II. Abschnitt: VORWÜRFE GEGEN NIETZSCHE
Es gibt Nietzsche gegenüber einige Vorwürfe, die in der Sekundärliteratur immer wieder auftauchen. Auch im Gespräch mit Leuten, die mindestens eine normale Schulbildung haben, auch wenn sie von Nietzsche sonst nur wissen, daß er mit ein wenig Vorsicht zu genießen ist, haben diese Vorwürfe ihren festen Platz. Die zwei gebräuchlichsten habe ich herausgegriffen, um sie gesondert zu behandeln. Ich möchte nachweisen, daß der eine, er sei ein „Wegbereiter des Faschismus“ gewesen, unangebracht ist, während der andere, er sei ein
1. „Frauenfeind“ gewesen, im allgemeinen sehr inhaltsleer ausfällt. An ihm läßt sich das Wesen und die Absurdität von Vorwürfen überhaupt sehr deutlich erkennen.
2. „Wegbereiter des Faschismus“ Bevor ich darangehe, zu untersuchen, ob dieser bekannteste und schwerwiegendste aller Vorwürfe, die gegen Nietzsche erhoben werden, die Anliegen und Wirkungen Nietzsches trifft, möchte ich einige grundlegende Einwände gegen dieses Verdikt machen.
2.1. Zum Faschismusvorwurf überhaupt Es gehört zu den allergewöhnlichsten Umgangsformen fortschrittlicher demokratischer Menschen, daß ihnen das Urteil, jemand oder etwas sei faschistisch, sehr leicht über die Lippen kommt. Als faschistisch läßt sich fast alles abtun, was einem mißfällt: die Kronenzeitung; der Hausmeister; diverse Sprüche von Privatpersonen, den Umgang mit Langhaarigen, Gastarbeitern und Arbeitslosen betreffend; auch Verhaltensweisen im Liebes-, Ehe- und Familienleben; Äußerungen von Politikern; Philosophen und Literaten und deren Weltanschauungen usw. … Hartnäckig hält sich der Glaube, die häßlichen Verlaufsformen und Ergebnisse demokratischer Herrschaft hätten mit ihr überhaupt nichts zu tun, sondern stellten vielmehr etwas dar, das nicht zu ihr gehört: Entweder „Ewiggestriges“ oder einen Vorläufer schlimmer Zeiten, gegen die DIE DEMOKRATIE verteidigt gehört. Um mich selbst auch einmal eines Bildes zu bedienen: Der Faschismus erfüllt im demokratischen Denken die Funktion des Mistkübels oder der Rumpelkammer, wohin man allen Unrat wirft, der beim Sichten des trauten Heims das Auge beleidigt – damit sich eben dieses Heim nachher um so sauberer präsentieren möge. Es ist also der Wunsch, sich in seinem Staat, seinem Untertanenverhältnis heimisch zu fühlen, der den Faschismusvorwurf so beliebt macht. In der politischen Sphäre bewährt sich der Glaube an die „eigentliche“ Güte demokratischer Herrschaft insofern, als er eine grundlegendere Kritik an den Institutionen des bürgerlichen Staates und ihrer Rolle in bezug auf die Durchsetzung des Kapitalverhältnisses gar nicht erst aufkommen läßt. Deswegen ist und bleibt der Antifaschismus eine von oben durchaus anerkannte und geförderte Veranstaltung. Die erwähnten Maßstäbe, denen der Geist sich oft so willig akkomodiert, ergeben sich aus der Parteigängerschaft mit der demokratischen Staatsgewalt, und mit ihnen soll eine Deutung der Welt eingeführt werden, die die bestehenden Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse nicht antastet.*3 (Ein wenig anders ist der Antifaschismus bei Lukács zu beurteilen – einem Mann, der seine geistige Heimat in einem sozialistischen Staat gefunden hat.)
2.2. Zum Verhältnis von Geist und Macht Die Ansicht, irgendein Schriftsteller, Dichter, Philosoph oder ähnliches habe dieses oder jenes politische System hervorgebracht bzw. ihm den Weg geebnet, gibt es nicht nur in Anschauung Nietzsches. Ganz allgemein pflegt man in den Geisteswissenschaften alle Staatssysteme von irgendwelchen „Gründervätern“ abzuleiten, und je nachdem, ob es sich um ein mißliebiges Staatswesen handelt oder um eines, für das man Partei ergreifen will, werden diese geistigen Väter dann besprochen. Dieser Vorgangsweise liegt eine recht absichtsvolle Verwechslung des Verhältnisses von Geist und Macht zugrunde. Es mag ja durchaus sein, daß jemand das, was er in einem Buch (oder mehreren) gelesen hat, zum Anlaß nimmt, seine Anschauungen neu zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern – damit das aber jemals eine politische Bedeutung bekommt, muß noch einiges geschehen. Dieser Mensch muß erstens beschließen, daß das, wovon er überzeugt ist, als Staatsprogramm durchgesetzt werden muß, und er muß zweitens mit dieser Durchsetzung Erfolg haben. Und das ist allemal eine Frage der Gewalt. Denn Staatswesen werden mit Gewalt eingerichtet und aufrechterhalten, davon zeugt jeder Polizist, der mit der Waffe an der Seite durch die Straßen promeniert; und sie lösen sich nicht friedlich auf, noch weichen sie freiwillig einem anderen „System“, weil es sich als „menschenfreundlicher“ oder „überlegener“ erweist. Wer von dem Unterschied zwischen Gedanken und Gewalt nichts wissen will, sondern alles als eine Form der „Beeinflussung“ bestimmt, leistet damit zweierlei: Erstens kann jeder geäußerte Gedanke, der einem nicht ins Konzept paßt, mit den Attributen „bedenklich“ bis „gefährlich“ belegt werden – jeder soll also gefälligst überlegen, ob das, was er sagt, auch verfassungstreu und nicht etwa polizeiwidrig ist. Zweitens aber ist über die tatsächliche Politik und ihre täglichen Gewaltakte eine Generalabsolution ausgesprochen: Sie werden allesamt zu ungelösten „Problemen“ erklärt, zu deren „Lösung“ es unbedingt der Geisteswissenschaften bedarf. Sodaß dann die Handlangerdienste, die diese Wissenschaftler tatsächlich für die Aufrechterhaltung ihres jeweiligen Staatswesens leisten oder zu leisten vermeinen, als ihr Gegenteil, nämlich als Versuch, die Gewaltanwendung zu verringern, bezeichnet werden. Damit wird der Eindruck vermittelt, als sei das Einsperren, Prügeln und militärisch abgewickelte Umbringen im großen Maßstab auf Irrtümer, Verirrungen und Desinformation zurückzuführen und würde, wäre dem nicht so, überhaupt nicht stattfinden. Und es wird im weiteren so getan, als wären Geschichtsprofessoren, Sozialarbeiter und Gerichtspsychiater nicht Angestellte des Staates, die eben ihre bestimmte Funktion für die Durchsetzung seiner Zwecke zugeteilt bekommen haben, sondern als wären das lauter verantwortungsvolle und menschenfreundliche Berufe, die einzig dazu da sind, daß die Gewalt, die ihre Grundlage ist, einmal überflüssig wird. Dies ist die Verdrehung der Tatsachen und der schöne Schein, mit dem die Kopfarbeiter ganz selbstbewußt ihrer Berufung gerecht werden. Natürlich können auch Gedanken Elemente von Gewalt an sich haben. Ich habe (in Teil I, Abschnitt IV, 2) versucht zu zeigen, daß z.B. die Idee der Gleichheit eine ist, die nach Gewalt verlangt, weil diese Gleichheit etwas den Individuen Äußerliches ist, das gegen sie durchgesetzt werden muß. Ähnlich verhält es sich mit den anderen Idealen der bürgerlichen Gesellschaft, der Freiheit, der Gerechtigkeit; ähnlich mit den christlichen Tugenden: Die Gebote der Bedürfnislosigkeit, der Keuschheit, der Nächstenliebe können nur in Gesellschaftssystemen zu Einfluß gelangen, in denen Zwang ausgeübt wird, und sie bedürfen daher immer einer weltlichen Gewalt, die für die Aufrechterhaltung solcher Zustände sorgt.
2.3. Warum gerade Nietzsche? Die Politiker des Dritten Reiches waren große Anhänger einer deutschen nationalen Kultur. Das steht keineswegs im Widerspruch dazu, daß sie Bücher verbrannt und Bilder verboten haben: Das haben sie ja gerade deswegen getan, weil sie das, was für sie deutsch war, von allen schädlichen Einflüssen und Beigaben reinigen wollten. Sie waren für Kultur, weil sie – wie alle Staatsmänner – ihren Taten und Beschlüssen gerne den Anschein eines höheren Sinnes verleihen bzw. selber an ihre „Sendung“ und „Aufgabe“ glauben wollten. Daß die Nationalsozialisten Nietzsche benützt haben, ist ebensosehr absichtlich wie zufällig: Er eignet sich so gut oder so schlecht wie die meisten anderen Denker des 19. und angehenden 20. Jahrhunderts, die Hitler und seine Anhänger vorgefunden haben. Einige von ihnen sind durch ihre jüdische Abstammung, andere dadurch, daß sie einfach keine Deutschen waren, um die zweifelhafte Ehre gekommen, in die nationalsozialistische Geisteswelt eingemeindet zu werden. Seltsam mutet es zunächst an, daß gerade Nietzsche bis heute in dem Ruf steht, er hätte sich dafür besonders gut geeignet. Mindestens ebenso beliebt war immerhin im Dritten Reich ein Dichter namens Johann Wolfgang von Goethe, dem noch nie jemand den Vorwurf gemacht hat, er sei ein „Wegbereiter des Faschismus“ gewesen. Sein „Faust“ galt Baldur von Schirach und Herrmann Göring als das deutsche Buch*4 überhaupt, Goethe als der deutsche Dichter, die „Faust“-Aufführung mit Gründgens als Mephisto gehört bis heute zur Theatergeschichte, – woher die sichere Überzeugung der Nachwelt, daß Goethe von den Faschisten „mißbraucht“ worden ist, während Nietzsche schon irgendeine Eignung für seine Indienstnahme aufweisen muß?
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*1 Das Zitat heißt übrigens richtig:
„Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!“ (1) Der Zeichner Paul Flora steuert eine eigene, unfeministische Interpretation dieses Ausspruches bei (im Nietzsche-Gedenkhaus in Sils-Maria zu bewundern:) Hier sieht man Nietzsche vor einem etwas entsetzten Fräulein knien und ihm die Peitsche zur gefälligen Benützung anbieten. *2 Nur so haben Vorwürfe überhaupt einen Sinn: Indem man auf einen selbstverständlichen Konsens baut und alle Angesprochenen an ihn erinnert. Wer im normalen Leben einen Vorwurf macht, unterstellt bei dem, an den sich dieser Vorwurf richtet, nichts weniger als daß er eigentlich einer Meinung mit ihm zu sein hätte. Der Vorwurf z.B., jemand sei ein Faschist /Dogmatiker/Faulpelz geht von der Voraussetzung aus, daß der andere kein Faschist/Dogmatiker/Faulpelz sein will – sonst würde er ja sagen: na eben! und? und der, der den Vorwurf ausgesprochen hat, würde dumm dreinschauen.
Vorwürfe haben also nur dann eine Wirkung, wenn sie nicht stimmen. Überflüssig sind sie deswegen aber nicht. *3 Denn was die betrifft, sind die Gemeinsamkeiten mit dem Faschismus nicht zu übersehen: Im III. Reich wurden schließlich weder die Schule noch die Ehe, noch Justiz und Polizei, weder das Privateigentum noch die Lohnarbeit abgeschafft – auch ein Heer ist keine Besonderheit, die nur ein faschistischer Staat aufweisen würde. Die Nationalsozialisten haben eben alle diese Einrichtungen in ihrem Sinne effektiviert, und das soll aus heutiger Sicht einen Mißbrauch von ihnen darstellen. Damit ist gleich klargestellt, daß der rechte Gebrauch dieser Dinge ansteht, daß Heiraten und Kinderkriegen, Gehorchen und Arbeiten, Wehrdienst und Steuerzahlen nach wie vor gefordert sind und überhaupt nicht zur Debatte stehen.
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(1) Also sprach Zarathustra, 4/86 (2) Die fröhliche Wissenschaft, 3/501
weiter zu: II. Teil, III. Abschnitt: Die Nietzsche-Rezeption
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