II. Abschnitt: VORWÜRFE GEGEN NIETZSCHE

 

Es gibt Nietzsche gegenüber einige Vorwürfe, die in der Sekundärliteratur  immer wieder auftauchen. Auch im Gespräch mit Leuten, die mindestens eine normale Schulbildung haben, auch wenn sie von Nietzsche sonst nur wissen, daß er mit ein wenig Vorsicht zu genießen ist, haben diese Vorwürfe ihren festen Platz. Die zwei gebräuchlichsten habe ich herausgegriffen, um sie gesondert zu behandeln.

Ich möchte nachweisen, daß der eine, er sei ein „Wegbereiter des Faschismus“ gewesen, unangebracht ist, während der andere, er sei ein

 

1. „Frauenfeind“

gewesen, im allgemeinen sehr inhaltsleer ausfällt. An ihm läßt sich das Wesen und die Absurdität von Vorwürfen überhaupt sehr deutlich erkennen.
„Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht!“*1 – diesen Satz Nietzsches kennt jeder, und er wird vor allem von Frauen mit Entrüstung vorgetragen, um nachzuweisen, daß dieser Denker keiner näheren Beschäftigung wert ist.
In der Sekundärliteratur wiederum herrscht eine gewisse Neigung vor, diesen Satz und die damit verbundene Thematik zu umgehen. Es scheint den meisten Nietzsche-Forschern peinlich zu sein, daß ein so großer Geist solche Sätze, wie man sie eher den rückständigen und gedankenlosen Normalverbrauchern zuschreiben möchte, von sich gegeben hat.
Dabei finden sich rassistische und durchaus auch verächtliche Aussagen über die Frauen auch bei allen möglichen anderen Philosophen, z.B. bei KANT und HEGEL. Will man sie kritisieren, so muß man eben untersuchen, wie sie aus ihrer Deutung der Menschennatur und ihren Absichten zu genau solchen Urteilen kommen.
Das Ärgerliche bei der Behandlung des Nietzscheanischen Rassismus ist, daß diese Kritik eben nicht geleistet wird. Sondern beide Seiten, seine Anhänger und seine Gegner, sind sich einig darin, daß sich so etwas nicht gehört.*2 „Frau“ ist heute nicht bloß ein Wort, das an einem Menschen festhält, daß er dem einen Geschlecht angehört und nicht dem anderen, sondern es bezeichnet darüber hinaus einen Wert, dem jeder fortschrittlich denkende Mensch sich verpflichtet zu fühlen hat. Und eh daß man sichs versieht, taucht der bei Nietzsche bereits angesprochene Rassismus mit positiven Vorzeichen wieder auf: Die gesellschaftliche Stellung der Frau wird weiterhin zu ihrer „Natur“ (heute heißt das: „weibliche Identität“) gemacht, aber Haushaltsarbeit und Kinderkriegen sind jetzt auf einmal hochehrenwerte Geschäfte, für die man die weiblichen Wesen ehren und achten soll. Mutterschaft und Stricken verleihen den damit Beschäftigten ein ganz neues Selbstbewußtsein, die vorangestellte Bemerkung „ich als Frau“ macht jedes nachfolgende Urteil geradezu unangreifbar, wie dumm es auch immer sein mag. Linke feministische Theorien bemühen sich, zu beweisen, daß die Frauen, weil sie „Subsistenzarbeit“ leisten, mindestens genausoviel Anerkennung verdienen wie Menschen, die Lohnarbeit leisten. Und da stoßen sie nicht auf ganz taube Ohren: Schließlich sind die Frauen, wenn sie sich brav benehmen und ihren Pflichten nachkommen, wirklich unentbehrlich fürs Große Ganze, – den Staat eben, verschämt „die Gesellschaft“ genannt. Und dafür werden sie auch von oben geachtet und gelobt, bekommen sogar eine Staatssekretärin für Frauenfragen – genauso wie andere Menschen am 1. Mai feiern dürfen, daß sie immer noch dem Kapital zu schönen Profiten und der Nation zu einem Wirtschaftswachstum verhelfen, während sie selber ihr Rentenalter, wenn überhaupt, mit sehr geschädigter Gesundheit erreichen.
Die Verachtung der Frau und ihre Verehrung sind also zwei Seiten der gleichen Medaille: Der Verpflichtung darauf, den ihr zugewiesenen Platz im gesellschaftlichen Leben einzunehmen; und über die Dienstbarkeit, die das in sich schließt, kann man eben gute und schlechte Meinungen haben.

 

2. „Wegbereiter des Faschismus“

Bevor ich darangehe, zu untersuchen, ob dieser bekannteste und schwerwiegendste aller Vorwürfe, die gegen Nietzsche erhoben werden, die Anliegen und Wirkungen Nietzsches trifft, möchte ich einige grundlegende Einwände gegen dieses Verdikt machen.

 

2.1. Zum Faschismusvorwurf überhaupt

Es gehört zu den allergewöhnlichsten Umgangsformen fortschrittlicher demokratischer Menschen, daß ihnen das Urteil, jemand oder etwas sei faschistisch, sehr leicht über die Lippen kommt. Als faschistisch läßt sich fast alles abtun, was einem mißfällt: die Kronenzeitung; der Hausmeister; diverse Sprüche von Privatpersonen, den Umgang mit Langhaarigen, Gastarbeitern und Arbeitslosen betreffend; auch Verhaltensweisen im Liebes-, Ehe- und Familienleben; Äußerungen von Politikern; Philosophen und Literaten und deren Weltanschauungen usw. …
Ohne jetzt bestreiten zu wollen, daß das alles durchaus etwas mit Faschismus zu tun haben kann – das läßt sich nur an den einzelnen Urteilen selbst, die solchermaßen qualifiziert werden, entscheiden –, eines an diesem Vorwurf ist seltsam: Die Äußerungen und Taten, die so kritisiert werden, werden dabei gar nicht auf ihren Inhalt und Grund geprüft, sondern es wird vorab ihre Ungehörigkeit festgestellt. Würde man Aussagen wie „Frauen gehören in die Küche“ oder „Für die heutige Jugend wäre wieder einmal ein Arbeitsdienst fällig, damit sie lernen, was arbeiten heißt“ auf ihren Inhalt untersuchen und sich überlegen: Wie kommt jemand auf solche Gedanken?, so würde man geschwind bei unseren heutigen – demokratischen Zuständen landen, und dem Willen der Menschen, sich in ihnen einzurichten. Man könnte diese Sprüche daher mit genauso gutem Grund als demokratisch bezeichnen, wie man sie für faschistisch erklärt. Diese Einsicht wird aber gerade vermieden, wenn mit dem Etikett „faschistisch“ behauptet wird: Diese Haltung oder Aussage ist nicht vereinbar mit demokratischen Sitten, ein Verstoß gegen sie, ein Überbleibsel, das ausgemerzt gehört, damit sich alles zum Guten wende.

Hartnäckig hält sich der Glaube, die häßlichen Verlaufsformen und Ergebnisse demokratischer Herrschaft hätten mit ihr überhaupt nichts zu tun, sondern stellten vielmehr etwas dar, das nicht zu ihr gehört: Entweder „Ewiggestriges“ oder einen Vorläufer schlimmer Zeiten, gegen die DIE DEMOKRATIE verteidigt gehört. Um mich selbst auch einmal eines Bildes zu bedienen: Der Faschismus erfüllt im demokratischen Denken die Funktion des Mistkübels oder der Rumpelkammer, wohin man allen Unrat wirft, der beim Sichten des trauten Heims das Auge beleidigt – damit sich eben dieses Heim nachher um so sauberer präsentieren möge. Es ist also der Wunsch, sich in seinem Staat, seinem Untertanenverhältnis heimisch zu fühlen, der den Faschismusvorwurf so beliebt macht.

In der politischen Sphäre bewährt sich der Glaube an die „eigentliche“ Güte demokratischer Herrschaft insofern, als er eine grundlegendere Kritik an den Institutionen des bürgerlichen Staates und ihrer Rolle in bezug auf die Durchsetzung des Kapitalverhältnisses gar nicht erst aufkommen läßt. Deswegen ist und bleibt der Antifaschismus eine von oben durchaus anerkannte und geförderte Veranstaltung.
In der Privatsphäre ist der Faschismusvorwurf nichts weiter als eine intellektuelle Spielart von Arschloch! – eine ganz subjektive Abqualifizierung des anderen, die nichts anderes beinhaltet als die Feststellung: „Du paßt mir nicht!“ und über die Angabe von Gründen längst schon erhaben ist – eine ganz normale Beschimpfung eben.
Im demokratischen Geistesleben schließlich ist die Unterscheidung zwischen „faschistisch“ und „demokratisch“ identisch mit der Festlegung von „verboten“ und „erlaubt“ (um nicht zu sagen: geboten). Die Unterordnung des Geistes unter bestimmte Maßstäbe ist hier gefordert, und den Übergang „faschistisch“ = „undemokratisch“ = „totalitär“ beherrschte (zumindest zu Zeiten, wo dieses noch aktuell war,) jeder, der sich des Faschismusvorwurfs bediente – und schon war der Seitenhieb auf den Realen Sozialismus geglückt, der diese Staatenwelt mit dem Faschismus gleichsetzte und zu einer Art Herrschaft erklärte, die einen einzigen Verstoß gegen die Menschennatur darstellte. Dieser Übergang hat sich zu einer ganzen Theorie, der Totalitarismustheorie entwickelt, und war insofern besonders widerlich, als gerade die Gegnerschaft gegenüber dem Kommunismus genau zu den Dingen gehört, in denen sich Faschisten und Demokraten völlig einig sind.

Die erwähnten Maßstäbe, denen der Geist sich oft so willig akkomodiert, ergeben sich aus der Parteigängerschaft mit der demokratischen Staatsgewalt, und mit ihnen soll eine Deutung der Welt eingeführt werden, die die bestehenden Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse nicht antastet.*3 (Ein wenig anders ist der Antifaschismus bei Lukács zu beurteilen – einem Mann, der seine geistige Heimat in einem sozialistischen Staat gefunden hat.)

 

2.2. Zum Verhältnis von Geist und Macht

Die Ansicht, irgendein Schriftsteller, Dichter, Philosoph oder ähnliches habe dieses oder jenes politische System hervorgebracht bzw. ihm den Weg geebnet, gibt es nicht nur in Anschauung Nietzsches. Ganz allgemein pflegt man in den Geisteswissenschaften alle Staatssysteme von irgendwelchen „Gründervätern“ abzuleiten, und je nachdem, ob es sich um ein mißliebiges Staatswesen handelt oder um eines, für das man Partei ergreifen will, werden diese geistigen Väter dann besprochen.
Handelt es sich um ein Staatswesen, das man ablehnt, wie den Faschismus oder den Sozialismus, so lauten die Fragestellungen: Wer ist schuld? bzw. vornehmer: wer ist verantwortlich? oder, (wenn man den Täter bereits gefaßt hat,) wie sehr ist X dafür verantwortlich zu machen? So läßt sich z.B. gegen Karl Marx vorbringen, er hätte Stalin „hervorgebracht“ – auf Umwegen zwar, so genau will es ohnehin niemand wissen, wie das zugegangen sein soll – aber das genügt bereits für die beabsichtigte Stellung zu ihm: Stalin ist abzulehnen, daher kann auch Marx nicht der näheren Beschäftigung wert sein, man hat sich im Gegenteil vor dergleichen Scharlatanen in Acht zu nehmen.
Genauso kann man es bei Nietzsche machen, durch die Behauptung, er sei ein Vorläufer Hitlers gewesen, – mit dem gleichen Ergebnis: Unbegriffen bleibt dabei, was Faschismus überhaupt ist, worin er seine Gründe hat, warum die Nationalsozialisten an Nietzsche Gefallen gefunden haben, ebenso braucht sich niemand mehr mit der Philosophie Nietzsches näher auseinandersetzen: Er ist abgetan.

Dieser Vorgangsweise liegt eine recht absichtsvolle Verwechslung des Verhältnisses von Geist und Macht zugrunde. Es mag ja durchaus sein, daß jemand das, was er in einem Buch (oder mehreren) gelesen hat, zum Anlaß nimmt, seine Anschauungen neu zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern – damit das aber jemals eine politische Bedeutung bekommt, muß noch einiges geschehen. Dieser Mensch muß erstens beschließen, daß das, wovon er überzeugt ist, als Staatsprogramm durchgesetzt werden muß, und er muß zweitens mit dieser Durchsetzung Erfolg haben. Und das ist allemal eine Frage der Gewalt. Denn Staatswesen werden mit Gewalt eingerichtet und aufrechterhalten, davon zeugt jeder Polizist, der mit der Waffe an der Seite durch die Straßen promeniert; und sie lösen sich nicht friedlich auf, noch weichen sie freiwillig einem anderen „System“, weil es sich als „menschenfreundlicher“ oder „überlegener“ erweist.

Wer von dem Unterschied zwischen Gedanken und Gewalt nichts wissen will, sondern alles als eine Form der „Beeinflussung“ bestimmt, leistet damit zweierlei: Erstens kann jeder geäußerte Gedanke, der einem nicht ins Konzept paßt, mit den Attributen „bedenklich“ bis „gefährlich“ belegt werden – jeder soll also gefälligst überlegen, ob das, was er sagt, auch verfassungstreu und nicht etwa polizeiwidrig ist. Zweitens aber ist über die tatsächliche Politik und ihre täglichen Gewaltakte eine Generalabsolution ausgesprochen: Sie werden allesamt zu ungelösten „Problemen“ erklärt, zu deren „Lösung“ es unbedingt der Geisteswissenschaften bedarf. Sodaß dann die Handlangerdienste, die diese Wissenschaftler tatsächlich für die Aufrechterhaltung ihres jeweiligen Staatswesens leisten oder zu leisten vermeinen, als ihr Gegenteil, nämlich als Versuch, die Gewaltanwendung zu verringern, bezeichnet werden. Damit wird der Eindruck vermittelt, als sei das Einsperren, Prügeln und militärisch abgewickelte Umbringen im großen Maßstab auf Irrtümer, Verirrungen und Desinformation zurückzuführen und würde, wäre dem nicht so, überhaupt nicht stattfinden. Und es wird im weiteren so getan, als wären Geschichtsprofessoren, Sozialarbeiter und Gerichtspsychiater nicht Angestellte des Staates, die eben ihre bestimmte Funktion für die Durchsetzung seiner Zwecke zugeteilt bekommen haben, sondern als wären das lauter verantwortungsvolle und menschenfreundliche Berufe, die einzig dazu da sind, daß die Gewalt, die ihre Grundlage ist, einmal überflüssig wird. Dies ist die Verdrehung der Tatsachen und der schöne Schein, mit dem die Kopfarbeiter ganz selbstbewußt ihrer Berufung gerecht werden.

Natürlich können auch Gedanken Elemente von Gewalt an sich haben. Ich habe (in Teil I, Abschnitt IV, 2) versucht zu zeigen, daß z.B. die Idee der Gleichheit eine ist, die nach Gewalt verlangt, weil diese Gleichheit etwas den Individuen Äußerliches ist, das gegen sie durchgesetzt werden muß. Ähnlich verhält es sich mit den anderen Idealen der bürgerlichen Gesellschaft, der Freiheit, der Gerechtigkeit; ähnlich mit den christlichen Tugenden: Die Gebote der Bedürfnislosigkeit, der Keuschheit, der Nächstenliebe können nur in Gesellschaftssystemen zu Einfluß gelangen, in denen Zwang ausgeübt wird, und sie bedürfen daher immer einer weltlichen Gewalt, die für die Aufrechterhaltung solcher Zustände sorgt.
Allein dadurch, daß sie ausgesprochen werden, entfalten sie aber nicht diejenige Wirkung, die angeblich von ihnen ausgeht: Das Reden über etwas, seis ein Stück Wirklichkeit, seis der liebe Gott, ist die harmloseste Sache von der Welt. Ihre Geltung beziehen diese Ideale und Moralgebote von dem Einfluß derer, die sich ihrer zur Rechtfertigung ihrer Herrschaft bedienen. Das gilt auch für die Rolle, die Nietzsche im nationalsozialistischen Kulturleben gespielt hat.

 

2.3. Warum gerade Nietzsche?

Die Politiker des Dritten Reiches waren große Anhänger einer deutschen nationalen Kultur. Das steht keineswegs im Widerspruch dazu, daß sie Bücher verbrannt und Bilder verboten haben: Das haben sie ja gerade deswegen getan, weil sie das, was für sie deutsch war, von allen schädlichen Einflüssen und Beigaben reinigen wollten. Sie waren für Kultur, weil sie – wie alle Staatsmänner – ihren Taten und Beschlüssen gerne den Anschein eines höheren Sinnes verleihen bzw. selber an ihre „Sendung“ und „Aufgabe“ glauben wollten.
Dabei haben sie nach vorzugsweise deutschen Geistern gesucht, die ihnen dafür dienen konnten, und sie haben unter anderem auch Nietzsche zu einem „Vordenker“ ihres Staats-, Züchtungs- und Kriegsprogramms erklärt. Das war unrichtig, denn Nietzsche war kein Antisemit; er hat, wo er gegen die Juden auftritt, ihnen lediglich vorgeworfen, das Christentum über die Welt gebracht zu haben. Das ist zwar ein eigenartiger Vorwurf, aber er zielt auf Judentum als Religion, als Denkungsart und nicht als Rassenmerkmal und hat mit dem Antisemitismus der Nationalsozialisten nichts zu tun. Nietzsche hat keine Vorschläge für KZs und Vernichtung gemacht; er hat den Krieg verherrlicht, aber nicht zu einem bestimmten Krieg geraten, von einem „Lebensraum fürs deutsche Volk“ ganz zu schweigen. All diese Dinge, auch der Kult der (Lohn-)Arbeit, sind Ergebnisse einer nationalistischen Überzeugung, die bis zur letzten Konsequenz geht, um ihre Vorstellungen durchzusetzen, um Einfluß der Nation, kriegerische Durchsetzungsfähigkeit und inneren Frieden zu sichern, und dabei gegen alle Hindernisse, die es ausgemacht hat, rücksichtslos vorzugehen.

Daß die Nationalsozialisten Nietzsche benützt haben, ist ebensosehr absichtlich wie zufällig: Er eignet sich so gut oder so schlecht wie die meisten anderen Denker des 19. und angehenden 20. Jahrhunderts, die Hitler und seine Anhänger vorgefunden haben. Einige von ihnen sind durch ihre jüdische Abstammung, andere dadurch, daß sie einfach keine Deutschen waren, um die zweifelhafte Ehre gekommen, in die nationalsozialistische Geisteswelt eingemeindet zu werden.

Seltsam mutet es zunächst an, daß gerade Nietzsche bis heute in dem Ruf steht, er hätte sich dafür besonders gut geeignet. Mindestens ebenso beliebt war immerhin im Dritten Reich ein Dichter namens Johann Wolfgang von Goethe, dem noch nie jemand den Vorwurf gemacht hat, er sei ein „Wegbereiter des Faschismus“ gewesen. Sein „Faust“ galt Baldur von Schirach und Herrmann Göring als das deutsche Buch*4 überhaupt, Goethe als der deutsche Dichter, die „Faust“-Aufführung mit Gründgens als Mephisto gehört bis heute zur Theatergeschichte, – woher die sichere Überzeugung der Nachwelt, daß Goethe von den Faschisten „mißbraucht“ worden ist, während Nietzsche schon irgendeine Eignung für seine Indienstnahme aufweisen muß?
Die Antwort ist nicht schwer: Die feine Unterscheidungsfähigkeit bei der Betrachtung der verschiedenen großen Geister, die damals Konjunktur hatten, ist dem Interesse, das heute an ihnen besteht, geschuldet. Es liegt an der Aktualität der Botschaften, die sie für „uns“ heute bereithalten. Der eine ist heute wie damals Pflichtlektüre an allen Mittelschulen, seine „Problematik“, die diejenige des bürgerlichen Individuums in Reinkultur ist, soll der lieben Jugend heute wie damals nahegelegt werden, während die Zweifel, die Nietzsche hegte, eher solchen Individuen zugänglich gemacht werden sollen, die man bereits für moralisch derartig gefestigt hält, daß sie von solchem „zersetzendem Denken“ nicht mehr „aus ihrer Bahn geworfen“ werden können.

 

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*1 Das Zitat heißt übrigens richtig:

     „Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!“ (1)

Der Zeichner Paul Flora steuert eine eigene, unfeministische Interpretation dieses Ausspruches bei (im Nietzsche-Gedenkhaus in Sils-Maria zu bewundern:) Hier sieht man Nietzsche vor einem etwas entsetzten Fräulein knien und ihm die Peitsche zur gefälligen Benützung anbieten.

*2 Nur so haben Vorwürfe überhaupt einen Sinn: Indem man auf einen selbstverständlichen Konsens baut und alle Angesprochenen an ihn erinnert. Wer im normalen Leben einen Vorwurf macht, unterstellt bei dem, an den sich dieser Vorwurf richtet, nichts weniger als daß er eigentlich einer Meinung mit ihm zu sein hätte. Der Vorwurf z.B., jemand sei ein Faschist /Dogmatiker/Faulpelz geht von der Voraussetzung aus, daß der andere kein Faschist/Dogmatiker/Faulpelz sein will – sonst würde er ja sagen: na eben! und? und der, der den Vorwurf ausgesprochen hat, würde dumm dreinschauen.

Vorwürfe haben also nur dann eine Wirkung, wenn sie nicht stimmen. Überflüssig sind sie deswegen aber nicht.
Gegenüber einem verstorbenen Philosophen, der seine Meinung ohnehin nicht mehr ändern, seine Fehler nicht mehr korrigieren kann, wirken sie besonders absurd. Der Schein trügt aber. Sie haben hier wie sonst immer den gleichen Zweck, nämlich den unterstellten Konsens zu bekräftigen. Das, was sich gehört, was anständig ist, wird wieder einmal betont, und es wird von den anderen eingefordert. Mit Vorwürfen wird immer Unterwerfung unter Wertmaßstäbe gefordert. Und da das überhaupt nichts Selbstverständliches ist, – warum soll man immer anständig sein wollen? – ist das Tun-als-ob durchaus nichts Überflüssiges. Nur so kann man nämlich überhaupt für Moralität Werbung machen.

*3 Denn was die betrifft, sind die Gemeinsamkeiten mit dem Faschismus nicht zu übersehen: Im III. Reich wurden schließlich weder die Schule noch die Ehe, noch Justiz und Polizei, weder das Privateigentum noch die Lohnarbeit abgeschafft – auch ein Heer ist keine Besonderheit, die nur ein faschistischer Staat aufweisen würde. Die Nationalsozialisten haben eben alle diese Einrichtungen in ihrem Sinne effektiviert, und das soll aus heutiger Sicht einen Mißbrauch von ihnen darstellen. Damit ist gleich klargestellt, daß der rechte Gebrauch dieser Dinge ansteht, daß Heiraten und Kinderkriegen, Gehorchen und Arbeiten, Wehrdienst und Steuerzahlen nach wie vor gefordert sind und überhaupt nicht zur Debatte stehen.

*4 Ein Buch, zu dem Nietzsche bemerkte:

„Man muß den Deutschen ihren Mephistopheles ausreden: und ihren Faust dazu. Es sind zwei moralische Vorurteile gegen den Wert der Erkenntnis.“ (2)

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(1) Also sprach Zarathustra, 4/86

(2) Die fröhliche Wissenschaft, 3/501

 

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weiter zu: II. Teil, III. Abschnitt: Die Nietzsche-Rezeption

 

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