II. Abschnitt: GESCHICHTE (oder: KULTUR I)

 

Die Geschichte, die historischen Voraussetzungen und zeitbedingten Lebensumstände sind für Nietzsche das zweite bestimmende Element im menschlichen Leben. Was einem nicht die Natur in die Wiege gelegt hat, das sollen die Einflüsse der Umgebung zustandebringen, und diese wiederum sind ein Produkt der Vergangenheit. Deswegen ist es wichtig, sich mit ihr zu befassen, wenn man über „das Leben“ Bescheid wissen will:

„Ein historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt und in ein Erkenntnisphänomen aufgelöst, ist für den, der es erkannt hat, tot: Denn er hat in ihm den Wahn, die Ungerechtigkeit, die blinde Leidenschaft und überhaupt den ganzen irdisch umdunkelten Horizont jenes Phänomens und zugleich eben darin seine geschichtliche Macht erkannt. Diese Macht ist jetzt für ihn, den Wissenden, machtlos geworden: vielleicht noch nicht für ihn, den Lebenden.“ 1

Aus diesem Zitat geht hervor: die Bedeutung, die die Geschichte hat, ihre „Macht“, kann nicht in ihr liegen. Woher sonst diese mit „vielleicht“ angedeutete Beliebigkeit, sich ihr zu unterwerfen? Es muß ein Auftrag sein, den der Untersuchende an sie heranträgt und deren Erfüllung nicht von ihr geleistet werden kann, aber mit ihrer Hilfe gelöst werden soll.
Man soll sich also des historischen Wissens bedienen: zum Begreifen dessen, warum die menschlichen Belange so und nicht anders aussehen. Das soll seinen Grund zunächst einmal im vorher haben.

 

1. Ursprung

Die Erklärung einer Tatsache aus seinem Ursprung ist für Nietzsche die einzige und beste Erklärung, denn:

„Wenn man die höchste Nützlichkeit einer Sache bewiesen hat, so ist damit auch noch kein Schritt zur Erklärung ihres Ursprungs getan: das heißt, man kann mit der Nützlichkeit niemals die Notwendigkeit der Existenz verständlich machen.“ 2

Das stimmt zunächst: Man kann mit der Nützlichkeit einer Sache nicht die Notwendigkeit ihrer Existenz beweisen – man hat eben ihre Nützlichkeit bewiesen, weiter nichts. Es ist allerdings ein Irrtum, anzunehmen, daß sich diese Notwendigkeit aus der Erklärung ihres Ursprungs ableiten ließe. Daß es irgendetwas, das es gibt, auch unbedingt geben muß, läßt sich nämlich überhaupt nicht beweisen. Wie denn auch? Sobald man sich einer Sache theoretisch zuwendet und sich darum bemüht, sie zu begreifen, so muß man sich auch um ihre Gründe und Ursachen kümmern. Kennt man die, so ist keine Rede mehr von Notwendigkeit der Existenz dieser Sache, sondern man hat vielmehr die Erkenntnis gewonnen, wie sie zu beseitigen ist, sofern man Wert drauf legt. (Ganz egal ist es dabei, ob es sich um Kapitalismus oder um Tuberkulose handelt – was den gedanklichen Umgang betrifft. Die praktische Durchsetzung ist eine andere Sache.)
Wer jedoch sagt, etwas ist notwendig, weil es ist, unterstellt damit einen Grund, der sich seinem Einfluß entzieht: Eine Macht der Vorsehung, die jenseits der Dinge, auch jenseits des menschlichen Willens existiert. Diese Macht kann „Schicksal“ heißen, „Natur“, hier heißt sie „Geschichte“: Eine höhere Gewalt, der man als Mensch gleich einem Stäubchen ohnmächtig gegenübersteht.
Die Erklärung einer Sache aus ihrem Ursprung ist nichts anderes als der Gedanke: Was ist, muß sein! durch die Dimension Zeit bereichert. Er gewinnt dadurch nichts an Überzeugungskraft:
– 1. Daß etwas einmal entstanden ist, ist klar. So fängt alles an: indem es entsteht. Und?
– 2. Daß es deswegen noch heute besteht, kann nicht sein: von dem, was alles im Lauf der Zeit entstanden ist, ist schon das meiste wieder verschwunden, von den Dinosauriern über das Römische bis zum Dritten Reich.
– 3. Daß etwas deswegen sein muß, weil seine Entstehung schon sehr lange her ist, überzeugt auch nicht. Man könnte doch genausogut sagen: So etwas Altertümliches! Weg damit!
– 4. Auch wie etwas entstanden ist und warum, spricht nicht dafür, ihm Notwendigkeit zuzugestehen. Im Gegenteil, wenns heute kein Interesse daran gäbe, würde es die Sache auch nicht geben. Also helfen einem die Entstehungsgründe auch nicht weiter.

Genausowenig ist die Kenntnis des Ursprungs einer Sache ein Grund, sie für unnötig zu halten, also zu bestreiten, daß sie für irgendwelche – offenbar nicht ganz unwichtige – Interessen tauglich ist. Ich will an zwei Beispielen zeigen, daß Nietzsche das Geschichte-Argument immer genau so verwendet, wie er es braucht.

Beispiel 1.: Christlicher Glaube

„Die historische Widerlegung als die endgültige. – Ehemals suchte man zu beweisen, daß es keinen Gott gebe, – heute zeigt man, wie der Glaube, daß es einen Gott gebe, entstehen konnte und wodurch dieser Glaube seine Schwere und Wichtigkeit erhalten hat: Dadurch wird ein Gegenbeweis, daß es keinen Gott gebe, überflüssig. –“ 3

Es stimmt ja auch hier zunächst, daß ein gläubiger Mensch durch den ständigen Hinweis: Gott gibts nicht! in seinem Glauben nicht zu erschüttern ist: Er hat sich ja gerade dazu entschlossen, Gottes Hand in allen Dingen zu entdecken und so gerät ihm jedes Gänseblümchen zum Gottesbeweis.
Der Hinweis auf die Entstehung und Entwicklung des Christentums leistet diesen Dienst allerdings auch nicht, denn das Bedürfnis nach Glauben hat seinen Grund nicht darin, daß es eine Überlieferung gibt und die Weltbilder weitergegeben werden wie Bauernhöfe. Den Grund für Religion kannte Nietzsche:

„Vielleicht ist am Christentum und Buddhismus nichts so ehrwürdig als ihre Kunst, noch den Niedrigsten anzulehren, sich durch Frömmigkeit in eine höhere Schein-Ordnung der Dinge zu stellen und damit das Genügen an der wirklichen Ordnung, innerhalb deren sie hart genug leben, … bei sich festzuhalten.“ 4

und er wußte auch, daß es ein Interesse von anderer Seite daran gibt, die Menschen gläubig zu machen und zu erhalten:

„Für die Starken, … zum Befehlen Vorbereiteten … ist Religion ein Mittel mehr, um Widerstände zu überwinden, um herrschen zu können: als ein Band, das Herrscher und Untertanen gemeinsam bindet und die Gewissen der Letzteren, ihr Verborgenes und Innerlichstes, das sich gerne dem Gehorsam entziehen möchte, den Ersteren verrät und überantwortet.“ 5

Dem Bedürfnis nach Glauben liegt also Unterwerfung und das Festhalten-Wollen der Unterworfenen an diesem Zustand zugrunde, und den Glauben kann man nur zerstören, indem man dieses Bedürfnis nach dem Sich-Dreinfinden angreift und alle Herrschaftszustände aufhebt.
Diese Konsequenz wollte Nietzsche allerdings nie ziehen.

Beispiel 2: Sozialismus

„Wenn die Sozialisten nachweisen, daß die Eigentums-Verteilung in der gegenwärtigen Menschheit die Konsequenz zahlloser Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten ist, und in Summa die Verpflichtung gegen etwas so unrecht Begründetes ablehnen: so sehen sie nur etwas Einzelnes. Die ganze Vergangenheit der alten Kultur ist auf Gewalt, Sklaverei, Betrug, Irrtum aufgebaut; wir können aber uns selbst, die Erben aller dieser Zustände, ja die Konkreszenzen aller jener Vergangenheit, nicht wegdekretieren und dürfen nicht ein einzelnes Stück herausziehen wollen.“ 6

Der logische Aufbau dieses Zitates ist als sehr dürftig einzustufen: Wenn die Sozialisten über das Eigentum reden, so reden sie – nur über das Eigentum, über ein „Einzelnes“! Sollten sie vielleicht die gegenwärtige Planetenkonstellation, Großmutters geflickte Socken und ähnliche, für die Klärung dessen, was Eigentum ist, ausgesprochen wichtige Dinge miterwähnen, damit Nietzsche zufriedengestellt wäre?
„Die Vergangenheit der alten Kultur auf Gewalt aufgebaut“ – also vor unserer Zeit war etwas und davor war Gewalt, deswegen geht es nicht ohne Gewalt? Wenn „wir“ sie „geerbt“ haben, können „wir“ sie allerdings nicht „wegdekretieren“ – warum muß er dann davor warnen, wenns ohnehin nicht geht? usw. usf. …

Gegen diese Argumentation Nietzsches ist an das zu erinnern, was er selbst an HEGEL richtig kritisiert hat, er hätte nämlich

„in die von ihm durchsäuerten Generationen jene Bewunderung vor der »Macht der Geschichte« gepflanzt, die praktisch alle Augenblicke in nackte Bewunderung des Erfolges umschlägt und zum Götzendienste des Tatsächlichen führt ...“ 7

und:

„Man hat diese Hegelisch verstandene Geschichte mit Hohn das Wandeln Gottes auf der Erde genannt, welcher Gott aber seinerseits erst durch die Geschichte gemacht wird.“ 8

Man merkt an der Behandlung, die Nietzsche diesen beiden Beispielen angedeihen läßt, nur eines: Die Parteinahme für oder gegen eine Sache ergibt sich nicht aus der Kenntnis oder Unkenntnis von Geschichte, sondern der Verweis auf Ursprünge und „historisch Gewachsenes“ ist immer nur ein Mittel, seine Parteilichkeit vorzutragen. Warum sonst meint Nietzsche, sich an einer Stelle, in der Frage der Religion, von der Vergangenheit lösen zu müssen, in der Frage der Eigentumsordnung jedoch die Vergangenheit für unüberwindbar zu erklären? Mehr, als daß der Autor etwas gegen Christentum und Sozialismus hat, erfährt man bei so einer historischen Argumentation nicht.
Es gibt für Nietzsche aber noch eine zweite geschichtliche Kraft, und die liegt nicht in dem, was vorher war, sondern in dem, was gleichzeitig ist, dem

 

2. Zeitgeist

Nietzsche meint, jede „Zeit“ hätte ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, sie bringe die ihr entsprechende Kunst und Literatur, Moral und Politik hervor. Dieser „Zeitgeist“ kann schädlich oder nützlich sein – immer bezogen auf Nietzsches „Natur“burschen –, man kann ihm nachgeben oder sich dagegen stemmen.
Den „Geist“ seiner Zeit empfand Nietzsche als seinem Ideal schädlich und rät, gegen den Strom zu schwimmen:

„Wenn ihr euch dagegen in die Geschichte großer Männer hineinlebt, so werdet ihr aus ihr ein oberstes Gebot lernen, reif zu werden, und jenem lähmenden Erziehungsbanne der Zeit zu entfliehen, die ihren Nutzen darin sieht, euch nicht reif werden zu lassen, um euch, die Unreifen, zu beherrschen und auszubeuten … Mit einem Hundert solcher unmodern erzogener, das heißt, reif gewordener und an das Heroische gewöhnter Menschen ist jetzt die ganze lärmende Afterbildung dieser Zeit zum ewigen Schweigen zu bringen.“ 9

Die Zeit tritt hier als Subjekt auf, das eigene Zwecke verfolgt: Sie gebietet über die Erziehung, sie beherrscht und beutet aus, und sie verfügt sogar über eine „Afterbildung“, was immer das sein mag. Die Zeit zum Subjekt erhoben ist mehr als nur eine Metapher oder eine schlampige Formulierung für die Zwecke, die in einer bestimmten Gesellschaft und einer bestimmten Zeit durchgesetzt und anerkannt sind. Wenn „die Zeit“ gebietet und handelt, wie in obigem Zitat, so ist der Unterschied zwischen Beherrschten und Herrschern, Ausbeutern und Ausgebeuteten, Erzogenen und Erziehern getilgt: Sie sind alle gleichermaßen der „Zeit“ unterworfen und üben ihre Tätigkeiten in ihrem Auftrag aus. Darüber hinaus sind auch alle Gründe für diese angeführten Tätigkeiten, hier: Ausbeutung, Erziehung und Herrschaft, gestrichen und verrätselt: Niemand hat sie gewollt oder verursacht, es ist auch nicht festzustellen, zu wessen Nutzen sie sein sollten: „es“ ist eben so. Man kann sich der „Zeit“ – als Subjekt, wohlgemerkt – ohnehin nicht entziehen, (in ihr äußert sich schließlich „die blinde Macht des Wirklichen“ 10, die das Wesen der Geschichte ausmacht,) man kann nur dagegen „ankämpfen“.
Dabei gibt es den Zeitgeist wirklich, er ist keine Fiktion – falsch ist es nur, ihn als Subjekt und Ursache derjenigen Gedanken und Handlungen, die in einer bestimmten Gesellschaft an der Tagesordnung sind, zu betrachten. „Die Zeit“ kann genausowenig Subjekt sein wie „die Natur“ oder „das Leben“.
Der „Zeitgeist“ ist vielmehr das Ergebnis dessen, was die Machthaber eines Staatswesens bestimmen. Er ist eine moderne Erscheinung*(1), und das Produkt einer von oben geförderten Zusatzveranstaltung zu den normalen Staatsgeschäften, die „Kultur“ heißt (siehe dazu Abschnitt III).
Wer sich gegen diese von oben verordneten Sichtweisen und Begründungen, die allesamt die Taten der Politik als Notwendigkeiten und „Dienste für die Menschheit“ darzustellen versuchen, verwehrt und andere Ansichten vertritt, befindet sich allerdings nicht im Einklang mit dem Zeitgeist. Er hat aber auch andere Gegner als „die Zeit“: Es sind die Vertreter der Staatsgewalt und ihre Parteigänger in allen Abteilungen der bürgerlichen Gesellschaft.
Mit „Ursprung“ und „Zeitgeist“ hat sich Nietzsche Kategorien geschaffen, mit denen er nach seinem Belieben alle historischen und gegenwärtigen Ereignisse für nötig oder unnötig, für zeitgemäß oder unzeitgemäß erklären kann – ganz wie ers gerade braucht. Wofür ihm dieses Instrumentarium dient, soll in folgendem Punkt geklärt werden:


3. „Historische Umstände“ als Bedingung

Es ist für Nietzsche also kein Problem, Veränderungen zu erklären: Im Menschen entstehen neue Instinkte, (z.B. der der „Dekadenz“ 11), die verbreiten sich dann via Zeitgeist in der ganzen Gesellschaft und greifen so auf die anderen über. Oder die Veränderung wird bazillusähnlich von außen eingeschleppt und steckt dann die anderen an, (z.B. der Arbeitseifer, den er völlig unbegründeterweise den Indianern als Eigenschaft unterschiebt, die dann auf die Europäer übergegriffen haben soll 12). Als eigentliche Triebkraft der Geschichte und der menschlichen Belange überhaupt bestimmt er den Zufall.
Daraus zieht er aber nicht den Schluß, den Dingen ihren Lauf zu lassen und sich mit einer bloßen Zuschauerrolle zu begnügen. An dieser Stelle tritt für ihn das Bewußtsein auf den Plan: Als Kenner der Moral und Menschennatur, der zu wissen vermeint, was den Menschen, „der Menschheit“, am ehesten entspricht und daher nützt, will er auf den Zeitgeist Einfluß nehmen und damit die weitere Entwicklung beeinflussen.
Nietzsche befindet sich hier im Widerspruch eines Glücksspielers, der den Zufall will und gleichzeitig nicht will, weil er ihn für sich ausnützen, also seinen Zwecken dienstbar machen will – etwas, was dem Wesen des Zufalls widerspricht. Der Glücksspieler ist zwar einerseits jedesmal enttäuscht, wenn er keinen Treffer gemacht hat, andererseits ist so eine Art Mensch im Grunde nie zu enttäuschen: Er hat ja gerade seinen Pakt mit dem Zufall gemacht und weiß, daß es keinerlei Garantien für ihn gibt.
Dieses Ärgernis mit dem Zufall, den er nicht in den Griff bekommt, hat Nietzsche auch, und träumt deswegen von einer Macht, die er nicht hat: Der „Freigeist“ hat seiner Ansicht nach

„die ganz andere und höhere Aufgabe, … von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissenschaftlichen und gelehrten Menschen zu befehligen und ihnen die Wege und Ziele der Kultur zu zeigen.“ 13

Mit dieser Einflußnahme will Nietzsche Bedingungen schaffen, die seine großen und freien Geister ermöglichen und befördern sollen:

„Aus der Geschichte ist zu lernen, daß der Stamm eines Volkes sich am besten erhält, in welchem die meisten Menschen lebendigen Gemeinsinn in Folge der Gleichheit ihrer gewohnten und undiskutierbaren Grundsätze, also in Folge ihres gemeinsamen Glaubens haben. Hier erstarkt die gute, tüchtige Sitte, hier wird die Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit schon als Angebinde gegeben und nachher noch anerzogen. … Die abartenden Naturen sind überall da von höchster Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll. Jedem Fortschritt im Großen muß eine teilweise Schwächung vorhergehen. Die stärksten Naturen halten den Typus fest, die schwächeren helfen ihn fortbilden. … Insofern scheint mir der berühmte Kampf ums Dasein nicht der einzige Gesichtspunkt zu sein, aus dem das Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen, einer Rasse erklärt werden kann. … Bei dem einzelnen Menschen lautet die Aufgabe der Erziehung so: Ihn so fest und sicher hinzustellen, daß er als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn abgelenkt werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm Wunden beizubringen oder die Wunden, die das Schicksal ihm schlägt, zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Bedürfnis entstanden sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles inokuliert werden. Seine gesamte Natur wird es in sich hineinnehmen und später, in ihren Früchten, die Veredelung spüren lassen. –“ 14

Nietzsche „lernt hier aus der Geschichte“ und zwar wie alle Leute genau das, was er aus ihr lernen will:
– 1.„Erhaltung des Volksstammes“, „Fortschritt“ und „Veredelung der Natur des Einzelnen“ sind anzustrebende Dinge – das steht außer Zweifel und soll sich seiner Meinung nach von selbst verstehen.
– 2. Grundsätze, Glauben, Gemeinsinn, Wunden und Schmerz werden als Bedingungen des Volksfortschritts und der Persönlichkeitsbildung eingeführt, und damit ist für Nietzsche ihre Güte und Notwendigkeit bereits erwiesen.
– 3. Darüber hinaus erhalten die Glaubensgrundsätze und Widrigkeiten, mit denen ein Individuum in seiner jeweiligen Umgebung konfrontiert ist, ihre einzige Bestimmung darüber, daß sie für dieses Menschheitsbeglückungsprogramm notwendig sind, und zwar irgendwie.
Denn daß ein Individuum, dem Unterordnung gelehrt wird, diese dann auch praktiziert und für gut befindet, ist nichts Selbstverständliches. Es kann sich genausogut dagegen auflehnen. „Abartende Naturen“ können den Volkskörper genausogut stärken wie schwächen, je nachdem, was sie von so einem Gebilde halten. Was ein „Erzieher“ einem sagt oder einprügelt, muß man deswegen nicht gleich auch machen, schon gar nicht für den Rest des Lebens; und man muß auch die Schäden, die einem beigebracht werden, nicht als „Wunden des Schicksals“ und Prüfung für die eigene Charakterfestigkeit betrachten. Man kann ihnen genausogut nachgehen, sich ihre Ursachen erklären und dann etwas dagegen tun.
– 4. Es wird hier wieder einmal eine Sache aus der anderen begründet und keine von beiden erklärt. Die „Gemeinde“ bedarf zu ihrem Selbsterhalt und ihrer Weiterentwicklung gewisser Bedingungen wie Glauben und Sittlichkeit und befördert diese Veranstaltungen deswegen, diese wiederum gibt es wegen der „Gemeinde“ und für sie, und darin erschöpft sich auch ihre Bedeutung.

Folgendes erfährt man aus dem obigen Zitat nicht:
– 1. Was hat dieses fiktive Gemeinwesen mit seinen Mitgliedern vor, daß es sie mit solchem Unsinn bei der Stange halten muß?
– 2. Was für seltsame Mitglieder muß so ein Gemeinwesen haben, daß sie sich so etwas gefallen lassen und sogar noch mitmachen dabei?
– 3. Welche besonderen Inhalte muß diese Moral, dieser Glauben, vermitteln, um seine Erziehungsziele, „Veredelung“ des Einzelnen und „Fortschritt“ des großen Ganzen, zu erfüllen? *(2)
Was man dem Zitat jedoch entnehmen kann, ist der Grund für Nietzsches Interesse an der Geschichte, den verschiedenen Epochen und damaligen Lebensumständen der Menschen. Es ist seine Absicht, Determinanten des Willens ausfindig zu machen. Sein Ärgernis mit dem freien Willen der Menschen, die er dazu bringen will, so zu tun und zu sein, wie er sichs vorstellt, führt ihn dazu, nach Beeinflussungsmöglichkeiten zu suchen. Das ist der eingangs erwähnte Auftrag, den er an die Geschichte heranträgt, und dieser Auftrag heißt Erziehung. Vergangenes und Gegenwärtiges sollen ihm Bedingungen und Voraussetzungen sein für sein Ziel, die Beförderung seines idealen Menschen.

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*(1) Vorbürgerliche Gesellschaften kennen den Zeitgeist-Gedanken, entgegen Nietzsches Annahme, nicht. Es mag ja sein, daß die Dichter und Denker des perikleischen Athen oder die Minnesänger sich bestimmten Herrschergestalten oder Normen ihrer Zeit verpflichtet gefühlt und sie nach bestem Wissen und Gewissen vertreten haben. Fremd ist diesen Menschen allerdings der Gedanke, sich bei ihren schöngeistigen Umtrieben gleich als Vertreter „der Gesellschaft“, „der Menschheit“, von Krethi und Plethi, zu fühlen und zu behaupten, was ihnen aus der Feder geflossen sei, müßte eigentlich jedem Zeitgenossen ein dringliches Anliegen sein.
            Ihre Schriften jedenfalls richten sich an bestimmte Personengruppen und künden von einem Bewußtsein der Klassenschranken, mit denen sie jeweils konfrontiert waren.

 

*(2) Diese Frage beantwortet Nietzsche an anderer Stelle genauer, da schreibt er es hin, wie Erziehung hier und heute aussieht. Und es ist diese Erziehung, die ihm bei seinen Entwürfen einer idealen Erziehung Pate steht.

     „… nicht zu wissen, was uns förderlich, was uns schädlich ist, in der Einrichtung der Lebensweise, Verteilung des Tages, Zeit und Auswahl des Verkehres, in Beruf und Muße, Befehlen und Gehorchen, Natur- und Kunstempfinden, Essen, Schlafen und Nachdenken: im Kleinsten und Alltäglichsten unwissend zu sein und keine scharfen Augen zu haben – das ist es, was die Erde für so Viele zu einer »Wiese des Unheils« macht. Man sage nicht, es liege hier wie überall an der menschlichen Unvernunft: vielmehr – Vernunft genug und übergenug ist da, aber sie wird falsch gerichtet und künstlich von jenen kleinen und allernächsten Dingen abgelenkt. Priester und Lehrer und die sublime Herrschsucht der Idealisten jeder Art, der gröberen und der feineren, reden schon dem Kinde ein, es komme auf etwas ganz Anderes an, auf das Heil der Seele, den Staatsdienst, die Förderung der Wissenschaft, oder auf Ansehen und Erfolg, als die Mittel, der ganzen Menschheit Dienste zu erweisen, während das Bedürfnis des Einzelnen, seine große und kleine Not innerhalb der vierundzwanzig Tagesstunden etwas Verächtliches und Gleichgültiges sei.“ 15

            Die verlogenen Ehrentitel, die es in einer Konkurrenzgesellschaft eben gibt, einmal weggelassen: Es kommt doch auf das Wohlbefinden des Einzelnen wirklich nicht an. Daher wird auch so wie beschrieben erzogen.

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1. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1/257

2. Morgenröte, 3/44

3. "   -   "   3/86

4. Jenseits von Gut und Böse, 5/81

5. "   -   "   -   "   -   "  5/79

6. Menschliches, Allzumenschliches I, 2/293

7. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1/309

8. "   -   "   -   "   -   "   -   "   -   "   -   "   1/308

9. "   -   "   -   "   -   "   -   "   -   "   -   "   1/295

10. "   -   "   -   "   -   "   -   "   -   "   -   "   1/311

11. vgl. das Kapitel „Das Problem des Sokrates“ in: Götzendämmerung

12. Die fröhliche Wissenschaft, 3/556

13. Menschliches, Allzumenschliches I, 2/231

14.  "   –    "    –    "    –    "    –    "   2/187-189

15.  "   –    "    –    "    –    "    –    II, 2/542-543

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weiter zu: Probleme eines Moralisten

weiter zu: Inhaltsverzeichnis

weiter zu: I. Teil, IV. Abschnitt: Der Mensch auf der Suche nach dem Sinn des Seins

weiter zu: II. Teil, III. Abschnitt: Die Nietzsche-Rezeption

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