie,
2. man wird immer wiedergeboren, und kann dabei entweder als Fliege oder als Kuh oder als Brahmane auf die Welt kommen, oder
3. man kommt in die Hölle und dort wird man gequält.

Auf die geschichtliche Entwicklung umgelegt, gibt es auch diese aufregenden 3 Perspektiven:
1. alles wird immer besser, auch wenn mans nicht so genau merkt, das heißt dann Fortschritt,
2. alles ist schon einmal dagewesen und es gibt nichts Neues unter der Sonne, und
3. alles wird immer schlimmer, bald ist es aus.

Diese drei Weltbilder, die sich allesamt dem eigenartigen Bedürfnis verdanken, sich einen Weltenlauf vorzustellen, auf den man selber bei bestem Willen keinen Einfluß hat, also schon Denkmäler der Demut und Anpassung sind, vertragen sich sehr gut miteinander, besser gesagt, sie benötigen einander stets: Der Verteidiger des Fortschritts kann dem Wiederholungs-Freund vorwerfen, er sei reaktionär, der wiederum kann sagen, wer an Fortschritt glaube, sei naiv, man brauche doch nur die Zeitung lesen, um zu sehen, daß dieser Glaube unhaltbar sei, und die beiden können wieder der Abteilung Drei sagen, sie nehme den Menschen alle Hoffnung usw. usf.
Daß solche Dispute überhaupt Zuhörer finden und die Kontrahenten nicht lauthals ausgelacht werden, liegt daran, daß dieses Bedürfnis des Aufgehoben-Seins in einer „Entwicklung“ offenbar sehr verbreitet ist, und durchaus nicht nur bei Angehörigen der gebildeten Stände. Auch normale Omas und Opas beherrschen diesen Gedanken vollständig:

1. „Früher haben es die Menschen viel schwerer gehabt! Ihr wißt ja gar nicht wie gut es euch geht!“
2. „Die Menschen waren schon immer so,… Das wird sich nicht ändern, alles ist schon einmal dagewesen, das war damals genauso …“ und
3. Als ich jung war, waren die Menschen freundlicher, die Wiesen grüner, das Wetter besser“ usw.

Diese Schicksals-Gedanken sind ebenso einfach wie dümmlich, weil sie ja vor der Befassung mit einem Gegenstand, einem Ereignis bereits ein Urteil über die Sache fällen, das jede Beschäftigung mit ihr erübrigt, daher auch gar keiner Überlegung in Anschauung dieser Sache geschuldet sein kann. Es ist ein Fertig-Sein mit der Welt, ohne je über etwas nachgedacht zu haben.

Daß die normale Menschheit sich mit solchen Gedanken befaßt, ist eine Sache. Immerhin haben die Leute ja gearbeitet, Steuern gezahlt, Kinder bekommen und sind in den Krieg gezogen – bei solchen Tätigkeiten benötigt man offenbar allerlei Tröstungen und Hoffnungen billigster Ausführung. Daß Nietzsche so einen Gedanken faßt und als besonders bedeutsam bezeichnet, ist eine Fortsetzung dieses Trost-Gedankens und fällt bereits in die Abteilung „philosophische Umtriebe“. Aber das könnte man wie vieles andere bei ihm überlesen und sich an diejenigen Gedanken halten, in denen er aus der Beobachtung seiner Mitmenschen und der Beschäftigung mit Religion und Philosophie richtige und ungewöhnliche Schlüsse zieht.
Daß man aber ausgerechnet diesen Einfall Nietzsches zum Kernstück seiner Philosophie und zu seiner bedeutendsten Einsicht erklärt, ist eine Leistung der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Offenbar sehen die Vertreter dieser Geisteswissenschaft inzwischen ihre Berufung beinahe ausschließlich darin, die ganz normalen Alltagsweisheiten und moralischen Lebensregeln zu „tiefen“ und im Umfang voluminösen Gedankengebäuden aufzublasen, deren Anerkennung darin begründet ist, daß jeder ihren banalen Kern erkennt und billigt, während sich an der angeblichen „Unergründlichkeit“, „Komplexität“ und „Schwierigkeit“ dieser Gedankengebäude die gebildeten Geister von den ungebildeten scheiden.

 

3. Die Nietzsche-Kritik von Georg Lukács

In seinem Buch „Die Zerstörung der Vernunft“ meint Lukács, eine philosophische Tendenz geortet zu haben, die eine der Grundlagen, wenn nicht DIE Grundlage des Faschismus ist: Den Irrationalismus. Und er bestimmt Nietzsche zu einem der Hauptvertreter dieser Tendenz. In diesem Abschnitt wird der Versuch unternommen, zu zeigen, daß Lukács sich bei seiner Kritik genau solcher philosophischer Sichtweisen bedient wie Nietzsche, daß er, der sich als Materialist bezeichnet, das Verhältnis von Philosophie und Ideologie einerseits, von Politik und Ökonomie andererseits genauso auf den Kopf stellt wie der, den er angreift, und daß er letztlich Nietzsche nicht kritisieren kann, weil er für seine Position keine Argumente, sondern nur moralische Kategorien ins Feld führen kann.
Was ich über seinen Haupt-Vorwurf, nämlich daß die Philosophie Nietzsches den Nationalsozialisten den Weg geebnet hätte, unter II. TEIL, II. Abschnitt 2. geschrieben habe, gilt natürlich auch mit leichten Modifikationen für diese Kritik von Lukács. Darüber hinaus ist jedoch eine Beschäftigung mit sozialistischer Erkenntnistheorie und derjenigen Bewertung von Philosophie, die zum sozialistischen Weltbild gehört, notwendig.

 

3.1. Zu den Begriffen „Irrationalismus“ und „Dialektik“ bei Lukács und sein Verhältnis zu Hegel

Lukács bezieht sich in seinen Ausführungen zur Erkenntnistheorie auf Hegel. Er schreibt zunächst über die philosophische Richtung, die er „Irrationalismus“ nennt:

„Es sei hier nur nebenbei bemerkt, daß das Schlagwort »Irrationalismus« als Bezeichnung einer philosophischen Tendenz, Schule usw. verhältnismäßig neu ist. …()… In der klassischen deutschen Philosophie selbst gebraucht Hegel das Wort »irrationell« nur im mathematischen Sinn und spricht, wenn er die hier behandelten philosophischen Richtungen kritisiert, vom »unmittelbaren Wissen«.“ (6)

Dazu hat Hegel sich allerdings geäußert, und zwar sehr ausführlich. Er bezeichnet damit ungefähr das, was in dieser Arbeit in der Einleitung unter der Methode Nietzsches abgehandelt worden ist. Er schreibt:

Wissen, Glauben, Denken, Anschauen sind die auf diesem Standpunkte“ (des unmittelbaren Wissens) „vorkommenden Kategorien, die indem sie als bekannt vorausgesetzt werden, nur zu häufig nach bloßen psychologischen Vorstellungen und Unterscheidungen willkürlich gebraucht werden; was ihre Natur und Begriff ist, dies, worauf es allein ankäme, wird nicht untersucht. So findet man das Wissen sehr gewöhnlich dem Glauben entgegengesetzt, während zugleich Glauben als unmittelbares Wissen bestimmt, hiermit sogleich auch für ein Wissen anerkannt wird. …()… Es geschieht in der Sprache dieses Philosophierens, daß Glauben auch in Beziehung auf die gemeinen Dinge der sinnlichen Gegenwart gesagt wird. Wir glauben, sagt Jacobi*5 , daß wir einen Körper haben, wir glauben an die Existenz der sinnlichen Dinge. …()…, so daß dieses gläubige Philosophieren wesentlich fromm und christlich-fromm aussieht und auf den Grund dieser Frömmigkeit hin sich die Freiheit gibt, um so mehr mit Prätention und Autorität seine beliebigen Versicherungen zu machen. Man muß sich aber vom Scheine nicht über das, was sich durch die bloße Gleichheit der Worte einschleichen kann, täuschen lassen und den Unterschied wohl festhalten. Der christliche Glaube schließt eine Autorität der Kirche in sich; der Glaube aber jenes philosophierenden Standpunktes ist vielmehr nur die Autorität der eigenen subjektiven Offenbarung. Ferner ist jener christliche Glaube ein objektiver, in sich reicher Inhalt, ein System …()…; der Inhalt dieses Glaubens aber ist so unbestimmt in sich, daß er jenen Inhalt zwar wohl auch etwa zuläßt, aber ebensosehr auch den Glauben, daß der Dalai Lama, der Stier, der Affe usf. Gott ist, in sich begreift …()… Mit dem, was hier Glauben und unmittelbares Wissen heißt, ist es übrigens ganz dasselbe, was sonst Eingebung, Offenbarung des Herzens, ein von Natur in den Menschen eingepflanzter Inhalt, ferner insbesondere auch gesunder Menschenverstand, common sense, Gemeinsinn, genannt worden ist. Alle diese Formen machen auf die gleiche Weise die Unmittelbarkeit, wie sich ein Inhalt im Bewußtsein findet, eine Tatsache in diesem ist, zum Prinzip.“ (7)

Was Hegel hier anspricht und kritisiert, ist der Standpunkt der Beliebigkeit, der zu einer philosophischen Methode gedeiht, sobald jemand sich selbst, seine Gefühle und Vorstellungen, zur Autorität und Berufungsinstanz für seine Aussagen macht und sich damit gegen jede Kritik oder Überprüfung dieser Aussagen immunisiert. Das ist allerdings nicht genau das, was Lukács unter Irrationalismus *6 versteht:

„ ...jene spezifische Form des Zurückweichens vor einer entscheidenden philosophischen, methodologisch-weltanschaulichen Problemstellung, worin wir die allgemeine Grundform des Irrationalismus erkannt haben, muß sich auf verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen und, ihr entsprechend, der philosophischen Entwicklung in qualitativ verschiedenen Formen zeigen.“ (9)

Was er mit dem „Zurückweichen vor einer entscheidenden methodologisch weltanschaulichen Problemstellung“ versteht, ist einer näheren Untersuchung wert. Denn bisher war Irrationalismus nur als eine Methode des Philosophierens bestimmt. Jetzt tritt aber der Gesichtspunkt hinzu, daß sie die falsche, nämlich eine, die etwas ausweicht, sein soll. Die Grundlage der „Problemstellung“, die Lukács ausgemacht haben will, ist für ihn das Problem der Vermittlung „zwischen Denken und Sein“ *7:

„Da die objektive Wirklichkeit prinzipiell reicher, vielfältiger, verwickelter ist, als die bestentwickelten Begriffe unseres Denkens je sein können, sind Zusammenstöße von der hier geschilderten Art“ (er meint damit, daß das Denken den realen Entwicklungen stets nachhinkt) „zwischen Denken und Sein unvermeidlich.“ (11)

Wir finden hier bei Lukács das gleiche Mißtrauen gegenüber der Möglichkeit der Erkenntnis wie schon bei Nietzsche: Weil die Gegenstände und die Gedanken über sie zwei verschiedene Dinge sind, soll eine prinzipielle Unmöglichkeit, sie vollständig und restlos zu erkennen, vorliegen. Von Nietzsche unterscheidet ihn die Fortsetzung dieser Überlegung, er meint nämlich, einen Ausweg aus dieser „Problematik“ gefunden zu haben:

„Hegels Dialektik, indem sie die hier aufgeworfenen Probleme auch historisch zu erfassen versucht, ist die höchste Stufe der bürgerlichen Philosophie, ist deren energischtes Unternehmen, diese Schwierigkeiten gedanklich zu bewältigen: Eine Methode zu schaffen, die eine solche – bis dahin vollständigste – Annäherung des Denkens, der gedanklichen Abbildung der Wirklichkeit selbst garantieren kann.“ (12)

In diesem Zitat wird der Widerspruch, den sich Lukács mit seiner Erkenntnistheorie eingehandelt hat, besonders deutlich: Entweder ist die Erkenntnis der Gegenstände, mit denen sich ein Individuum befaßt, prinzipiell unmöglich, dann gibt es allerdings auch keine Annäherung, Methode hin oder her. Wie will man feststellen, daß man sich einer Sache, einem Begriff nähert, wenn man sie nicht erkennen kann? Es erinnert ein wenig an das Ostereiersuchen, wo der, der die Eier versteckt hat, sagt: heiß! Nur daß in diesem Fall der andere fehlt, der einem diese wertvolle Information liefern könnte. Umgekehrt: Wäre die Dialektik wirklich eine Methode der Erkenntnis, so ist das Gerede von „Annäherung“ unsinnig – dann geht es eben ums begriffliche Erfassen der Dinge, die man sich zum Gegenstand gemacht hat, und nicht um Ahnungen oder Wahrscheinlichkeiten, sondern um Gewißheit.
Hegel selbst hat sich übrigens gegen die offenbar schon zu seinen Zeiten gängige Vorstellung, er hätte mit dem Wort „Dialektik“ eine Methode des Denkens, und zwar eine besonders geeignete, gemeint, verwehrt:

„ … diejenige Tätigkeit des Denkens, welche demnächst als Dialektik in besondere Betrachtung gezogen werden wird und von welcher hier nur vorläufig zu bemerken ist, daß dieselbe nicht als von außen an die Denkbestimmungen gebracht, sondern vielmehr als denselben selbst innewohnend zu betrachten ist.“ (13)

Er hat mit diesem Wort die Methode, vielleicht weniger mißverständlich ausgedrückt die Vorgangsweise des Denkens überhaupt bezeichnet, die Form, derer sich zunächst jeder bedient, sosehr er auch gegen Erkenntnis polemisiert und so falsch seine Erkenntnisse im einzelnen sein mögen. Auch in bezug auf diejenigen Menschen, die sich auf den Standpunkt des „unmittelbaren Wissens“ stellen und sich aufs „Ich“ und ihre Vorstellungswelt berufen, will er festgehalten haben, daß auch hier die Dialektik als das Denken schlechthin, das, was er in seiner Abhandlung über die Logik untersuchen wollte, am Werk ist:

„In allem menschlichen Anschauen ist Denken; ebenso ist das Denken das Allgemeine in allen Vorstellungen, Erinnerungen und überhaupt in jeder geistigen Tätigkeit …()… Betrachten wir das Denken als das wahrhaft Allgemeine …()…, so greift dasselbe über alles dieses über und ist die Grundlage von allem …()… Dies ist zunächst der Fall, indem der Mensch sich als Ich weiß. Wenn ich Ich sage, so meine ich mich als diese einzelne, durchaus bestimmte Person. In der Tat sage ich jedoch dadurch nichts Besonderes von mir aus. Ich ist auch jeder andere, und indem ich mich als Ich bezeichne, so meine ich zwar mich, diesen Einzelnen, spreche jedoch zugleich ein vollkommenes Allgemeines aus. Ich ist das reine Fürsichsein, worin alles Besondere negiert und aufgehoben ist, dieses Letzte, Einfache und Reine des Bewußtseins. …()… Jeder Mensch ist eine ganze Welt von Vorstellungen, welche in der Nacht des Ich begraben sind. So ist denn Ich das Allgemeine, in welchen von allem Besonderen abstrahiert ist, in welchem zugleich aber alles verhüllt liegt. …()… Denkend ist somit der Mensch immer, auch wenn er nur anschaut; betrachtet er irgendetwas, so betrachtet er es immer als ein Allgemeines, fixiert Einzelnes, hebt es heraus, entfernt dadurch seine Aufmerksamkeit von anderem, nimmt es als ein Abstraktes und Allgemeines, wenn auch nur formell Allgemeines.“ (14)

Mit dieser formellen Bestimmung des Denkens ist nichts über den besonderen Inhalt des Gedachten ausgesagt: Es liegt in der Freiheit des Individuums, sich zu allem und jedem zu denken, was es will, Falsches und Richtiges.
Als Zwischenbilanz der bisher zitierten Stellen und deren Bezug zueinander sei hier nur festgehalten: Hegel bestimmt nicht „unmittelbares Wissen“ und Dialektik als zwei unterschiedliche Arten des Denkens, auch nicht des Philosophierens, schon gar nicht der „Weltanschauung“. Er stellt fest, daß Dialektik nur so etwas wie ein anderer Name für Denken an sich*8 ist, daß auch bei den gewöhnlichsten alltäglichen Überlegungen nach dem gleichen Verfahren vorgegangen wird wie in der Philosophie oder bei den Vertretern der Wissenschaft: Es wird geurteilt und geschlossen, Allgemeines festgehalten und das, was für unwesentlich erachtet wird, von den Überlegungen ausgeschlossen. Die Berufung aufs „unmittelbare Wissen“ dagegen kritisiert er als eine Vorgangsweise denkender Menschen, bei der sich nicht um Erkenntnis dessen, was wirklich wesentlich ist, was den Gegenständen an tatsächlichen Bestimmungen zukommt, bemüht wird, sondern sich mit Halbwissen und Unwissenheit zufriedengegeben wird, ja wo der Betreffende sogar darauf stolz ist, die „Wahrheit“ zu besitzen, ohne nach ihr geforscht zu haben.
Damit unterscheidet dieses Verfahren sich sehr von der unbefangenen und nächstliegenden Art, über die Dinge der Welt nachzudenken. Sie wird von Hegel zu Recht die erste Stellung des Gedankens zur Objektivität genannt:

„Die erste Stellung ist das unbefangene Verfahren, welches …()… den Glauben enthält, daß durch das Nachdenken die Wahrheit erkannt, das was die Objekte wahrhaft sind, vor das Bewußtsein gebracht werde. In diesem Glauben geht das Denken geradezu an die Gegenstände, reproduziert den Inhalt der Empfindungen und Anschauungen aus sich zu einem Inhalte des Gedankens und ist in solchem als der Wahrheit befriedigt. Alle anfängliche Philosophie, alle Wissenschaften, ja selbst das tägliche Tun und Treiben des Bewußtseins lebt in diesem Glauben.“ (15)

Und bei Hegel gibt es auch noch ein Bewußtsein davon, warum die Philosophie seiner Zeit diese Stellung nicht mehr eingenommen hat:

„Man hat früher beim Denken nichts Arges gehabt, frisch vom Kopf weg gedacht. Man dachte über Gott, Natur und Staat und hatte die Überzeugung, nur durch Gedanken komme man dazu, zu erkennen, was die Wahrheit sei, nicht durch die Sinne oder durch ein zufälliges Vorstellen und Meinen. Indem man so fort dachte, ergab es sich aber, daß die höchsten Verhältnisse im Leben dadurch kompromittiert wurden. Durch das Denken war dem Positiven die Macht genommen. Staatsverfassungen fielen dem Gedanken zum Opfer; die Religion ist vom Gedanken angegriffen, feste religiöse Vorstellungen, die schlechthin als Offenbarungen galten, sind untergraben worden …()… So machte sich das Denken in der Wirklichkeit geltend und übte die ungeheuerste Wirksamkeit. Dadurch wurde man aufmerksam auf diese Macht des Denkens, fing an, seine Ansprüche näher zu untersuchen und wollte gefunden haben, daß es sich zu viel anmaße... ()... Anstatt das Wesen Gottes, der Natur und des Geistes …()… zu erkennen, habe dasselbe den Staat und die Religion umgestürzt. Es wurde deshalb eine Rechtfertigung des Denkens über seine Resultate verlangt, und die Untersuchung über die Natur des Denkens ist es, welche in der neueren Zeit zum großen Teil das Interesse der Philosophie ausgemacht hat.“ (16)

(Das einzige, was in diesem Zitat nicht ganz stimmt, ist das Wort „anstatt“ in der sechsten Zeile von unten: Weil sich die Menschen bemüht haben, das Wesen Gottes, der Natur usw. zu erkennen, sind sie zu Ergebnissen gelangt, die den Absichten der jeweiligen Herrscher und religiösen Häupter nicht entsprochen haben.)
Hegel schrieb dies zu einer Zeit, wo Philosophie bereits hauptsächlich Rechtfertigung des bürgerlichen Staates und seiner Einrichtungen war und sein wollte – und wo ihr zu dieser Aufgabe ein wesentliches Hindernis aus dem Wege geräumt war: diese unbefangene Stellung des Gedankens.*9 Die Folgen sieht man an einem Philosophen wie Lukács: Er will Philosophie treiben, sich dabei in eine philosophische Tradition einreihen, in der es hauptsächlich um Rechtfertigung gegangen ist – er übernimmt daher ebenso wie Nietzsche einen Teil des Instrumentariums, das sie sich zu diesem Zweck zugelegt hat, und er will gleichzeitig eine Kritik sowohl an gesellschaftlichen Verhältnissen als auch an bürgerlicher Philosophie üben. Dabei verwickelt er sich ständig in Widersprüche, z.B. bei der Frage danach, was Philosophie eigentlich sei.

 

3. 2. Philosophie und Politik. Vom Klassenkampf in der Philosophie.

„... Unterschiede zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften. Diese sind oft in der Lage, bestimmte, vom Leben gestellte Probleme direkt zu lösen, oft ohne sich darum zu kümmern, was sie für weltanschauliche Folgen haben werden; man denke an die Entwicklung der Mathematik, wo wichtige dialektische Probleme richtiggestellt und gelöst wurden und die größten dialektischen Neuerer sich ebensowenig bewußt waren, daß sie dialektisches Neuland entdeckten, wie Molieres Bürger, daß er stets Prosa sprach. Die Philosophie ist dagegen gezwungen, an die prinzipiellen, an die die Weltanschauung berührenden Fragen heranzutreten, einerlei, wie ihre Antworten ausfallen.“ (18)

Wenn in den Einzelwissenschaften richtige Erkenntnisse erlangt werden  – was sonst heißt es, „bestimmte, vom Leben gestellte Probleme direkt zu lösen“ – und in der Philosophie anscheinend nicht, so spricht das zunächst einmal gegen die Philosophie. Da findet offenbar eine Art von Nachdenken über die Dinge der Welt statt, die diesem Ergebnis abträglich ist. Ein Rätsel ist es allerdings schon, warum es in den Einzelwissenschaften gelingen soll, Erkenntnisse zu gewinnen, wo Lukács doch vorher behauptet hat, daß „die objektive Wirklichkeit prinzipiell reicher, vielfältiger, verwickelter ist, als die bestentwickelten Begriffe unseres Denkens je sein können“.
Auch was die angeblichen Zwänge der Philosophie angeht, muß Lukács zu seinem Mißfallen feststellen, daß sie so zwanghaft offenbar nicht sein können:

„Andererseits gab es verhältnismäßig langlebige philosophische Tendenzen, die prinzipiell das Ausweichen vor jeder weltanschaulichen Fragestellung zum Programm, zum Zentralpunkt der Methode machten.“(19)

Wenn Lukács definiert, daß Philosophie mit Weltanschauung – und zwar mit einer bestimmten – gleichzusetzen ist bzw. zumindest eng zusammenhängt, wenn er andererseits bei bestimmten Leuten festzustellen glaubt, daß sie sich hier irgendwelche Versäumnisse zuschulden kommen lassen, so ist klar, daß die Schlußfolgerung für ihn ist, diesen Menschen entweder abzusprechen, daß sie Philosophen sind, oder sie als Verräter an der Philosophie zu behandeln. Wie ich im Punkt 3.3. ausführen werde, wendet er bei Nietzsche beide dieser Verurteilungen an. Er äußert sich zu diesen „weltanschaulichen Fragestellungen“ wie folgt:

„Eine der Grundthesen dieses Buches ist: es gibt keine ,unschuldige’ Weltanschauung. In keiner Beziehung gibt es eine solche, aber insbesondere nicht in bezug auf unser Problem, und zwar gerade im philosophischen Sinn: die Stellungnahme pro oder contra Vernunft entscheidet zugleich über das Wesen einer Philosophie als Philosophie, über die Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung. Schon deshalb, weil die Vernunft selbst nicht etwas über der gesellschaftlichen Entwicklung Schwebendes, parteilos Neutrales sein kann, sondern stets die konkrete Vernünftigkeit (oder Unvernünftigkeit) einer gesellschaftlichen Lage, einer Entwicklungsrichtung widerspiegelt, auf den Begriff bringt und diese damit fördert oder hemmt.“ (20)

Die Widerspiegelung, die er in einem weiter oben angeführten Zitat auch die „Abbildung der Wirklichkeit“ genannt hat, ist wiederum eine sehr fragwürdige Sache. Wenn Denken wirklich so etwas wie „widerspiegeln“ oder „abbilden“ wäre, gäbe es keine „falschen“ Gedanken, keine Fehler, keine Irrtümer, auch keine Unwissenheit. Da es aber dabei zur Förderung oder Hemmung von „Entwicklungen“ kommen soll, ist ausgedrückt, daß das, was mit „Widerspiegelung“ angesprochen ist, mit Weltanschauung gleichgesetzt werden soll: eine Deutung der Welt, und zwar eine, die dem Lukács’schen Verständnis von Philosophie entspricht: Der Philosoph soll Partei ergreifen, und zwar für die richtige Seite. Die richtige Seite ist für ihn wechselweise die des Proletariats, die der Vernunft, die der bürgerlichen Revolution, es kommt dabei immer auf die historische Epoche an. Auffällig ist an dieser Stelle, daß er überhaupt keine Gründe dafür angibt, warum sich ein Philosoph auf diese oder jene „Seite“ schlagen sollte: Er bestimmt einfach die „Aufgabe der Philosophie“ darüber, daß sie auf irgendeine seltsame Art und Weise immer schon eine Vorwegnahme des Sozialismus, genauer genommen, der sozialistischen Weltanschauung sein sollte. Und die Tatsache, daß die Philosophen aller Zeiten diesen Auftrag durchaus nicht so empfunden haben, ist ihm keine Widerlegung dieser These, sondern beflügelt ihn einerseits zu psychologischen Studien darüber, was sie „eigentlich“ wollten, auch wenn sie es nicht so hingeschrieben haben, oder veranlaßt ihn zu haßerfüllten Tiraden über die ethische Verkommenheit des einen oder anderen Vertreters dieser Zunft.
Was seine Kapitalismuskritik betrifft, so entzieht er sich mit dieser Vorgangsweise selbst die Grundlage: Wenn es dazu einer Deutung, einer philosophischen Sichtweise, einer vorweggenommenen Parteinahme bedarf, wenn die Kritik einer bestimmten Ökonomie und Gesellschaftsform eine Frage der Anschauung, der moralischen Entscheidung für oder gegen diese Gesellschaftsform sein soll, so ist doch damit stillschweigend unterstellt, daß es keine objektiven Gründe für eine Gegnerschaft geben kann. Die Einsicht in die Schädlichkeit dieser Ökonomie, ihrer Unbekömmlichkeit fürs eigene Interesse, soll nicht der Grund für diese Entscheidung sein, sondern das Dafür oder Dagegen muß eine Frage des Geschmacks oder der Laune, auf jeden Fall aber der subjektiven Befindlichkeit sein. Die Entscheidung für oder gegen Sozialismus erfolgt nach dieser Theorie dann nicht aufgrund der Kenntnis des kapitalistischen Produktionsprozesses, sondern aufgrund einer geschmäcklerischen Entscheidung: gefällt es mir hier oder kann ich mir etwas Schöneres, Besseres vorstellen? Hätte Marx so gedacht wie Lukács, so hätte er nie die kapitalistische Ökonomie studiert und das „Kapital“ nicht geschrieben: Er meinte nämlich, den Menschen erst Gründe für eine Gegnerschaft liefern zu müssen, indem er nachgewiesen hat, daß diese Wirtschaftsform notwendig zum ständigen Schaden der einen Klasse und zum Krieg führt.
Lukács meint in obigem Zitat, darauf hinweisen zu müssen, daß „Vernunft selbst nicht etwas über der gesellschaftlichen Entwicklung Schwebendes, parteilos Neutrales sein kann“ – gegen wen schreibt er das eigentlich? Wer meint denn, daß „die Vernunft“ über irgendwelchen Entwicklungen „schwebt“? – sie ist ja kein Erzengel! Mit diesem Zerrbild richtet er sich noch einmal gegen die unbefangene Stellung des Verstandes, der auf Objektivität im Denken hinaus will, eine in der Philosophie ohnehin längst ausgestorbene Stellung, und fordert Parteilichkeit ein.
Was Lukács mit der „konkreten Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit einer gesellschaftlichen Lage“ bezeichnet, ist nichts anderes als der Versuch, seine Parteinahme in den Gegenstand der Betrachtung hineinzuverlegen: Es soll schon in einer gesellschaftlichen Lage, einer Wirtschaftsform drinnen liegen, daß man dagegen zu sein hat, – das ist dann eine unvernünftige Lage. Wer das nicht „erkennt“, verwehrt sich gegen die „Vernunft“ und ist aus der Gemeinde der anständigen Philosophen auszuschließen.
Indem er solchermaßen kapitalistischem Wirtschaften und dessen philosophischer Auslegung „Unvernünftigkeit“ vorwirft, begreift er den bürgerlichen Staat notwendig als eine Art von „Zusammenleben“, aber ein falsches, weil „unvernünftiges“. Damit verwandelt er die Politik, den gewaltsamen Umgang mit dem Staatsvolk, und die kapitalistische Ausbeutung in ein philosophisches Problem, in einen Mangel an weltanschaulicher Stellungnahme:

„Jedoch, je weiter die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft geht, je mehr die Bourgeoise nur noch ihre Macht gegen das Proletariat verteidigt, je mehr sie zur reaktionären Klasse geworden ist, desto seltener sind bürgerliche Gelehrte und Philosophen gewillt, aus den bereits überreich vorhandenen Tatsachen der Wissenschaften die philosophischen Konsequenzen zu ziehen; desto entschiedener wendet sich die bürgerliche Philosophie irrationalistischen Lösungen zu, wenn die Entwicklung sich einem Punkt nähert, wo ein Schritt weiter in der diesseitigen Erklärung der Welt, in ihrer Auslegung aus sich selbst, in der rationellen Erfassung der Dialektik ihrer eigenen Bewegung auf der Tagesordnung steht.“(21)

Weil die bürgerlichen Philosophen nicht richtig „auslegen“, verwehren sie sich gegen das, was „auf der Tagesordnung steht“, weil Lukács es dorthin gesetzt hat. Es kommt bei dergleichen Hinweisen von ihm auf die Verkommenheit der bürgerlichen Denker nichts weiter heraus als die Entrüstung darüber, daß diesen Menschen die moralischen Qualitäten fehlen, die Lukács ihnen so gerne vorschreiben möchte. Den Gipfel erreicht dieses Rechten dort, wo er Hitler in die Philosophiegeschichte einreiht:

„... das Sinken des philosophischen Niveaus als bloße Feststellung reicht keineswegs zur Charakteristik der Geschichte des Irrationalismus aus. ...()... Der Rückzug vom ,niveaulosen’ Hitler auf die ,hochwertigen’ Spengler, Heidegger oder Nietzsche ist also, sowohl philosophisch als auch politisch, ein strategischer Rückzug, eine Loslösung vom verfolgenden Feinde, um die Reihen der Reaktion zu ordnen, um – unter günstigeren Bedingungen – eine erneute, methodologisch ,verbesserte’ Offensive der äußersten Reaktion zu entfachen.“(22)

In diesem Zitat steht die Welt kopf, und zwar in einer Weise, die der Nietzsches um nichts nachsteht. Der Nationalsozialismus – ein Ausdruck schlechter, weil niveauloser Philosophie? Bürgerliche Denker ziehen sich auf die Philosophie Nietzsches zurück, weil sie sich von sozialistischer oder sonst einer „fortschrittlichen“ Weltanschauung „verfolgt“ fühlen? (Obwohl ihnen ihre Schriften und Ansichten nationale Ehrungen und ehrfürchtige Studenten eintragen, und zwar um so mehr, je besser sie zum bürgerlichen Geistesleben dazupassen...) Wovor „ziehen sie sich zurück?“ Vor ihrer philosophischen Verantwortung, von der Lukács stets feststellen muß, daß ihnen an ihr ohnehin nichts liegt, oder daß sie sie nicht in seinem Sinne wahrnehmen? Wer zieht sich übrigens „politisch“ auf Nietzsche zurück? Die NATO? Westliche Regierungen? Werden Kabinettssitzungen vertagt, weil die Mitglieder schnell einmal bei Nietzsche nachlesen wollen, wie der Geheimdienst zu reorganisieren oder die Subventionen zu vergeben sind? Lukács, der sich als Materialist bezeichnet, präsentiert sich hier als Idealist reinsten Wassers.

Auch den Klassenkampf betrachtet er als letztlich philosophische Angelegenheit:

„Das Proletariat ist die erste unterdrückte Klasse der Weltgeschichte, die imstande ist, der Weltanschauung der Unterdrücker ein selbständige und höhere eigene Weltanschauung entgegenzustellen.“(23)

Der Klassenkampf findet also für Lukács deswegen statt, weil die unterdrückte Klasse eine „höhere“ Weltanschauung besitzt, die sich wegen ihrer ethischen Überlegenheit einmal durchsetzen muß.*10 Der Klassenkampf ist in einem solchen Weltbild wie dem von Lukács eine aktuelle Spielart des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse. Mit dem wirklichen Klassenkampf hat er nichts mehr zu tun, er ist verwandelt in eine Auseinandersetzung der Weltanschauungen. Und Lukács teilt die Philosophen danach ein, ob sie historisch auf der Seite der „Guten“ oder auf derjenigen der „Bösen“ gestanden sind.*11 Pro Vernunft: gut, gegen Vernunft: böse. So kommt ein Rechtfertiger des preußischen Staates als höchstem Ausdruck der „objektiven Idee“, wie es Hegel war, zu der Ehre, zu einem Vorläufer proletarischer Anliegen zu werden. Aber auch vor ihm ist es schon heiß hergegangen und „Materialismus“ und „Idealismus“ lieferten sich „Feldschlachten“:

 

3.3. Tendenz und Tradition

„Der philosophische Hauptkampf auch dieser Periode“ (17.& 18. Jhd.) „ist der zwischen Materialismus und Idealismus. Nachdem der Materialismus (zuweilen in mystisch-religiösen Formen) sich bereits im Mittelalter vorzubereiten beginnt, liefert er dem Idealismus die erste große offene Feldschlacht in den Diskussionen über die Meditationen von Descartes, wo seine damals bedeutendsten Repräsentanten, Gassendi und Hobbes, gegen Descartes auftraten. Daß Spinoza eine weitere Verstärkung dieser Tendenzen bedeutet, bedarf keiner näheren Analyse.“(24)

Da nach dieser „Analyse“ schon die christliche Religion Vertreter des „Materialismus“ stellte und somit das Proletariat sich bereits weltanschaulich meldete, kann es getrost auf eine gewaltige Tradition zurückblicken und braucht sich vor keinem Irrationalisten zu verstecken. Auch diese sind nämlich, weit ausgeprägter noch als die „alten“ Idealisten, gegen den Materialismus:

„Der andere wichtige Gesichtspunkt ist der, daß bei Jacobi das »unmittelbare Wissen« nicht nur als Rettung vor den atheistischen Konsequenzen der großen Denker des 17. und 18. Jahrhunderts auftaucht, sondern im engen Zusammenhang damit als Abwehr gegen den Materialismus. ...()... Jacobi sagt in diesem Gespräch zur Kennzeichnung des Materialismus: ,Das Denken ist nicht die Quelle der Substanz, sondern die Substanz ist die Quelle des Denkens. Also muß vor dem Denken etwas Nichtdenkendes als das Erste angenommen werden ...“(25)

Die Beweisführung von Lukács ist eigenartig – aus obigem Zitat geht nicht hervor, warum Jacobi gerade als Bekämpfer dessen, was laut Lukács der Materialismus ist, angesehen werden soll. Man kann dem Zitat lediglich entnehmen, daß er sich mit dem sehr wichtigen! Problem! von Substanz und Denken auseinandergesetzt hat.
Daran will Lukács jedoch einen Beweis für seinen Gedanken der „Tendenz“ führen. Diese Tendenz weist er in einem zirkulären Verfahren nach: Er deutet auf diverse bekannte oder weniger bekannte Philosophen, d.h., er erwähnt ihre Namen, und schreibt: an ihnen allen zeigt sich entweder die Tendenz zum Irrationalismus oder die Tendenz zum Materialismus bzw. zur Dialektik. Sie sollen zwar beweisen, daß sein „Tendenz“-Gedanke Richtigkeit hat, können aber nur jemand überzeugen, der diesen Tendenz-Gedanken bereits, bevor er das Buch zur Hand nimmt, teilt. Denn selbst, wenn man alle Werke aller jener Philosophen und Denker, die allein auf den 26 Seiten des Vorworts erwähnt werden – es sind, nebenbei bemerkt, über 70 – lesen und durcharbeiten würde*12 – eine Arbeit mehrerer Menschenleben –, so wäre damit überhaupt nicht bewiesen, daß diese Tendenz existiert.

Sie läßt sich gar nicht durch Fakten beweisen.

Für diesen Schluß – daß sich in den philosophischen Werken eine Tendenz äußert – ist die Annahme einer geistesgeschichtlichen Eigendynamik nötig, die bereits vor und unabhängig von den einzelnen Philosophen wirkt und als deren Ausdruck man die geistigen Produkte einiger Jahrhunderte ansieht.
„Tendenz“ steht also für die Annahme einer leeren Notwendigkeit: Es gibt sie, man kann sich ihr nicht entziehen und das Element der Freiheit besteht im Lukács’schen Denken eben darin, daß er zwei oder mehr Tendenzen annimmt und dann fordert, sich für die eine zu entscheiden. Dieses Aufspüren von Tendenzen, denen man stattgeben oder gegen die man sich stellen soll – der Zeitgeist-Gedanke, der auch bei Nietzsche aufgetreten ist –, ist eine im Grunde sehr revolutionsfeindliche Annahme, abgesehen von ihrer inneren Widersprüchlichkeit: Wenn der Gang der Geschichte nicht von Individuen oder Klassen bestimmt wird, sondern unabhängig davon Eigengesetzlichkeiten folgt, denen sie nur gehorchen können, so ist einerseits die Notwendigkeit revolutionären Handelns bestritten: denn die Geschichte läuft sowieso hinter dem Rücken der Massen ab. Zweitens aber ist jedem politischen Opportunismus Tür und Tor geöffnet, und jedes Sich-Arrangieren mit den Repräsentanten der anderen Klasse kann mit dem Verweis auf „die Entwicklung“, die Gegnerschaft derzeit nicht zuläßt, begründet werden. Die Geschichte der Arbeiterbewegung bietet genügend Anschauungsmaterial für diese opportunistische Praxis.
Wenn das, was er an weltanschaulicher Ahnenforschung betreibt, auf der Seite der Gegner genauso gemacht wird, findet Lukács häßliche Worte für dieses Vorgehen:

„Der Irrationalismus unserer Zeit ist verständlicherweise stark damit beschäftigt, Ahnen zu suchen. Da er die Geschichte der Philosophie auf einen ,ewigen’ Kampf zwischen Rationalismus und Irrationalismus zurückführen will, entsteht für ihn die Notwendigkeit, im Orient, in der Antike, im Mittelalter usw. irrationalistische Weltanschauungen nachzuweisen. Es lohnt sich nicht, alle – mitunter grotesken – Formen dieser willkürlichen Entstellung der Geschichte der Philosophie aufzuzählen; wir werden ja z.B. bei der Behandlung der Neuhegelianer sogar Hegel als den größten Irrationalisten wiederfinden. So entsteht ein prinzipienloses eklektisches Durcheinander, ein völlig willkürliches Herausgreifen von berühmten oder weniger berühmten Namen, ohne bestimmte Kriterien für die Auswahl.“(26)

Es entsteht beinahe der Eindruck, als beschriebe Lukács hier seine eigene Vorgangsweise. Daß er solches Treiben „verständlich“ findet, liegt daran, daß er die Sache genauso betreibt: Auch er bestimmt den Klassenkampf als eine traditionsreiche Auseinandersetzung philosophischer Schulen, um auf die Wichtigkeit des Klassenkampfes zu pochen. Die Vorstellung, daß eine lange Geschichte jeden Gegenstand adelt und ihm besonderes Gewicht verleiht, ist ihm genauso geläufig wie jedem bürgerlichen Geschichtswissenschaftler. Die Ideologie der „Tradition“ ist allerdings nichts anderes, als die Durchsetzung einer bestimmten Sache, eines Staates, eines Wirtschaftssystems, einer Religion, in diesem Fall einer bestimmten philosophischen „Richtung“, zu feiern. Daß es diese Sache gibt und daß sie sich einer gewissen Geltung erfreut, soll mit einer höheren Weihe versehen werden: Schon lange kündigte sie sich an und war letztlich nicht aufzuhalten!
Der Verweis auf Tradition ist daher immer ein Mittel der konservativen Mitbürger, der Bewahrenden, die am Bestehenden festhalten wollen. Wenn jemand mit „Tradition“ für Veränderung werben will wie Lukács, so ist das immer ein in sich widersprüchliches Unterfangen. Der Gedankengang ist dabei der, daß etwas, was angeblich schon so lange auf Verwirklichung wartet, doch auch seine historische Berechtigung haben muß, und diese Sichtweise macht sich genausolange lächerlich, als sie erfolglos ist. Denn auch bei dieser Ideologie von Tradition – genauso wie bei den meisten anderen bürgerlichen Ideologien – wird die Berechtigung ja gerade über den Erfolg erwiesen und nicht über die lange Geschichte. Umgekehrt: Kann eine Partei, die zum Sturz der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse angetreten ist, einen Erfolg vorweisen, so gewinnt diese Berufung auf die Tradition auch bei den bürgerlichen Denkern an Plausibilität. Wer auf die Anerkennung solcher Leute Wert legt, und zwar nach ihren eigenen Maßstäben, hat allerdings von dem, was Marx für den Klassenkampf und gegen die Philosophie vorzubringen hatte, nicht viel verstanden.*13

 

3. 4. Nietzsche: Irrationalist und Gegner des Sozialismus

Gegen das, was Lukács über die Wichtigkeit einer immanenten Kritik eines philosophischen Systems schreibt, also einer Kritik, die ohne Voraussetzungen auskommt und beim Leser nichts anderes unterstellt als ein Interesse an Erkenntnis des Gegenstandes, ist nichts einzuwenden:

„Die Ablehnung der immanenten Kritik als Moment einer Gesamtdarstellung, … () … muß notwendig zu einem Sektierertum in der Philosophie führen: zu einer Auffassung, als ob alles, was für einen bewußten Marxisten-Leninisten sich von selbst versteht, auch für seine Leser ohne Beweis einleuchtend wäre. Was Lenin über das politische Verhalten der Kommunisten gesagt hat: »Aber es kommt gerade darauf an, daß man das, was für uns überlebt ist, nicht als überlebt für die Klasse, als überlebt für die Massen ansieht«, gilt vollinhaltlich auch für die marxistische Darstellung der Philosophie.“ (28)

Es ist nun zu untersuchen, ob er sich bei der Behandlung der Philosophie Nietzsches auch an diesen selbst gesetzten Maßstab hält.
Seine Kritik an Nietzsche gliedert Lukács in 6 Abschnitte, in denen folgende Thesen belegt werden sollen:
1. Jede Philosophie ist Ausdruck von Klassenkämpfen, daher auch diejenige Nietzsches
2. Seine Ethik ist die der herrschenden Klasse, daher bekämpft er den Sozialismus
3. Dies ist in solchem Maße sein Hauptanliegen, daß alle andere Kritik diesem Gesichtspunkt unterzuordnen ist. Daraus folgt:
3.1. Nietzsches Verhältnis zu Bismarck und zum Deutschen Reich ist geprägt von seiner Gegnerschaft gegenüber dem Sozialismus
3.2. Wo er das Christentum bekämpft, bekämpft er in Wirklichkeit den Sozialismus
3.3. Auch seine Vorstellung vom Kampf ums Dasein ist eine mystische Interpretation des Klassenkampfes
3.4. Er will aus seiner Erkenntnistheorie die „Ewigkeit“ der kapitalistischen Gesellschaft ableiten
Zunächst ist zu diesen Thesen zu sagen, daß die Philosophie ihre ideologische Wirkung dadurch hat, daß sie keine Klassen kennt.*14 Indem in der Philosophie immer von „der Menschheit“, „den Menschen“, „uns“ usw. die Rede ist, wird von allen vorgefundenen ökonomischen und staatlichen Gegensätzen ja gerade abgesehen – die Philosophie nimmt solches gar nicht zur Kenntnis. Die tatsächlichen Auseinandersetzungen, Kriege, Revolutionen, Morde und Eigentumsdelikte kommen dann nur mehr in notwendig mythisch verwandelter Form als natürliche, rassische oder von der geschichtlichen Vorsehung bewerkstelligte Ereignisse vor, und das ist keineswegs eine besondere Eigenart Nietzsches. (vgl. z.B. Hegels Ausführungen über Völker und Rassen im 3. Band der Enzyklopädie, oder diejenigen Kants in den anthropologischen Schriften: Dort werden die Ergebnisse des imperialistischen Treibens der Großmächte als Naturbestimmungen der unterworfenen Völker abgehandelt.)
Deswegen sieht auch Nietzsche z.B. die Französische Revolution als Ausdruck seines „ewigen“ Kampfes von Herren- und Sklavenmoral. Es gibt auch durchaus keinen Grund, warum Philosophen diese widerstreitenden Prinzipien, die sie für das eigentlich Weltbewegende halten, nur an Klassenkämpfen entdecken sollten. Auch hierfür ist Nietzsche ein gutes Beispiel: Er bezeichnet Sozialisten und Anarchisten, Christen, Engländer und Moralphilosophen, Rousseau wie Dühring als Vertreter der Sklavenmoral, – kurz, „eine Nacht, in der alle Kühe schwarz sind.“(29)
Die Beweisführung von Lukács in Punkt 1 bedient sich der gleichen Methode wie Nietzsche bei seiner Herleitung des deutschen Geistes aus den schweren Mehlspeisen: Er deutet auf die Gleichzeitigkeit von Revolutionen und philosophischen Systemen und schreibt: Das kann kein Zufall sein! Mit dieser „Beweisführung“ kann er aber nur diejenigen „überzeugen“, die schon vorher seiner Ansicht waren. Ein Beispiel:

„… seine“ (Nietzsches) „Hoffnungen, hier“ (in seinem Begriff von »Demokratie«) „das Heilmittel gegen den Sozialismus gefunden zu haben, hängen also aufs engste – gleichgültig, wie weit dies Nietzsche bewußt geworden ist – mit der Bismarck’schen Politik zusammen. Man kann es unmöglich als einen reinen Zufall ansehen, daß das erste Werk dieser Periode Nietzsches,“ (in der er noch auf Bismarck setzt) „»Menschliches, Allzumenschliches«, ungefähr ein halbes Jahr vor der Verkündigung des Sozialistengesetzes erschien.“ (30)

Was möchte Lukács damit sagen? Daß Bismarck „Menschliches, Allzumenschliches“ gelesen hat und daraufhin das Sozialistengesetz erlassen hat?
Das wohl nicht, er will nur wieder einmal einen Zusammenhang festgehalten haben, den er außer mit dem Verweis auf die Zeitspanne nicht begründen kann. Er wußte nämlich genau, daß das Erscheinungsjahr dieses Buches kein Zufall, sondern Absicht war: „Freilich erschien es ebenfalls zum hundertsten Todestag Voltaires“(31), dem das Buch auch gewidmet ist. Also: während Nietzsche sich als Schüler Voltaires fühlte und durch das Veröffentlichungsjahr dieser Tatsache Rechnung tragen wollte, hat Lukács entdeckt, daß er un- oder unterbewußt damit die Verfolgung der Sozialisten in die Wege leiten wollte.

Immanente Kritik?

Außerdem erklärt sich bei dieser Herleitung philosophischer Systeme aus den jeweiligen politischen Ereignissen nicht, warum z.B. Hegel und Schopenhauer zur gleichen Zeit so verschiedene Lehren entwickelt haben, bzw. wie schon bei der Frage der Widerspiegelung, warum es überhaupt verschiedene Sichtweisen der gleichen historischen Ereignisse gibt.
Letztlich glaubt Lukács auch nicht wirklich an seine These, daß man die philosophischen Ideale immer als Ausdruck ökonomischer Interessen betrachten muß:

„… man findet, was noch ärger ist, im Mittelpunkt des Systems“ (von Nietzsche) „ein reaktionär willkürliches Leugnen von Tendenzen, die seit undenkbaren Zeiten die wesentlich bewegenden Kräfte der Menschheitsentwicklung waren und sind. So die letzthinnige Gleichheit der Menschen, die mit den Stoikern, mit der urchristlichen Gleichheit aller Seelen vor Gott ihren Anfang nimmt, die mit der großen französischen Revolution zur – freilich bloß formalen – Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz gesteigert wurde, um deren Weiterführung in Tiefe und Breite das Zeitalter Nietzsches zu ringen begann.“ (32)

Daß Nietzsche etwas „reaktionär“ und „willkürlich“ leugnet, was ins Lukács’sche Weltbild gehört, bestimmte „Tendenzen“ nämlich, kann man ihm kaum vorwerfen. Er konnte diese Tendenzen einfach nicht kennen, weil er die Schriften von Lukács nicht kannte. Es ist übrigens unrichtig, daß er die Vorstellung der Gleichheit geleugnet hätte: Er hat sie bekämpft, gerade weil er um sie wußte. Hätte er sie geleugnet, also ihre Existenz bestritten, so hätte er nicht gegen sie polemisiert.
Interessanter am obigen Zitat ist allerdings der Umstand, daß Lukács selber so fein auseinanderzudividieren weiß zwischen bürgerlichen Idealen, die der „Ethik der herrschenden Klasse“ angehören und solchen, die „die wesentlich bewegenden Kräfte der Menschheitsentwicklung waren und sind“. Es scheint eher so zu sein, daß Lukács hier sehr willkürlich eine Scheidung in „reaktionäres“ und „progressives“ Gedankengut vornimmt, die vom politischen und ökonomischen Hintergrund gewisser Ideale nichts wissen will. Warum z.B. die führenden Köpfe der französischen Revolution die Gleichheit nicht nur auf ihre Fahnen geschrieben, sondern auch praktisch-politisch eingerichtet haben, interessiert ihn nicht. Er definiert, daß diese Menschen jenseits ihrer Klasseninteressen Vollstrecker welthistorischer Aufgaben waren und daß ihre Klasseninteressen sie dabei behindert haben, sodaß die Gleichheit „bloß formal“ eingerichtet wurde.
Zusätzlich erscheinen ihm sogar die Stoiker als Vorläufer staatsbürgerlichen Denkens, eine Sichtweise, die er nicht aus ihren Schriften heraus-, sondern in sie hineingelesen hat. (Übrigens gibt Lukács in diesem Zitat Nietzsche, der im Christentum den Triumph der Sklavenmoral und in der französischen Revolution eine Neuauflage dieses Triumphes sah, eher recht, als daß er ihn widerlegen würde. Die beiden unterscheiden sich lediglich in der Bewertung dieser „Tendenz“.)

Was die zweite These von Lukács betrifft, verhält es sich ähnlich wie bei der ersten.
Das Aufstellen von ethischen Normen dient der herrschenden Klasse oder überhaupt der politischen Herrschaft eines Landes dadurch, daß bei dieser Aufstellung die tatsächlichen Gewalt- und Rechtsverhältnisse überhaupt nicht auf ihren Gehalt untersucht werden, sondern unabhängig davon allgemeingültige Regeln „des Zusammenlebens“ gesucht werden, die dann ihren Ausdruck im geltenden Recht finden sollen. Damit ist die Rechtsordnung aus dem vermeintlichen „Interesse aller“ abgeleitet und die Gegensätze, die zwischen den einzelnen Privatsubjekten bestehen, sind in Zufälligkeiten oder moralische Mängel aufgelöst.
Inwiefern die Vorstellungen Nietzsches typisch bürgerliche Sichtweisen enthalten, wurde schon früher ausdrücklich behandelt. Wichtig ist hier nur die Frage, warum Lukács ausgerechnet Nietzsche auf diesen Dienst an der herrschenden Klasse (– den jede Moralphilosophie leistet,) festlegen will, während andere Philosophen von ihm als Vorläufer von sozialistischem Humanismus behandelt werden. Es handelt sich hier nämlich um einen Schuldspruch, er verurteilt ihn mit dieser Zuweisung als Philosophen, der angeblich die falsche Partei ergriffen hat, und der Nachweis für diesen Urteilsspruch bedient sich daher auch nicht des Mittels der Kritik, sondern der Denunziation:

„… mit der von uns skizzierten Ethik Nietzsches befindet sich die politische Praxis des Papstes, des Kardinals Spellmann usw. in voller Übereinstimmung …“ (33)

„Nietzsche ist hier nicht nur, wie in seiner Ethik, ein »Prophet« der imperialistischen Barbarei, sondern darüber hinaus sucht er nach jenen Herrschaftsformen neuen Typs, die den Aufstieg des Proletariats verhindern könnten. …()… (Man sieht hier, daß Nietzsche eben nicht nur den Imperialismus, sondern mit ihm auch den Faschismus gedanklich vorweggenommen hat; natürlich konnte dies unmöglich in einer auch nur relativ konkreten Form geschehen, sondern nur in mythischer Allgemeinheit.)“ (34)

Lukács sucht also mit beinahe geheimdienstmäßiger Akribie in Nietzsches Werk nach all denjenigen Stellen, wo von „Barbarei“, „Herren- und Sklavenmoral“, „Kampf“, „Unterwerfung“, „Herrschaft“ usw. die Rede ist und deutet dann darauf: Da sieht man doch, was das für einer war! Ihm fällt selbstverständlich auf, daß dergleichen philosophische Überlegungen wie diejenigen Nietzsches für jede konkrete politische Anwendung völlig ungeeignet sind. Aber dieser Umstand bereitet ihm bei seinen Nachweisen gar keine Schwierigkeiten: Er behauptet einfach, Nietzsche hätte sich hier sozusagen eines Geheimcodes bedient, den die Faschisten richtig entschlüsselt haben. (Lukács selber knackt natürlich diesen Code auch. Ihm kann man nichts vormachen.)

Dieses Verfahren von Lukács ist genauso zirkulär wie sein Beweis der „Tendenzen“, von denen die Philosophiegeschichte angeblich geprägt ist. Man muß vor seiner ganzen „Beweisführung“ bereits seine Maßstäbe der Verurteilung teilen, um aus dergleichen „Indizien“ heraus einen Schuldspruch zu fällen. Auch das ist keine immanente Kritik.
Daß Nietzsche „eigentlich“ ständig und an allen Fronten den Sozialismus bekämpfen wollte, auch wenn er es gar nicht wußte und erst Lukács diesen Tatbestand entdeckt hat, ist somit zu einer fixen Idee geworden, die bei den folgenden Punkten für Lukács erkenntnisleitend wird. So zitiert er z.B. zwei Stellen aus dem „Antichrist“ als Beleg dafür, daß Nietzsches Kampf gegen das Christentum in Wirklichkeit eine getarnte Bekämpfung des Sozialismus war:

„»Und unterschätzen wir das Verhängnis nicht, das vom Christentum aus sich bis in die Politik eingeschlichen hat! Niemand hat heute mehr Mut zu Sonderrechten, zu Herrschaftsrechten, zu einem Ehrfurchtsgefühl vor sich und seinesgleichen, – zu einem Pathos der Distanz … Unsre Politik ist krank an diesem Mangel an Mut! Der Aristokratismus der Gesinnung wurde durch die Seelen-Gleichheits-Lüge am unterirdischsten untergraben; und wenn der Glaube an das »Vorrecht der Meisten« Revolutionen macht und machen wird, – das Christentum ist es, man zweifle nicht daran, christliche Werturteile sind es, welche jede Revolution bloß in Blut und Verbrechen übersetzt! Das Christentum ist ein Aufstand alles Am-Boden-Kriechenden gegen das, was Höhe hat: Das Evangelium der »Niedrigen« macht niedrig …« Und gewissermaßen als historisch-typologische Ergänzung zu dieser Stellungnahme fügt er etwas später hinzu: »Die pathologische Bedingtheit seiner Optik macht aus dem Überzeugten den Fanatiker – Savonarola, Luther, Rousseau, Robespierre, Saint-Simon –, den Gegensatz-Typus des starken, des freigewordenen Geistes. Aber die große Attitüde dieser kranken Geister, dieser Epileptiker des Begriffs, wirkt auf die große Masse, – die Fanatiker sind pittoresk, die Menschheit sieht Gebärden lieber, als daß sie Gründe hört …«“ (Zitate aus dem Antichrist, S 218 & 237) „Der Grundgedanke ist klar: aus dem Christentum entsteht die französische Revolution, aus dieser die Demokratie, aus dieser der Sozialismus. Wenn also Nietzsche als Antichrist auftritt, will er in Wahrheit den Sozialismus vernichten.“ (35)

Auch dieser Nachweis von Lukács beruht auf der Voraussetzung des geteilten Urteils: Man kann mit genauso guten Gründen den Zitaten entnehmen, daß Nietzsche den Sozialismus bekämpfte, weil er in ihm eine Fortsetzung christlicher Praktiken erblickte, also ein Bild von Sozialismus hatte, nach dem er ihm tatsächlich als diese Fortsetzung erscheinen mußte. (Und für diese These spricht einiges: Seine Vorstellung von Sozialismus war über die Schriften von Leuten wie Dühring, J.S. Mill, Saint-Simon vermittelt, denen ein gewisse Nähe zu christlich-moralisierender Betrachtungsweise nicht abgesprochen werden kann – eine Tatsache, die teilweise auch schon Marx und Engels festgestellt hatten.)
Das heißt jetzt nicht, daß die Gegnerschaft Nietzsches zum Sozialismus lediglich auf einem Irrtum beruhte und er ansonsten ein glühender Verehrer dieser politischen Richtung geworden wäre: Diese Gegnerschaft ergibt sich, wie auch diejenige gegenüber dem Christentum, aus seinem Menschenbild und seinem Konzept von Herren- und Sklavenmoral. Aber da Lukács ihn als reaktionären Philosophen abstempeln möchte, bemüht er sich um den Nachweis, daß er in Wirklichkeit nur gegen den Sozialismus war und seinen Kampf gegen das Christentum nur zu Verdunkelungszwecken betrieben hat. Denn Lukács weiß, was Philosophen im Innersten bewegt:

„Instinktiv wissen die Philosophen, was sie zu verteidigen haben und wo der Feind steht. Instinktiv fühlen sie die »gefährlichen« Tendenzen der Zeit und versuchen, diese philosophisch zu bekämpfen.“ (36)

Eigentlich sind solche Philosophen für Lukács nicht nur keine wirklichen Philosophen, sondern auch keine richtigen Menschen, denn

„seit wir literarische Dokumente besitzen, sehen wir, schon bei Homer, daß das Menschsein der Menschen wesentlich auf Instinkt-Beherrschung beruht.“ (37)

Wo Lukács Nietzsches Verhältnis zu Bismarck, seinen Begriff von „Natur“ und seine erkenntnistheoretischen Ausführungen untersucht, geht er ähnlich vor, deswegen werden diese Punkte hier nicht gesondert ausgeführt.

 

Zusammenfassung der Nietzsche-Kritik von Lukács

Es gibt mehrere Stellen in diesem Abschnitt, in dem Lukács Nietzsche behandelt, die man für eine Selbstwiderlegung aller vorhergegangenen Behauptungen halten könnte:

„Seine Philosophie mißt sich an einem ihr – auch auf dem Gebiet der philosophischen Theorie – völlig unbekannten Gegner: mit der Weltanschauung und wissenschaftlichen Methode des Sozialismus; Nietzsche hat keine Ahnung von den philosophischen Problemen des dialektischen und historischen Materialismus. …()… Die Erkenntnistheorie ist für ihn nur ein Instrument, dessen Art und Beschaffenheit von den Zielen, denen es dient, bestimmt wird.“ (38)

Nietzsche bekämpft also laut Lukács etwas, das er gar nicht kennt und sucht sich gemäß diesem Zweck seine Mittel aus. Wer seine Kritik so betreibt, daß er anhand der Äußerungen eines Menschen über die Kräfte redet, die sich angeblich dahinter verbergen sollen; wer wie Lukács sich von dem, was er an Verstandesleistungen behandelt, insofern emanzipiert, als er von dort ständig aufs Unter- oder Unbewußte schließt, geht nach der Methode des Vor-Urteils vor. Er ist genauso wie der, den er wegen seiner „mythischen“ Gedankenwelt angreift, auf einen Begriff wie den des Instinktes verwiesen – eine außerhalb des Bewußtseins liegende Ursache für die Akte des Bewußtseins selbst.

Lukács entwirft genauso wie Nietzsche die Vorstellung einer selbsttätigen historischen Entwicklung, die die Handlungen der Staatsmänner und der Untertanen gleichermaßen bestimmt. Nietzsches Bild für diese Entwicklung ist der „Kreislauf“, Lukács vertritt die Vorstellung des „Fortschritts“. Bei beiden ist dieses Bild Ausdruck der Hoffnung, daß ihre ethischen Entwürfe einmal verwirklicht werden können. Er weiß daher Nietzsches Wiederkunfts-Gedanken nicht anders zu kritisieren, als daß er ihm vorwirft, den „Fortschritt“ zu leugnen. Eine Kritik aber, deren Inhalt nichts anderes ist als eine Feststellung der Differenz zwischen dem eigenen und einem anderen Weltbild, verharrt in der Sphäre der Subjektivität: Sie ist nicht immanent.

Nietzsche benennt seine Gegner, oder, modern gesagt: Er führt in seinen Schriften sein Feindbild aus. Er spricht von den verächtlichen Menschen, den „gemeinen Naturen“: Weiber, Kühe und andere Demokraten. Auch Lukács hat seine „Untermenschen“:

„Die »Herren der Erde« sind natürlich die dekadenten Parasiten des Imperialismus.“ (39)

„Und der »positive« Teil der Nietzscheschen Mythen ist nichts weiter als das Mobilisieren aller dekadenten und barbarischen Instinkte im kapitalistisch verdorbenen Menschen zur gewaltsamen Rettung dieses Paradieses des Parasitentums; auch hier ist die Nietzschesche Philosophie der imperialistische Gegenmythos gegen den sozialistischen Humanismus.“ (40)
Lukács kann befriedigt sein: Er hat die verdorbenen Gesellen, die Mißbrauch mit der Philosophie getrieben haben, dingfest gemacht, an den Pranger gestellt und schuldig gesprochen – unter ihnen Nietzsche:

„Ich glaube aber auch heute, daß Nietzsche, bei all seiner geistreichen Aphoristik, im eigentlichen Sinne des Wortes kein Philosoph gewesen ist. Natürlich kann man in seinen Werken einen gedanklichen Zusammenhang aufzeigen, wie ich das selbst in meinen Darlegungen tue. Damit ist aber noch keine Philosophie entstanden….“ (41)

Damit hat Lukács seinen Zweck, den er mit diesem Werk verfolgt hat, erreicht: Er hat zwar die Parteilichkeit bürgerlicher Ideologie nicht erklärt, aber er hat die Philosophie von ihr reingewaschen: Er hat sie für den Sozialismus gerettet.

 

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*1 Elisabeth Foerster-Nietzsche betreute ihren Bruder während der letzten Jahre seines Lebens, im Zustand der geistigen Umnachtung. Damals bereits benützte sie ihn zur Inszenierung deutschnationaler Veranstaltungen. Sie gab nach dem Tod ihres Bruders mit dessen Freund und Mitarbeiter Peter Gast (wirklicher Name Heinrich Köselitz) aus Nietzsches handschriftlichen Aufzeichnungen, unter Zuhilfenahme seiner publizierten Schriften die tendenziöse Schrift „Der Wille zur Macht“, als angebliche Fortsetzung des „Antichrist“ heraus.
            In dem von ihr eingerichteten „Nietzsche-Archiv“ empfing sie Mussolini, den sie sehr bewunderte. Sie bekannte sich zur Ideologie des Nationalsozialismus und erhielt von der Partei Unterstützung zur Aufrechterhaltung des Archivs. Die Vereinnahmung Nietzsches durch die Nationalsozialisten geht auf ihre Bemühungen, ihn zu einem Ideologen des Deutschnationalismus zu machen, zurück.
            Erst der Zusammenarbeit der DDR-Behörden (Weimar und das Nietzsche-Archiv befanden sich auf dem Territorium der DDR) mit den italienischen Nietzsche-Forschern Giorgio Colli und Mazzino Montinari ist es zu verdanken, daß in den 80-er Jahren eine Kritische Studienausgabe der Nietzsche-Schriften zustandekam, in der erstmals die Manuskripte Nietzsches vollständig, in chronologischer Form, und ohne politisch-weltanschauliche Vereinnahmung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.

*2 Als Ausnahmen möchte ich erwähnen: Den Aufsatz von R. Wisser in Nietzsche-Studien, Bd. 1, der sich in einer Art mit dem Zusammenhang von Nietzsches Stellung zu Schuld und Unschuld und dem „Willen zur Macht“ befaßt, die meinem Verständnis von Wissenschaftlichkeit in Ansätzen entspricht; ebenfalls in Nietzsche-Studien, Bd. 3, ein Aufsatz von K. Brose, der sich mit Nietzsche und seiner Beschäftigung mit dem Sozialismus, im besonderen mit J.S. Mill auseinandersetzt.

*3 Eine besonders unappetitliche Abteilung dieser Strömung „Nietzsche ganz privat“ befaßt sich damit, seine Werke unter dem Aspekt des bevorstehenden Wahnsinns zu untersuchen – jede Hofnarren-Metapher, jeder Hinweis auf Visionen, und besonders die Wertschätzung des Ungewöhnlichen, des Abnormen dient solchen feinen Menschenkennern zum Beweis dafür, daß man sich dem interessanten, aber doch nicht ganz ernstzunehmenden Werk eines Verrückten gegenübersieht.

*4 Für Nietzsche bedeutet diese Lehre nichts anderes als das „Prinzip Hoffnung“. Was das Individuum und sein Leben und Sterben angeht, so hat er ihm damit eine Unsterblichkeits-Hoffnung gegeben, die nicht „jenseitig“, sondern „diesseitig“ ist, ein Jenseits im Diesseits sozusagen. Damit hat er wieder dem Christentum ein Stück Heilslehre unter dem Gesäß weggezogen und mit einem „vornehmeren“ Inhalt versehen, wie er ihn bei der Religion des Buddhismus bereits bewundert hat.
            Auch was die Menschheits-Entwicklung angeht, kann er hoffen: Nachdem die Antike schon seine Merkmale von aristokratischer Moral und „richtigen“ Rangordnungen aufweist, kann der historische Betriebsunfall, den das Christentum darstellt, nicht ewig währen und die gute alte Zeit muß irgendwann einmal wiederkehren, sodaß sich die „Umwertung aller Werte“ auch irgendwann in ferner Zukunft ganz selbsttätig vollziehen muß.

     Und jemand, der sich so um das Prinzip Hoffnung bemüht, wird als Prophet oder Vertreter des Nihilismus bezeichnet!

*5 Hegel und auch Lukács wenden sich hier gegen Friedrich Heinrich Jacobi (1743 -1819), Philosoph und Gegner Kants.

*6 Lukács gibt aber noch einen anderen Hinweis, wo Hegel sich schon mit „dem Problem der Beziehung von Dialektik und Irrationalismus“ auseinandergesetzt haben soll:

            „Es ist vielleicht ein Zufall, aber ein bezeichnender, daß seine prinzipielle Auseinandersetzung mit diesem Thema gerade bei Geometrie und Mathematik einsetzt. Jedenfalls handelt es sich in diesem Zusammenhang bei ihm um die Grenzen der Verstandesbedingungen, um das Weiter- und Höhertreiben der Dialektik zur Vernunft. Hegel sagt über die Geometrie: »Sie stößt jedoch in ihrem Gange, was sehr bemerkenswert ist, zuletzt auf Inkommensurabilitäten und Irrationalitäten, wo sie, wenn sie im Bestimmen weitergehen will, über das verständige Prinzip hinausgetrieben wird. Auch hier tritt, wie sonst häufig an der Terminologie die Verkehrung ein, daß, was rational genannt wird, das Verständige, was aber irrational, vielmehr ein Beginn und Spur der Vernünftigkeit ist.« (Zitat aus der Enzyklopädie I, § 231)“ 8

            Die Bemerkung von Lukács, daß etwas „vielleicht ein Zufall“ sei, weist darauf hin, daß er einen Zusammenhang zwischen dieser Stelle und Thematik und den Ausführungen Hegels über das „unmittelbare Wissen“ herstellen will, ohne jedoch imstande zu sein, diesen Zusammenhang zu begründen. Es ist nämlich nicht festzustellen, worin er bestehen sollte. Es wäre vielleicht der Mühe wert, zu untersuchen, worauf die Trennung Hegels zwischen Verstand und Vernunft beruht, ob sie tatsächlich psychologische Grundlagen hat oder ob sie einzig auf seinen Gottesgesichtspunkt zurückzuführen ist, wonach das verständige Denken im Bereich der bloß „endlichen Zwecke“ verweilt, während die Vernunft imstande ist, das „Höhere“ zu „erkennen“. Ebenso wäre es interessant, nachzuforschen, warum Lukács diese Trennung übernimmt und das Stehenbleiben in „bloß verstandesmäßigen“ Kategorien als Merkmal des „Irrationalismus“ dingfest macht. Beides geht aber über den Rahmen dieser Arbeit hinaus.

*7 Es ist die Kantianische Trennung und nicht Hegels Denkbestimmungen, die Lukács hier zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht. Die Leistung dieser Trennung besteht darin, sich ein Denken vor jedem Denken, Gedanken ohne Inhalt vorzustellen, und gleichzeitig eine gegenständliche Welt vor jeglicher Wahrnehmung, eine Welt, von der man nichts weiß, die der Dinge-an-sich. Dagegen nochmals Hegel:

            „In jedem dualistischen System, insbesondere aber im Kantischen, gibt sich sein Grundmangel durch die Inkonsequenz, das zu vereinen, was einen Augenblick vorher als selbständig, somit als unvereinbar erklärt worden ist, zu erkennen. Wie soeben das Vereinte für das Wahrhafte erklärt worden ist, so wird sogleich vielmehr für das Wahrhafte erklärt, daß die beiden Momente, denen in der Vereinung als ihrer Wahrheit das Fürsichbestehen abgesprochen worden ist, nur so, wie sie getrennte sind, Wahrheit und Wirklichkeit haben. Es fehlt bei solchem Philosophieren das einfache Bewußtsein, daß mit diesem Herüber- und Hinübergehen selbst jede dieser einzelnen Bestimmungen für unbefriedigend erklärt wird, und der Mangel besteht in der einfachen Unvermögeheit, zwei Gedanken – und es sind der Form nach nur zwei vorhanden – zusammenzubringen. Es ist darum die größte Inkonsequenz, einerseits zuzugeben, daß der Verstand nur Erscheinungen erkennt, und andererseits dies Erkennen als etwas Absolutes zu behaupten, indem man sagt, das Erkennen könne nicht weiter, dies sei die natürliche, absolute Schranke des menschlichen Wissens. …()… Als Schranke, Mangel wird etwas nur gewußt, ja empfunden, indem man zugleich darüber hinaus ist. …()… Es ist daher nur Bewußtlosigkeit, nicht einzusehen, daß eben die Bezeichnung von etwas als einem Endlichen oder Beschränkten den Beweis von der wirklichen Gegenwart des Unendlichen, Unbeschränkten enthält, daß das Wissen von Grenze nur sein kann, insofern das Unbegrenzte diesseits im Bewußtsein ist.“ 10

*8  Zur genaueren Kenntnis dessen, was Hegel mit „Dialektik“ bezeichnet, sei auf die „Wissenschaft der Logik“ und auf den ersten Band der „Enzyklopädie“ verwiesen, besonders auf den 3. Teil, die sogenannte Begriffslogik. Hegel führt dort aus, wie der denkende Verstand von der bloßen sinnlichen Wahrnehmung zum Begriff des Gegenstandes fortschreitet: Er verbindet im Urteil Subjekt und Prädikat, hält damit alle möglichen Momente des Gegenstandes als die seinigen fest, und verbindet die in 2 Urteilen enthaltenen Erkenntnisse im Schluß. Mit dem, was Lukács mit „Dialektik“ bezeichnet, nämlich ein Erklärungsschema der Welt, hat das wenig zu tun.

*9   In Hegels Abhandlung über die Logik findet sich die Stellung des „unmittelbaren Wissens“ als 3. und letzte Stellung des Gedankens zur Objektivität. Davor, unter „B“, werden von ihm Empirismus und Kritische Philosophie, die Erkenntniskritik Kants, angeführt. Diese Reihenfolge weist auf die Vorarbeit hin, die die „Kritik der Reinen Vernunft“ für die Entwicklung einer Stellung wie der Nietzsches geleistet hat.
            Wenn also Lukács mit der „Zerstörung der Vernunft“ die Zerstörung der Selbstverständlichkeit, die wissenschaftliches Denken bei Leuten wie Kopernikus oder Galilei bedeutet hat, meinen würde, so würde er nicht Nietzsche zu einem Hauptvertreter der von ihm bekämpften Richtung erklären, sondern Kant. Daß er das nicht tut, ist ein Hinweis darauf, daß die Lukács'sche Vernunft etwas anderes sein muß als die unbefangene Stellung, die bei Hegel als erste steht.
            (Hegel, auf dessen Philosophie und Gottesgesichtspunkt hier nicht näher eingegangen werden kann, hat an dieser ersten Stellung selbst eine Kritik gehabt: Mit ihr verbleibe man im Bereich der bloß endlichen Zwecke und erreiche nie die Erkenntnis der strengen Notwendigkeit von allen Dingen:

» … denn was vernünftig ist, das ist wirklich,
und was wirklich ist, das ist vernünftig.« 17)

*10  Es ist hier vielleicht einmal nötig, darauf hinzuweisen, was Klassenkampf ist und was die Menschen der letzten hundert Jahre bewegt hat, Revolutionen zu veranstalten. Klassenkampf heißt zunächst einmal, daß die Eigner des Kapitals, die Unternehmer, bei der Verfolgung ihres Zwecks ein Interesse daran haben, daß die Lohnarbeiter, die ihnen den Mehrwert erwirtschaften, erstens da sind, zweitens willig und drittens billig sind. Sie dürfen also nur so viel verlangen, daß die Profitmacherei nicht durch zu hohe Vorschüsse gefährdet ist. Daß diese Menschen arm, also bar jeder Existenzgrundlage sind und daß sie diese Armut so behandeln, daß sie sich nicht einfach am überreich vorhandenen Warenangebot bedienen, sondern die einzig erlaubte Form des Existierens, nämlich das Lohnarbeiten, wählen, ist nicht ganz selbstverständlich. Dieser Zustand mußte erst gewaltsam hergestellt werden (siehe im 1. Band des „Kapital“ das Kapitel über die „ursprüngliche Akkumulation") und er muß nach wie vor gewaltsam abgesichert werden: Justiz und Exekutive im bürgerlichen Staat dienen zuerst und hauptsächlich dem Schutz des Eigentums.
            Um die schädlichen Wirkungen, die die Lohnarbeit auf Gesundheit und Reproduktionsbedingungen des Arbeiters hat, in Grenzen zu halten, gibt es in kapitalistischen Staaten eine Abteilung „Soziales“, die dafür sorgt, daß Entlassung und Krankheit, sehr übliche Vorkommnisse im Leben eines Lohnarbeiters, nicht gleich zum Tod führen – der Sozialstaat sorgt für den Erhalt der Klasse. Daß das beileibe kein Vergnügen für den einzelnen ist, kann man an jedem Arbeiterhaushalt besichtigen, erst recht an den Existenzbedingungen derer, die aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden sind: Rentner, Sozialhilfeempfänger usw. Zusätzlich gibt es eine Standesvertretung für Lohnarbeiter, eine Gewerkschaft, die mit den Unternehmern gemeinsam die Lohnhöhe aushandelt und damit dafür sorgt, daß alles so weitergeht wie bisher.
            Der Klassenkampf ist somit nicht etwas, was man immer gleich mit Streiks und Revolutionen verbinden muß – er gehört zum normalen kapitalistischen Alltag und wird täglich geführt: Mit jeder neuen Maschine, die mehr unbezahlte Arbeit aus dem Arbeiter herausholt; jeder Preissteigerung, die mit dem gleichen Lohn bewältigt werden muß, jeder Umgruppierung in eine andere, niedrigere Lohnstufe bei gleichbleibender Arbeitsleistung – mit all diesen Dingen zieht die eine Klasse einen größeren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum an sich und verarmt dadurch die andere Klasse.
            Daß in der bürgerlichen Gesellschaft immer erst dann von Klassenkampf die Rede ist, wenn Arbeiter irgendwann und irgendwo auf all das reagieren, liegt daran, daß die Berechtigung des kapitalistischen Umgangs mit dem Lohnarbeiter als Selbstverständlichkeit akzeptiert ist und auch so abgehandelt wird, sodaß mit „Klassenkampf“ immer erst der Versuch, sich dagegen zu wehren, bezeichnet wird.
            Das alles ist überhaupt keine Frage der „Weltanschauung“, sondern die tägliche Realität, mit der die einzelnen Arbeiter konfrontiert sind und bei der es auf ihre Weltanschauung überhaupt nicht ankommt. Die beeinflußt nur ihre Reaktion dahingehend, sich entweder reformistisch mit der Klasse der Kapitalisten zu einigen oder zu versuchen, ihre Interessen gegen die andere Seite durchzusetzen. Die klassische oder sonst irgendeine Philosophie brauchen sie dafür zuallerletzt, eher schon das Aufgeben des Vertrauens in die staatlichen und gewerkschaftlichen Organisationen, die seit Jahrzehnten dafür sorgen, daß die Lohnarbeiter auch welche bleiben.

*11  Was Marx in diesem Zusammenhang betrifft, so sei daran erinnert, daß er ein Kritiker der Philosophie war und sein wollte, auch wenn er mit einzelnen Schriften und Randbemerkungen dem Gerücht Vorschub geleistet haben mag, es wäre ihm bei seiner wissenschaftlichen Forschung um Philosophie gegangen. Mit Marx, dem „Philosophen“, der eben eine andere, wenngleich überholte „Weltanschauung“ eingeführt haben soll, können übrigens bürgerliche Mittelschulen mit ihrem Erziehungsauftrag zum Antikommunismus gut existieren: Er wird in jedem Philosophie-Schulbuch erwähnt.
            Die Lukács'sche Betonung der Bedeutung der Philosophie für den Klassenkampf beruht auf der gleichen Annahme wie die Vorstellung Nietzsches, daß die „Arbeiter-Frage“ erst durch das Gerede bürgerlicher Kreise über sie zu einer Frage geworden sein. Man kann solche Vorstellungen als nichts anderes bezeichnen als eine gewaltige Selbstüberschätzung: Es wird nämlich so getan, als wäre ausgerechnet die Philosophie die wichtigste Wissenschaft im Lande und der gesellschaftliche Ort, wo über das Tun und Treiben der Leute entschieden wird. übersehen wird dabei geflissentlich, daß die meisten Menschen leben und sterben, ohne jemals mit der Philosophie in Berührung gekommen zu sein.

*12 Warnung an alle Revolutionäre: Alle klassenkämpferischen Umtriebe müßten wegen philosophischer Überlastung ungefähr ein Jahrhundert aufgeschoben werden!

*13 Und gerade bei Lukács ist dieser ständige Hinweis auf die ethische, „weltanschauliche“ Überlegenheit des Sozialismus besonders absurd: Schließlich ist die ungarische Räterepublik, an deren Errichtung er beteiligt war, nicht an weltanschaulicher Inkompetenz und philosophischer Unfähigkeit zugrunde gegangen, sondern mit Waffengewalt zur Auflösung gezwungen und dem Terror Horthys und der bürgerlichen Kreise, die ihn unterstützt haben, überantwortet worden. Die Bolschewiki sind nicht deswegen siegreich geblieben, weil sie ihren Hegel und Spinoza so gut studiert hatten, sondern weil sie den weißen Söldnerbanden erfolgreich die Stirn geboten haben. Und auch die kommunistische Partei Ungarns ist nicht deswegen Staatspartei geworden, weil der Historische Materialismus sich als die überlegene Weltanschauung erwiesen hätte, sondern weil Ungarn als Ergebnis eines Weltkrieges dem Einflußbereich der Sowjetunion zugeschlagen worden ist.
            Offenbar ist einem Kommunisten wie Lukács der alte Marx-Spruch, daß „die Gewalt ...()... der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft“27 (ist,) „die mit einer neuen schwanger geht“, nichts Selbstverständliches, und er reiht sich lieber unter diejenigen ein, die Geist und Macht sehr absichtsvoll verwechseln.

*14 An dieser Stelle ein kurzer Hinweis darauf, was die Bestimmung von Klassen ist: „Klasse“ ist ein ökonomischer Begriff und umfaßt diejenige Gruppe von Leuten, die die gleiche Einkommensquelle haben. In einem kapitalistischen Wirtschaftssystem gibt es daher die Klasse der Kapitalisten, also derer, die ihr Einkommen aus der Anwendung fremder Arbeit beziehen, und die Klasse der Lohnarbeiter, die ihr Einkommen aus dem Verkauf ihrer Arbeitskraft an die Kapitalbesitzer beziehen müssen. (Auf die Gruppe der Kleineigentümer, deren Kapitalgröße zur Anwendung fremder Arbeit zu klein ist, und der Arbeitslosen, die keinen Anwender gefunden haben, sind diese Bestimmungen natürlich auch zutreffend: Ihre Stellung verweist auf die Konkurrenz, der die Mitglieder beider Klassen ausgesetzt sind.)
            Auch die feudale Gesellschaft hatte ihre Klassen, die der Landeigner und die Scholle gebundene Bearbeiter des Bodens.

            Der Klassenbegriff, wie er von Lukács und anderen linken Gesellschaftstheoretikern gebraucht wird, hat sich von dieser seiner ursprünglichen Bestimmung längst gelöst: Mit „Arbeiterklasse“ werden die Unterdrückten und Ausgebeuteten, die Opfer der Weltgeschichte bezeichnet und die verhungernden Menschen Afrikas und Lateinamerikas mit den Industriearbeitern Europas unter einen Hut gebracht. „Herrschende Klasse“ ist zu einer abfälligen Bezeichnung für Militärs, Politiker und Unternehmer gleichermaßen gediehen, die auch unterschiedslos auf alle Länder und historischen Epochen angewendet wird. Ist jemand vom Proletariat enttäuscht, weil es die in es gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt, so zweifelt er daran, ob „man noch von einer Arbeiterklasse sprechen kann“. Aufstände in Lateinamerika genauso wie Lohnforderungen der Gewerkschaft gelten als „Klassenkampf“, und überall, wo etwas dem Gerechtigkeitsempfinden eines demokratischen Bürgers widerspricht, ist von einer „Klassengesellschaft“ die Rede. Sogar in der Sowjetunion orteten kritische Linke eine „Klassengesellschaft“, da dort jeder, der irgendwelche Privilegien für sich beanspruchte, auch gleich zu einem Mitglied der herrschenden Klasse erklärt wurde.
            Diese Begriffsverwirrung kommt nicht von ungefähr: Mit diesem „Klassen sind always and everywhere“, wenn sie aus moralischer Motivation gerade gebraucht werden, ist gleichzeitig ihrer Abschaffung eine klare Absage erteilt: Wenn die Welt ohnehin ungerecht ist und es im Grunde überall und immer genauso zugeht wie heute, hat es gar keinen Sinn, etwas gegen den Kapitalismus zu unternehmen.

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Lukács wird zitiert nach: Die Zerstörung der Vernunft, Werke, Bd. 9, Luchterhand 1962, kurz ZdV; sowie nach: Von Nietzsche zu Hitler, Fischer Bücherei 1966, kurz: NzH

Hegel wird zitiert nach: Werke in zwanzig Bänden. suhrkamp taschenbuch wissenschaft

1. David Strauss, 1/187

2. in: Nietzsche-Studien, Bd. 1

3. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1/265-267

4. Ecce Homo, 6/335

5. Nachgelassene Fragmente, 11/10-11

6. Lukács, ZdV, S 85-86

7. Hegel, Enzyklopädie I (Bd. 8), § 63, S 150-152

8. Lukács, ZdV, S 85-86

9.  "   -   "   -  , S 92

10. Hegel, Enz. 1, § 60, S 143-144

11. Lukács, ZdV, S 87

12.  "   -   "   -  , S 88

13. Hegel, Enz. I, § 41, S 114

14. -   "   -   "   - § 24, S 82-83

15. -   "   -   "   § 26, S 93

16. -   "   -   "   § 19, S 71

17. Hegel, Rechtsphilosophie (Bd. 7), Vorrede, S 24

18. LUKACS, ZdV, 91

19. -   "   -    92

20. -   "   -    10-11

21. -   "   -    99

22. -   "   -    13

23. -   "   -    95

24. -   "   -    100

25. -   "   -    107

26. -   "   -    84

27. MARX, Das Kapital I, Kap. 24, S 779, Dietz-Verlag 1962

28. LUKACS, ZdV, 11

29. -   "   -    20

30. -   "   -    290

31. -   "   -   "  -

32. -   "   NzH, 9

33. -   "   ZdV, 322

34. -   "   -    327

35. -   "   -    323-324

36. -   "   -    274

37. -   "   NzH, 9

38. -   "   ZdV, 337

39. -   "   -    347

40. -   "   -    350

41. -   "   NzH, 9

 

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