Was ist eigentlich in Ungarn los?

 

In letzter Zeit war öfter von Ungarn die Rede. Man merkt an der Berichterstattung über dieses Land, daß es eigentlich niemanden interessiert, solange es sich still und unauffällig verhält. Man könnte fast meinen, es liegt nicht neben Österreich, sondern irgendwo weit weg. Ergreift jedoch seine Regierung, wie es in letzter Zeit öfter geschehen ist, Maßnahmen, die womöglich gegen „unsere“ – selbstverständlich nationalen – Interessen oder bei uns übliche Benimm-Dich-Regeln verstößt, so erhebt sich ein Schrei der Entrüstung: Ja, dürfens denn des?

Zu den sogenannten nationalen Interessen ist nur zu bemerken: – wem gehört schon eine Bank dort, oder wer will in Ungarn publizieren? Das ist nur deswegen anzumerken, weil sich diverse Leute hier so benehmen, als wären sie mindestens Unternehmer mit Zweigstellen in Ungarn, Mitaktionäre an in Ungarn beteiligten Unternehmen, oder generell Betroffene all der gesetzlichen Änderungen, über die hier – oft eben etwas irreführend – berichtet wird.

Gegen diesen Chor der entrüsteten Ignoranten hier einmal eine etwas solidere Information und Analyse.

1. Der Rotschlamm

2. Die Sondersteuern

3. Die angestrebte Wende

4. Die Pensionskassen

5. Das Staatsbürgerschaftsgesetz (und einiges zur Lage der Roma)

6. Das Mediengesetz

7. Die Jobbik und ihre Anhänger

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1. Der Rotschlamm

Anfang Oktober 2010 ist in Westungarn der Damm eines Beckens mit Rotschlamm, einem industriellen Abfallprodukt, geborsten und der Inhalt hat zwei Dörfer überschwemmt. Es gab 9 Tote, um die 50 Verletzte, die Hautverätzungen erlitten hatten, und der Schaden für die Bewohner und die Umwelt ist bis heute weder endgültig festgestellt noch beseitigt.
Diesen Vorfall wollen wir hier einmal besprechen, weil er erstens eine außergewöhnliche Katastrophe in Europa darstellt und auch einiges über die wirtschaftliche Lage und Politik in Ungarn verrät.

Rotschlamm ist ein Abfallprodukt der Aluminiumerzeugung. Aluminium wird im Grunde in zwei Schritten hergestellt. Das aluminiumhältige Erz, der Bauxit, wird abgebaut, zerkleinert und mit Natronlauge behandelt. Dadurch bilden sich – mittels eines weltweit anerkannten und angewendeten Verfahrens, dem sogenannten Bayer-Verfahren – Tonerde (Aluminiumoxid) und Rotschlamm. Das Aluminium wird dann im zweiten Schritt aus der Tonerde mittels Elektrolyse gewonnen. Der Rotschlamm enthält Elemente, die im Bauxit ebenfalls vorhanden sind: Eisen und verschiedene andere Metalle, die mit der Natronlauge Verbindungen eingehen, die ihre Gewinnung in Reinform sehr erschweren, wie das Eisenoxid, von dem er seine rote Farbe erhält. Der Rotschlamm enthält also im Prinzip wertvolle Mineralien, die jedoch in chemischen Verbindungen vorliegen, die die Absonderung dieser Metalle sehr kompliziert und deshalb kostspielig gestaltet – weswegen es diesbezüglich bisher offenbar keine Experimente gab.
Der Rotschlamm ist hochgiftig, vor allem wegen seines Natronlaugenanteils. In verschiedenen europäischen Ländern, z.B. in Deutschland, wird deshalb (in vermutlich sehr umständlichen Verfahren) die Natronlauge wieder von den übrigen Bestandteilen getrennt und der relativ kompakte Rest in der Bauindustrie verwendet, vor allem im Straßenbau. Das war in Ungarn nie üblich, und deshalb gibt es mehrere solcher giftiger Rotschlammbecken in Ungarn, wie z. B. auf dem Gelände des inzwischen stillgelegten Aluminiumwerkes von Almásfüzítő. Ein kleineres solches Rotschlammbecken befindet sich in Mosonmagyaróvár. Insgesamt sollen 55 Millionen Tonnen von dieser Substanz in ganz Ungarn lagern.

Dammbruch ...


In sozialistischen Zeiten gab es ein Abkommen mit der Sowjetunion, demzufolge die durch die Behandlung mit Natronlauge gewonnene Tonerde in die Sowjetunion transportiert und dort das Aluminium mittels Elektrolyse gewonnen und dann in den in Ungarn benötigten Mengen wieder rückimportiert wurde.
Nach dem Zerfall des Comecon wurde der Bauxitabbau zurückgefahren, das Werk in Almásfüzítő geschlossen und das restliche in Ungarn erzeugte Aluminiumoxid in Inota bei Székesfehérvár mittels Elektrolyse zu Aluminium verarbeitet. Ungarn hatte Bauxitvorkommen, und die Aluminiumindustrie war einer der wenigen Zweige des Bergbaus bzw. der Metallurgie, der den Systemwechsel 1989 – wenngleich in verringerter Größe – überstanden hat, in Form der seit 1995 privatisierten Ungarischen Aluminium AG (MAL). Inzwischen ist das Bauxit in Ungarn jedoch ziemlich im Schwinden begriffen, weswegen die Aluminium AG sich 2004 in Bosnien, und vor einigen Jahren auch in Montenegro an Bauxitbergwerken beteiligt hat.

Die Elektrolyse ist ein sehr energieintensives Verfahren. Heute, im Rahmen der globalisierten Wirtschaft wird die Elektrolyse vor allem in Gebiete ausgelagert, wo Strom mittels dort vorhandener Energiequellen (Öl, Wasserkraft) relativ günstig hergestellt werden kann, wie in die Golfstaaten.
Auch in Island wurde beschlossen, die einheimischen Energiequellen auf diese Art und Weise zu verwerten, und deshalb wird inzwischen Tonerde aus Australien und Brasilien nach Island gebracht und dort zu Aluminium verarbeitet.

Die Aluminiumerzeugung in Inota bei Székesfehérvár wurde 2006 eingestellt, weil die nationalen und internationalen Rahmenbedingungen sich drastisch verschlechtert hatten. Der Aluminiumpreis war gefallen, ebenso der Dollar gegenüber dem Euro. Noch dazu war der Forint gegenüber dem Euro gestiegen. Die Liberalisierung der Stromnetze und die damit einhergehende Spekulation in Ungarn hatte den Importstrom aus Tschechien verteuert. Erhöhten Kosten bei der Produktion standen also fallende Weltmarktpreise gegenüber. In Inota wurden damals 700 Leute entlassen.

In Österreich wurde an zwei Standorten Elektrolyse betrieben. Im salzburgischen Lend bis 1992, im oberösterreichischen Ranshofen bis 1993. In beiden Fällen wurde das Aluminiumoxid importiert, da in Österreich seit 1964 kein Bauxitabbau mehr stattfindet. Das weitaus größere Ranshofen war vor seiner Schließung der größte Stromverbraucher Österreichs und der Beschluß der österreichischen Regierung, den Strom für Ranshofen nicht mehr zu subventionieren, bedeutete das Aus für die Aluminiumherstellung.
Die beiden Aluminiumfirmen SAG und AMAG verarbeiten heute nur mehr importiertes Aluminium, übrigens recht erfolgreich: Die AMAG plant einen Börsengang, den ersten seit vier Jahren an der Wiener Börse. Das von ihr importierte Aluminium stammt aus einem kanadischen Werk, an dem die AMAG zu 20 % beteiligt ist.

Der Aluminiumkonzern Alcoa (USA) betreibt in Ungarn einige Fabriken, in denen Aluminium verarbeitet wird und war vor einer Entlassungswelle 2009 der 12-t-größte Arbeitgeber in Ungarn, mit ungefähr 3000 Beschäftigten. Auch der Betrieb in Ajka hat um die 3000 Beschäftigte. Wahrscheinlich war Alcoa bis 2006 Abnehmer des im Werk in Inota erzeugten Aluminiums. Die Schließung der Elektrolyse in Inota hat also die Produktionskette unterbrochen und vermutlich auch den Standort Ungarn für Alcoa weniger attraktiv gemacht.

Die Situation der ungarischen Aluminiumfirma MAL präsentierte sich daher zum Zeitpunkt des Dammbruchs folgendermaßen: Wegen des Schwindens der Bauxitvorkommen in Ungarn muß ein Teil des Rohstoffes importiert werden, damit die Anlage ausgelastet ist. Das Vorprodukt – die Tonerde – muß jedoch für seine Weiterverarbeitung exportiert werden. Die Website der MAL ist recht verschwiegen darüber, wohin sie inzwischen die Tonerde zur Weiterverarbeitung ausführt. Es ist jedoch aufgrund der Kapitalarmut dieses Betriebes und dem Umstand, daß er in einem Weichwährungsland angesiedelt ist, ziemlich unwahrscheinlich, daß er sich so locker wie die AMAG in einem ausländischen Elektrolyse-Werk einkauft, sich dadurch diversifiziert und am nächsten Produktionsvorgang beteiligt, anstatt für ihn zu bezahlen.
Noch dazu ist das Becken, in dem der Rotschlamm gelagert wird, eigentlich voll, und es erscheint schwierig bis unmöglich, ein zweites anzulegen. Entweder es gibt keinen Platz dafür, oder es ist einfach zu teuer für die Firma. Es gab angeblich bereits Warnungen von Angestellten, die Risse im Damm wahrgenommen hatten, diese wurden jedoch von der Betriebsleitung ignoriert. Auch nachdem der Damm gebrochen und wieder notdürftig geflickt worden war, war es nicht ohne Risiko, den von den Rettungsmannschaften angelieferten Rotschlamm wieder in das Becken einzufüllen, weshalb vermutet werden kann, daß ein Teil davon woanders gelandet ist.

und wo das Zeug dann hingeflossen ist ...


Der Betrieb in Ajka produziert weiter Aluminiumoxyd und Rotschlamm und entlastet nächtlicherweise das Becken, indem er Rotschlamm in einen benachbarten Bach einleitet.
Umweltaktivisten haben eine Probe des Rotschlamms in einem österreichischen Labor untersuchen lassen. Dabei wurde eine ungewöhnlich hohe Arsenkonzentration festgestellt, die die Vermutung entstehen läßt, daß auch andere industrielle Abfälle in dieses Rotschlammbecken eingeleitet worden sind.

Vielleicht noch einiges zur Umweltsituation in Ungarn. Um nach der Wende Kapital ins Land zu locken bzw. das einheimische Unternehmertum zu ermutigen, hat Ungarn versucht, sich unter anderem mit sehr großzügiger Handhabung von Umweltschutzbestimmungen attraktiv zu machen. Die Umstände, unter denen privatisiert wurde, gehören auch dazu: Das Rotschlammbecken gehört gar nicht der Aluminiumgesellschaft MAL, sondern sie darf es nur benützen. Es untersteht entweder der Gemeinde Ajka, oder einer Nachbargemeinde, oder dem Komitat, oder einer anderen Behörde, die überhaupt für Becken dieser Art zuständig ist. Es ist also weder klar, wer für den Zustand des Beckens verantwortlich ist, noch ist klar, wer eigentlich für den durch den Dammbruch entstandenen Schaden zuständig ist und aufkommen muß. Deshalb kamen auch die Räumungsarbeiten eher schleppend in Gang, und die ersten, die dort Messungen durchgeführt haben, waren nicht ungarische Behörden, sondern Greenpeace.
Auf Googles Satelliten-Landkarte sieht man neben dem Rotschlamm-Becken noch andere Becken, mit „Grauschlamm“ und anderen Substanzen, die alle für die Bewohner der Umgebung nichts Gutes verheißen.

Die ungarische Regierung hat zunächst einmal einen nationalen Katastrophenfonds eingerichtet, was das Eingeständnis beinhaltet, daß dergleichen jederzeit wieder passieren kann. Dann wurde sich auf starke Regenfälle berufen, die angeblich den Dammbruch verursacht haben. Selbst wenn es so gewesen wäre, so wäre das sehr beunruhigend, denn regnen tut es ja öfter – wenn dann jedesmal der Damm bricht ...
Es gab diese Regenfälle aber gar nicht, sondern diese Behauptung war nur ein Versuch, für die Schadensbekämpfung den EU-Katastrophenfonds anzuzapfen, der sich ausdrücklich auf Naturkatastrophen bezieht. Dieser Schnorrversuch Ungarns wurde von der EU sehr brüsk zurückgewiesen.
Die EU-Behörden haben überhaupt auf diese Katastrophe sehr cool reagiert. Es wurde zu einer innerungarischen Angelegenheit erklärt, mit der Ungarn selber fertig werden muß. (Das ist insofern bemerkenswert, als andere Maßnahmen der ungarischen Regierung, wie die Bankensteuer oder das Mediengesetz, großes Echo erzeugt haben, obwohl der Schaden für die Bevölkerung demgegenüber gering bis Null ist.)

Das einzig Vernünftige vom Standpunkt der betroffenen Dörfer Kolontár und Devecser wäre, die Fabrik sofort zu schließen und den Rotschlamm irgendwie unschädlich zu machen. Das ist aber aus mehreren Gründen nicht möglich. Erstens aus dem, was die Schönheit unseres Wirtschaftssystems ausmacht: Die Firma würde zugrunde gehen und 3000 Leute würden arbeitslos, was sich Ungarn einfach nicht leisten kann. Zweitens, dem nachgeordnet, aus technischen Gründen: Die in Deutschland übliche Methode, die Schwermetalle von der Natronlauge zu trennen, war in Ungarn nie üblich, es fehlen dafür die nötigen Einrichtungen, und weder die Firma noch der Staat haben das Geld, sie zu schaffen. Eine andere Art der Aufarbeitung von Rotschlamm ist jedoch nicht bekannt. Die ungarische Regierung hat jetzt Forschungsprogramme in Auftrag gegeben, wie man die Schwermetalle (Eisen, Blei, Arsen, Gallium und andere) vom Rest isolieren und profitabel weiter verwerten kann. Ungarische Chemiker sind also jetzt dazu aufgerufen, Verfahren zu entwickeln, wie dieser Industrieabfall aufgearbeitet werden kann.

Solange diesbezüglich keine Ergebnisse vorliegen, wird aus dem vollen Becken, das übrigens ca. 14 Meter tief ist, der Überschuß in den bereits völlig toten Torna-Bach eingeleitet. Von dort aus gelangt diese giftige Substanz in die Raab, und von dort in die Donau, aus der die flußabwärts gelegene 2-Millionen-Stadt Budapest ihr Trink- und Nutzwasser bezieht, ebenso andere an der Donau gelegene Ortschaften und Städte.

Die ganze Angelegenheit wirft ein Licht auf die internationale Arbeitsteilung und darauf, wie postsozialistische Staaten darin eingebunden sind. Giftige und schädliche Industrien haben dort ihren Platz. Man muß nicht mehr bis Indien oder Afrika gehen, um sich Produkte wie die Tonerde zu beschaffen. Der Profit, der aus der Weiterverarbeitung der Metalle entsteht, bleibt bei denjenigen internationalen Konzernen, die den Markt seit geraumer Zeit beherrschen. (Ähnliches gilt z.B. für die Goldproduktion in Rumänien, man erinnere sich an den Dammbruch von Baia Mare im Jahr 2000, als Cianyd in die Theiß und später in die Donau gelangte und eine Umweltkatastrophe in Rumänien, Ungarn, Serbien und Bulgarien verursachte.) Die Schäden, die dabei entstehen, bleiben in diesen Ländern und betreffen die „alten“ Länder der EU nicht. Die EU erklärt sich für unzuständig und verweist die Aufarbeitung der Schäden in die nationale Kompetenz der betroffenen Mitgliedsstaaten.

Zum Schluß noch ein historisches Detail: Die Bauxitgewinnung begann in Ungarn in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit deutschem Kapital. Die Bauxitvorkommen in Westungarn, in der Bakony und deren Umgebung wurden Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre erforscht. 1938 wurden in Ajka und Mosonmagyaróvár Fabriken zur Gewinnung von Tonerde errichtet. Das Bauxit wurde zunächst größtenteils im Oberflächenverfahren, erst später durch Schächte gefördert. Mit weiterem deutschen Kapital wurden in Budapest weiterverarbeitende Betriebe errichtet. Ungarn wurde nach dem 1. Wiener Schiedsspruch (November 1938) zum Verbündeten Deutschlands. Aluminium in Reinform wurde zwar kaum in Ungarn hergestellt, aber das ungarische Bauxit, Alaun (eine Aluminiumverbindung, ein weiteres Vorprodukt) und Tonerde wurden als wichtige Elemente der deutschen Kriegsindustrie in großen Mengen an Deutschland geliefert.
Bauxit und Aluminiumvorprodukte waren, neben Soldaten, zur Vernichtung verschickten Juden, und Lebensmitteln der Preis, den Ungarn für die Landesvergrößerung zu zahlen hatte.
Nach der Potsdamer Konferenz wurde alles Deutsche Eigentum der Kriegsverlierer-Nationen Eigentum der Besatzungsmächte. So ging der Bauxit-Bergbau und die Aluminium-Industrie in das Eigentum der Sowjetunion über und wurde später im Rahmen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit innerhalb des RGW weiter ausgebaut.
Dies nur als Ergänzung, angesichts der Beschwerden ungarischer Patrioten, die die Ursache des Übels in der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion sehen. Weder heute, noch in seinen Anfängen war die SU Subjekt der Aluminiumproduktion.


2. Die Sondersteuern

Seit Juli vorigen Jahres hat die ungarische Regierung einen Haufen Sondersteuern erlassen: erst wurde im Juli eine besondere Bankenabgabe erlassen. Im Oktober wurde eine Sondersteuer auf Fernsprechgebühren, eine „Krisensteuer“ für den Kleinhandel und eine Sondersteuer für Energieversorgungsunternehmen eingeführt. Die betroffenen Firmen beschweren sich, daß diese Sondersteuern hauptsächlich ausländische Unternehmen betreffen.
Was bewegt die ungarische Regierung zu diesen Steuern?
Reden wir doch zunächst einmal darüber, was Steuern überhaupt sind.

Steuern sind neben der Verschuldung die wichtigste Einnahmequelle des Staates. Die braucht er unbedingt, um sich seine vielen Ausgaben – Panzer, Polizisten, Professoren, und was es da sonst noch gibt (Ärzte, Lehrer usw.) leisten zu können.
Außerdem sollen sie auch so etwas wie ein Steuerungsmittel für die Wirtschaft: Durch Verschärfungen da, Erleichterungen dort will ein Staat oft Anreize schaffen für Investition und Geschäftsbelebung.
Schließlich sind und bleiben sie, ganz gleich, um welche Steuern es sich handelt, Abzug von Reichtum der betroffenen Personen und schränken die Kaufkraft ein, oder gefährden die Gewinne der Unternehmer.

In der Frage der Steuern haben sich Staaten in den letzten Jahren einiges überlegt und auch gehandelt. In Österreich (und den meisten EU-Ländern) wurde z.B. die Vermögenssteuer abgeschafft, um zu verhindern, daß die betuchten Mitglieder unserer Gesellschaft ihre Spargroschen in irgendwelchen Steuerparadiesen parken, anstatt es im Inland zu lassen und dort anzulegen.
Weiters gibt es die sogenannte Körperschaftssteuer, eine Steuer für Unternehmen, deren Handhabung sich, soweit sich das uns als unbeteiligten Beobachtern erschließt, immer lockerer gestaltet, je größer und gewinnträchtiger ein Unternehmen ist. Vor allem die großen internationalen Wuchtbrummen haben aller möglichen Rechtstitel, um sich dieser Steuer zu entziehen, durch Geltendmachen ausländischer Verluste im Inland, usw. Außerdem wird diese Steuer selten exekutiert oder durch Inkasso eingefordert, man kann sich also jahrelang Zeit lassen, um sie zu begleichen – solange das Unternehmen groß genug ist und gute Anwälte hat. Viele Unternehmen haben deshalb große Steuerrückstände.
Dann gibt es diverse Verbrauchssteuern – Getränke-, Umsatz-, Mineralölsteuer, usw. Die muß jeder zahlen, der etwas kauft. Von diversen Idealisten des Sozialstaats und einer imaginären Verteilungsgerechtigkeit werden sie gern als „unsozial“ bezeichnet, weil sie eben jeder ungeachtet seines Einkommens bei jedem Akt des Konsums blechen muß. Diese Steuern und deren Erhöhung sind dennoch immer bei den jeweils an der Macht befindlichen Politikern sehr beliebt, weil sie keine bestimmte Bevölkerungsgruppe gegen einen aufbringen und angeblich „sehr gerecht“ alle treffen, also keine Wählerstimmen kosten.
In Österreich wurde voriges Jahr die Erhöhung der Grundsteuer diskutiert. Mit der Grundsteuer wird einfach die Verfügung über irgendeine Immobilie mit einer Steuer belegt. Das trifft Fabriksbesitzer, deren Fabrik natürlich auch irgendwo steht, und Hausbesitzer, die aus Vermietung Einnahmen erzielen, sowie Grundbesitzer, die aus Pacht Einkommen haben genauso wie einfache Wohnungsbesitzer und Landwirte. Der Staat sagt: Wer sich Grundeigentum leisten kann, soll gefälligst dafür an uns was zahlen! Derzeit spießt sich die Idee bei uns an den Bauern, deren Einnahmen sich im Durchschnitt ständig verringern, bei gestiegenen Treibstoff- und Pachtzahlungen, und wo bei Erhöhung der Grundsteuer Existenzen auf dem Spiel stehen.
Und schließlich gibt es diejenige Steuer, die die meisten Leute im Auge haben, sobald die Rede vom „Steuerzahler“ ist: Die Einkommenssteuer. Bei Lohnabhängigen wird sie gleich an der Quelle abgezogen, aus dem Bewußtsein heraus, daß sonst womöglich am Monats- oder Jahresende nichts mehr da ist, woran sich der Staat bedienen kann, weil alles verbraucht worden ist.
Andere hingegen haben so gute Verdienste, daß sie sie vor der Steuer verstecken und in irgendwelche Steueroasen verschieben.

Damit kommen wir zur Schere zwischen Schulden und Staatseinkünften und der Steuerlast in Ungarn.

Ungarn war zur Zeit der Wende das sozialistische Land mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung. Die erste gewählte Regierung wurde gleich von Anfang vom IWF und diversen „Beratern“ mehr oder weniger gelenkt: Keine Subventionen, keine „unkontrollierte“ (also nicht vom IWF genehmigte) Geldausgabe, und möglichst alles und jedes besteuern, um solide Einnahmen zu haben! Auf diese Art und Weise wurde die ungarische Landwirtschaft und Industrie systematisch ruiniert, um Konkurrenten aus dem Weg zu schaffen. Gleichzeitig jedoch verlangten die begehrten Investoren, die die ungarischen Regierungen ja unbedingt ins Land holen wollten, nicht nur billige und willige Arbeitskräfte und die Zerschlagung der Gewerkschaften, sondern auch Steuerfreiheit, zumindest für die ersten paar Jahre, um sich überhaupt erst zur Ausbeutung von Land und Leuten zu bequemen. (Nach diesen steuerfreien Jahren brechen die Multis meistens ihre Zelte ab, gehen in ein anderes Land und machen es dort genauso.) Und so blieb die Steuerlast bei den Normalverbrauchern und ungarischen Kleinunternehmern hängen. Angesichts der niedrigen Löhne, des Kapitalmangels der einheimischen Unternehmen und der hohen Arbeitslosigkeit stellen die Steuern zwar für die von ihnen Betroffenen einen gewaltigen Abzug dar und lassen viele Unternehmen gar nicht erst zustandekommen, sie verschaffen aber der Staatskasse eher dürftige Einnahmen.

Die Einkommenssteuer ist in Ungarn progressiv und daher bei besser bezahlten Jobs so hoch, daß alle Leute mit irgendeiner verwertbaren Qualifikation ihr Heil im Ausland suchen und dadurch ein ziemlicher Brain-Drain entstanden ist, der inzwischen z.B. die medizinische Versorgung aufs Spiel setzt: Immer mehr Ärzte und Krankenschwestern kehren Ungarn den Rücken und hinterlassen damit Löcher im Gesundheitswesen.

Ungarn war 2008 fast pleite und ist es im Grunde immer noch. Schon die vorige Regierung unter Gordon Bajnai hat – als Teil des vom IWF verordneten Rettungspakets – ziemliche Steuererhöhungen durchgeführt: Das betraf vor allem die Verbrauchssteuern, und wurde von EU-Beobachtern und IWF-Mitarbeitern gelobt, als höchst vernünftig und ein Schritt in die richtige Richtung. Diese Steuern, die übrigens nach wie vor in Kraft sind, haben zur Folge, daß Benzin und oft auch Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs teurer sind als in Österreich, bei Löhnen und Gehältern, die ein Viertel bis ein Drittel der hierzulande üblichen ausmachen.

Und angesichts dieses Szenarios sagte die 2010 gewählte ungarische Regierung: Holen wir uns doch das Geld von denen, die es haben! – und es erhebt sich weltweit ein Geschrei. Besonders in Österreich, weil österreichische Banken und andere Firmen besonders eifrig an der Aussaugung Ungarns beteiligt sind.

Wegen der Steuer auf Fernsprechgebühren-Gewinne wurde von der Deutschen Telekom bereits eine Klage bei der EU-Kommission eingelegt.

Was haben Banken, Telekommunikations-Unternehmen, Einzelhandel und Energieversorger gemeinsam, daß sie alle mit Sondersteuern bedacht werden?

Eine der Dinge, die sie gemeinsam haben, ist das, daß von ihnen Ungarn nicht als Produktionsstandort, sondern als Markt anvisiert wird. Sie kommen nicht, um eine Produktion anzuleiern, eine Fabrik hinzustellen oder auch nur handwerkliche oder landwirtschaftliche Kleinbetriebe ins Leben zu rufen. Sondern sie setzen – im Falle der Banken – darauf, daß fast jeder ein Gehaltskonto und mancher einen Kredit braucht, und Firmen ihren Zahlungsverkehr mit dem In- und Ausland sicher und rasch abwickeln wollen. Im Falle der Telekom-Firmen verlassen sie sich darauf, daß die Menschen privat miteinander schwatzen wollen, und Betriebe aller Art ein funktionsfähiges und leistungsstarkes Telefonnetz und Internet-Anschlüsse brauchen. Ähnlich ist es mit der Energie. Die Bewohner Ungarns müssen heizen und kochen, hin und wieder wollen sie duschen, und eine Industrie gibt es auch noch, die mit Öl und Strom versorgt werden will. Und dann gibt es noch einen Lebensmittelhandel, Baumärkte und Schuhketten, die sich auch an dem bedienen wollen, was die Leute woanders verdient haben.

Einerseits stellen diese Unternehmen somit die für die Marktwirtschaft unverzichtbare Infrastruktur her. Es ist schon klar: Wenn man wo nicht telefonieren kann oder es nicht einmal Warmwasser gibt, so hat das verwöhnte internationale Kapital keine Freude mit einem solchen Standort. Es ist aber der Selbstbetrug aller, die auf Infrastruktur (und Bildung, und niedrige Steuern, usw.) als Mittel des Erfolges der Nation beharren, daß dieser sich damit auch sicher einstellen werde. Also, so heißt die moderne Legende, wenn die Infrastruktur einmal da ist, so kommen die Investoren auch bald. Und dann gibt es blühende Landschaften. Diese Gleichung ist ja auch anderenorts nicht aufgegangen, sodaß die EU jetzt eine wachsende Menge von praktisch zahlungsunfähigen Staaten aufweist, die einen Haufen Schulden haben, der größtenteils für diesen von allen möglichen Institutionen propagierten Ausbau der Infrastruktur aufgenommen wurden.

Über diesen Umstand ist in Ungarn eine gewisse Ernüchterung eingetreten, und deswegen sollen diese Firmen jetzt für die Geschäfte, die sie zweifelsohne machen, auch etwas abliefern an die Staatskasse. Die ist nämlich unter anderem deswegen so leer, weil Ungarn sehr viele Schulden dafür aufgenommen hat, um diese Infrastruktur zu finanzieren – ähnlich wie Griechenland, Portugal usw.

Was ist von dem Vorwurf zu halten, diese Steuern träfen vor allem ausländische Unternehmen, seien somit eine nationalistische, engstirnige und ausländerfeindliche Maßnahme, die Ungarn als Standort unattraktiv machen wird?

Die betroffenen Firmen sind zwar größtenteils ausländische Firmen, aber das liegt daran, daß in allen sozialistischen Staaten jahrzehntelang eben kein Kapital da war und nach der Wende aus dem Ausland gekommen ist. Das ist in anderen Staaten, wie der Slowakei oder Rumänien ebenso. In Staaten wie Rußland, die über Rohstoffe aller Art verfügen, und außerdem über eine Rüstungsindustrie, die schon vor der Wende auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig war, ist das anders: Da gibt es auch einheimische Unternehmer, Oligarchen, wie man weiß.

Die ungarische Regierung trifft mit diesen Steuern also keine speziell feindselige Maßnahme gegen ausländisches Kapital. Sie hat selber darauf hingewiesen, daß unter den Banken immer noch die größte, die deshalb auch am stärksten zur Kasse gebeten wird, die ehemalige staatliche Sparkasse OTP ist.Unter den Energieversorgern ist die ebenfalls mehrheitlich ungarische MOL der größte Einzahler in die Staatskasse.

Außerdem gibt es ja auch ausländische Firmen, die in die Produktion investiert haben, wie Suzuki oder General Motors, und die weiterhin steuerlich mehr begünstigt sind als viele ungarische Kleinunternehmen. Die Regierungspartei Fidesz weiß genau, daß sie auf ausländisches Kapital angewiesen ist, und will das auch im Land halten oder anlocken. Sie macht nur eine Trennung und sagt: Erstens, wir brauchen Geld, weil die Staatskasse ist leer. Also bitten wir die zur Kasse, die etwas drin haben. Und dann gibt es noch die feine Unterscheidung: solche, die nur unseren Konsumenten das Geld aus der Tasche ziehen, aber zum Wohle der Nation nichts beitragen, die sollen auch ordentlich was zahlen! Die können sich auch nicht so einfach woandershin absetzen, weil die wollen ja hier was verdienen.

Damit trifft die ungarische Regierung eine praktische Unterscheidung zwischen zwei Sorten von Kapital, die ein wenig an den altbekannten und schlecht beleumundeten Unterschied von raffendem und schaffendem Kapital erinnert. Dieser Unterschied kommt immer dann auf, wenn Krise herrscht, wenn die Ergebnisse der unternehmerischen Tätigkeit sich in den Bilanzen der Nation negativ zu Buche schlagen.

 

3. Die angestrebte Wende, die Ungarns Regierung herbeiführen will

Die Diagnose: Es fehlt an Moral! Korruption, Diebstahl, und vaterlandslose Gesellen haben sich breitgemacht

Die jetzige Regierungspartei hat ihren vorjährigen Erdrutschsieg dadurch herbeigeführt, daß sie es verstanden hat, den Wählern ihre Sichtweise des nationalen Mißerfolges nahezulegen, und sich als die Kraft zu präsentieren, die den Ausweg aus der Misere hinkriegen wird.

Die Diagnose von Fidesz, woran Ungarn krankt, ist relativ einfach, bewegt sich im Rahmen weltweit üblicher Betrachtungsweisen und lautet: Korruption und Lügen! Die vorherigen Regierungen der aus der früheren Staatspartei mutierten Sozialisten haben sich die Taschen gefüllt, das Land ausverkauft und der ungarischen Bevölkerung ein X für ein U vorgemacht, um sich selbst weiter maßlos zu bereichern! Und deswegen haben sie Ungarn heruntergewirtschaftet, aus schamlosem Eigeninteresse und ohne irgendeinen Blick für die Nöte der Menschen.

... und was daran verkehrt ist: 1. Schulden versus Diebsgut

Dieses Urteil über die Politik der vergangenen 8 Jahre, und auch der 90er-Jahre, als die sozialistische Partei MSZP auch 4 Jahre an der Macht war, hat einige Widersprüche aufzuweisen.

Erstens, wenn es wirklich so war, daß einfach nur gestohlen worden wäre, so wäre das ja kein Problem: Man holt das gestohlene Geld aus den falschen Taschen wieder in die Staatskasse, und alles ist gut.
Es wird nämlich mit diesem Urteil die falsche Vorstellung genährt, es wäre eh genug Geld da, nur am falschen Fleck. Und man müßte es nur wieder finden und an die richtige Stelle verschieben.
Was dabei völlig ausgespart wird, ist das Problem der Schulden, also der Verschuldung des Staates ebenso wie der Privaten.

Hier ein Einschub darüber, was Schulden sind. Schulden sind Vorwegnahme künftigen Erfolges, künftiger Geschäfte und Einnahmen. Wer Schulden aufnimmt, vertraut darauf, daß er sie in Zukunft zurückzahlen kann. Er ist überzeugt, daß sich seine Einkommenssituation in Zukunft so gestalten wird, daß er diese Schulden aus diesen Einkünften bedienen und irgendwann auch zurückzahlen kann.

Wenn ein Staat Schulden aufnimmt, so tut er das in der Überzeugung, daß seine Wirtschaft sich positiv entwickeln wird, daß er aus seinen Steuereinnahmen genug Mittel erhält, um erstens seine Schulden bedienen zu können und zweitens weiter kreditwürdig zu sein, also durch die Aufnahme neuer Schulden die alten begleichen zu können. So gehen alle Staaten der Welt vor. Während jedoch bei erfolgreichen Nationen und solchen, die über eine auf dem internationalen Geldmarkt anerkannte Währung verfügen, das Problem der Kreditwürdigkeit gering eingeschätzt wurde und teilweise auch wird, stellt sich bei Staaten, die beides nicht haben, zunehmends ein Problem der Schuldentilgung durch Neuaufnahme von Schulden: Sie verlieren ihre Kreditwürdigkeit, und die aufgelaufene Schuldenlast gefährdet ihre Handlungsfähigkeit und ihre Währung.
Wenn ein Unternehmen Schulden macht, also Kredit aufnimmt, so geht es davon aus, daß es mit seinen Geschäftserfolgen, die durch den Kredit angeleiert werden, Gewinn macht, und zwar in einem Ausmaß, das sowohl das Unternehmen voranbringt als auch die Bedienung des Kredits ermöglicht.
Wenn ein gewöhnlicher Sterblicher Kredit aufnimmt, so ist das schon eine sehr riskante Sache. Denn er nimmt Geld auf für Konsum-Vorhaben, die er sich aus seinen Einkünften gar nicht leisten kann. Er vertraut darauf, daß sein Einkommen aus Gehalt oder Lohn stabil bleibt und er aus diesen Einkünften den Kredit, den er für den Kauf einer Wohnung, eines Autos oder einer Waschmaschine aufgenommen hat, auch bedienen kann. Diese Berechnung geht genau in dem Augenblick schief, in dem sich an seiner Einkommenssituation etwas ändert, durch Entlassung, Krankheit, Scheidung und Ähnliches.

In Ungarn sind alle drei Arten von Kreditnehmer in Nöten: Der Staat erstickt unter seiner Schuldenlast, viele Unternehmen gehen reihenweise pleite oder stehen kurz davor, und was die privaten Kreditnehmer betrifft, so gibt es z.B. über 150.000 Hypothekarkredite, die nicht bedient werden können und deren Inhabern die Exekution droht.

Über die Schulden-Situation könnte man noch mehr sagen, aber hier nur soviel: Das Urteil, überall wäre gestohlen worden, geht an dieser Schuldenproblematik völlig vorbei. Das Geld, was bei den Kreditnehmern fehlt, ist nirgends. Es ist Geld, das in Hoffnung auf die Zukunft geschaffen worden ist, und aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung im Grunde verraucht ist, sich in Luft aufgelöst hat.

2. „Ausverkauf“ versus Verhandlungsgeschick

Ein anderer Vorwurf, der mit dem der Korruption verbunden ist, ist der, es hätte eine Art Ausverkauf stattgefunden, also Unternehmen wären unter ihrem Wert verkauft worden, oder ausländische Unternehmen hätten bei Investitionen in Ungarn Bedingungen erhalten, die sich für die ungarische Wirtschaft als nachteilig herausgestellt hätten, auch alles natürlich deshalb, weil die Verantwortlichen Schmiergeld einkassiert hätten.

Ohne den Umstand der Bestechung bestreiten zu wollen, ist auch dieses Urteil falsch. Es zeichnet ein verkehrtes Bild über das Interesse und Vorgehen des internationalen Kapitals. Mit dem „Ausverkaufs“-Vorwurf wird nämlich ein Bild der Vorgangsweise von multinationalen Firmen gezeichnet, demzufolge es nur an dem Verhandlungsgeschick und der Beharrlichkeit der Regierungen läge, für beide Seiten vorteilhafte Bedingungen zu erzielen.
Die Wahrheit ist umgekehrt: Die ganze Welt bietet sich an, von Südkorea über Indien bis Südafrika und Lateinamerika, und auch die ganze früher sozialistische Welt: Ich bin billiger! Ich hab die bessere Infrastruktur! Meine Arbeitskräfte sind besser ausgebildet und willfähriger! Zu diesen „Angeboten“ gesellt sich auch eine Schwächung oder Zerschlagung aller gewerkschaftlichen Organisationen, bei der sich Ungarn auch hervortut. Den Gewerkschaften, sofern vorhanden, werden die Mittel entzogen, sie werden rechtlich kleingemacht, Streiks werden kriminalisiert, und alle Forderungen nach Lohnerhöhung, Arbeitslosengeld oder Pensions-Bedingungen. Und hier hat Fidesz keineswegs Veränderungen zum Besseren vor, sondern übernimmt dankend alle Vorarbeit ihrer Vorgänger-Regierungen, die auf diesem Gebiet einiges geleistet haben.
Also: Die eigene Bevölkerung wird absichtlich „ausverkauft“, weil die Regierung sich dadurch Standortvorteile erhofft. Ebenso die vorhandenen Rohstoffe, die Infrastruktur, die Energie. Die sonderbesteuerten Unternehmen sind ein wichtiger Teil derjenigen Vorzüge, mit denen die Regierung Ungarn für das internationale Kapital attraktiv machen will, und hier greift sie gern auf die Vorarbeit ihrer so geschmähten Vorgänger zurück.

3. Über Wahrheit und Lüge

Der dritte Vorwurf, der den vorher regierenden Sozialisten gemacht wird, ist der der Lüge. Sie hätten ihrer Bevölkerung keinen reinen Wein eingeschenkt, sondern ihnen Versprechungen gemacht, die unhaltbar waren.

Damit ist zunächst einmal eine ganz übliche Praktik des demokratischen Wahlkampfes angesprochen. Während der Wahlen wird oftmals alles mögliche versprochen, daß man nach der Wahl aufgrund leider leider! plötzlich aufgetretener „Sachzwänge“ nicht einlösen kann.

Das Problem der politischen Lüge hat jedoch in Ungarn eine weitere Dimension.

Ausgelöst wurde die ganze Debatte über Wahrheit und Lüge durch eine Rede des früheren Regierungschefs Ferenc Gyurcsány auf einem Parteitag der Sozialistischen Partei in Balatonöszöd im Frühjahr 2006, deren Text dann im Herbst desselben Jahres in verschiedenen Medien veröffentlicht wurde und bürgerkriegsähnliche Zustände in Ungarn ausgelöst hat.
Gyurcsány wollte damals eine Wende innerhalb der sozialistischen Partei einleiten, und von der Linie der ständigen Versprechungen zu einer Haltung des Reinen-Wein-Einschenkens überleiten. Im Grunde wollte er damit genau so eine Wende einleiten, wie sie Fidesz jetzt anstrebt. Die Veröffentlichung der Rede wurde jedoch als eine Bankrotterklärung der sozialistischen Partei aufgefaßt und führte zu ihrer völligen Diskreditierung.
Diese Rede, die Umstände, unter denen die gehalten wurde, und die Folgen, die sie hatte, werfen jedoch ein bezeichnendes Licht auf die grundlegende Lüge, mit der Ungarn seit 1989 kämpft: Die Lüge nämlich, daß das Wegschmeißen des sozialistischen Systems, das Ungarn aktiv betrieben hat, und die Übernahme der Marktwirtschaft und die Eingliederung ins kapitalistische Weltsystem Ungarn voranbringen würde.
Alle Regierungen seit der Wende, ungeachtet ihrer politischen Ausrichtung und ihrer Koalitionspartner, haben an dieser Lüge festgehalten, und die Partei Viktor Orbáns tut das gleiche: Sie erklärt alle Widrigkeiten, unter denen die Bewohner Ungarns leiden und an denen sie sich abstrampeln, zu einem bloßen Problem der verkehrten politischen Führung, mit dem sie jetzt aufräumen will. Das ist die Grundlage der ungarischen Parteienkonkurrenz, an der alle Parteien festhalten, so sehr sie auch zerstritten sein mögen: Die Welt ist im Grunde in Ordnung, der Kapitalismus ist eine feine Sache. Wenn er in Ungarn miese Ergebnisse zeitigt, so liegt das einzig und allein an der falschen Politik, die hierzulande betrieben wird. Und an mangelnder Führung. Viktor Orbán will ein richtiger Führer sein, der Ungarn durch konsequente nationale Führung rettet und groß macht.

Dabei lügt sie natürlich auch, aus den oben angeführten Gründen.

Die Fidesz-Partei hat zum Beispiel im Wahlkampf versprochen, einen Haufen neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Das ist ein schwer einzulösendes Versprechen. Die Zeiten sind lang vorbei, in denen ein sozialistischer Staat mit seiner Wirtschaft eins war, wo alle also alle Entscheidungen von der regierenden Staatspartei getroffen wurden. Da beschloß das ZK oder eine Kommission für Wirtschaftsfragen, wo eine Fabrik hingebaut wird, und was für Produkte die Kolchose XY im nächsten Jahr anbauen soll. Diese Art von „Kommandowirtschaft“ lehnen alle im ungarischen Parlament vertretenen Parteien selbstverständlich aus vollem Herzen ab.
In der Marktwirtschaft geht das mit den Arbeitsplätzen anders. Da hat sich der Staat aus der Wirtschaft zurückgezogen und reguliert nur mehr, mit Gesetzen und Subventionen. Um so mehr heute, als wir eine Welle von Privatisierungen hinter uns haben und Staatseigentum überhaupt als ein Unding gilt und auch kaum mehr existiert.
Die Schaffung von Arbeitsplätzen obliegt der Regierung jedenfalls nicht. Ein Arbeitsplatz kommt heute dadurch zustande, daß ein privater Unternehmer sich ausrechnet, in dieser oder dieser Sparte einen Gewinn zu machen, und dafür so und so viel „Mitarbeiter“ braucht, wie das heute so schön heißt. Entweder er stellt sie legal an und zahlt auch alle Steuern und Abgaben, oder er heuert Schwarzarbeiter an und produziert am Fiskus vorbei. Dazwischen gibt es noch Mischformen: Studentenjobs, Leiharbeiter, Saisonkräfte. Der Arbeitsmarkt ist heute sehr flexibel, und nicht nur in Ungarn. Diese unternehmerische Entscheidung zu Firmengründung oder Betriebsausweitung kann eine Regierung kaum beeinflussen, und auch mit diesem Problem kämpft Ungarn bereits seit der Wende: Man macht alle möglichen Angebote ans internationale Kapital, dieses entscheidet jedoch sehr frei darüber, von welchen Lockrufen es sich betören läßt, und von welchen nicht. Steuerpolitik, Wirtschaftsförderung und ähnliche Turnübungen führen meistens nur dazu, daß der Staat auf Einnahmen verzichtet, ohne aber wirklich ein Mittel in der Hand zu haben, die Gründung von Unternehmen oder deren Prosperität zu fördern.

Schließlich wird die Entscheidung über eine Unternehmensgründung auch in Anbetracht des Marktes getroffen, auf dem man sein Produkt verscherbeln will. Und auch da ist die Attraktivität Ungarns endenwollend. Erstens ist es mit 10 Millionen Einwohnern ein kleines Land, und zweitens ist es sehr arm. Das ungarische Bruttoinlandsprodukt beträgt weniger als ein Drittel des österreichischen, bei gleichzeitig mehr Einwohnern. Dazu kommt noch das Problem der Sprache. Während für Österreich keine eigenen Sprachkenntnisse nötig sind und Rumänien sich in Fragen des Konsums als italienische Kolonie präsentiert, muß der ungarische Markt viel aufwendiger bearbeitet werden.

Alles keine guten Voraussetzungen für die Wende, die sich die Partei Viktor Orbáns vorgenommen hat.

4. Die praktischen Folgen: Säuberung des Staatsapparates

Die verkehrte Sichtweise der Marktwirtschaft, die Fidesz durchgesetzt hat, und die damit einhergehenden Schuldsprüche haben natürlich praktische Folgen. Die Regierung verkündet nicht nur, sie handelt auch.

Das Urteil, daß die vorherige Regierung völlig korrupt war und die jetzige Regierung deshalb jetzt aufräumen muß, begnügt sich nicht damit, jetzt an die Macht gekommen zu sein und alles besser zu machen. Die vorigen Mistkäfer hatten ja Handlanger, und diesen Sumpf muß man austrocknen, damit die eigenen Maßnahmen „greifen“.
Angesagt sind also Säuberungswellen im Staatsapparat. Im Frühjahr vorigen Jahres wurde ein Gesetz erlassen, demzufolge Beamten ohne besonderes Federlesens entlassen werden können. In Folge dessen wurden in den Bildungsinstitutionen, im Kulturbereich und im Sozialwesen ein Haufen Leute hinausgeworfen, von denen viele aufgrund ihres Alters und ihrer Ausbildung kaum mehr irgendwo unterkommen werden und eine absolute Hungerleider-Pension beziehen. Gegen etablierte Geisteswissenschaftler wurden Verfahren wegen Veruntreuung von Projektgeldern eingeleitet. Die restlichen Lehrer, Schuldirektoren, Wissenschaftler und Verwaltungsbeamten wurden damit in eine Abwartestellung versetzt: Das Damoklesschwert der Entlassung schwebt über allen, die nicht die richtige nationale Gesinnung aufweisen. Im Kulturbereich wird über Subventionen und Ernennungen von Kulturschaffenden eine Begradigung zur Förderung „nationaler Inhalte“ und ähnliches versucht, eine echt heimische Kultur zu schaffen. Alle diese Maßnahmen erinnern an die McCarthy-Ära in den USA, das Komitee für unamerikanische (hier eben für unungarische) Umtriebe. Die Nation soll über solche Maßnahmen gestärkt und durch die Scheidung von der Spreu vom Weizen von antinationalen Elementen gereinigt werden.
Was die völlig verelendete Provinz betrifft, so sollen hier über eine Verwaltungsreform die regionalen Behörden „gesundgeschrumpft“ und dadurch Geld gespart werden, das man dann für andere Maßnahmen wie Wirtschaftsförderung und Standortpflege einsetzen kann. Damit gehen wieder einige der ohnehin spärlichen Erwerbsmöglichkeiten in den Gemeinden verloren, und das Elend und die Kriminalität wächst.

 

Fortsetzung: Verstaatlichung der Pensionskassen usw.

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