Bevor wir zur voriges Jahr erfolgten Verstaatlichung der Pensionskassen schreiten, einmal ein kurzer Rückblick dorthin, wie diese privaten Kassen überhaupt entstanden sind. Das sogenannte „gemischte System“ der Pensionsvorsorge wurde 1997 eingeführt. Bereits in Arbeitsverhältnissen stehende Angestellte konnten wählen, ob sie sich in das neue System begeben, für neu Eingestellte war es verpflichtend, einen Teil ihrer Pensionen in diese privaten Kassen einzuzahlen. Die Möglichkeit der ersten Gruppe, sich zu entscheiden, war mit Ende August 1999 befristet. Für den ungarischen Staat bedeutete das von da ab ein großes Loch im Budget: Die angetretenen Pensionen mußten ausgezahlt werden, bei starker Abnahme der Einzahlungen. Dieses Loch vergrößert sich seither natürlich von Jahr zu Jahr. Man muß hier herausstreichen, daß private Pensionsvorsorge bereits vorher möglich war – da haben vor allem österreichische Versicherungen alles mögliche angeboten. Das besondere dieser 1997 ins Leben gerufenen Pensionskassen war die Verpflichtung, die eigenen Beiträge diesen Fonds zu überantworten. Ab dem Stichtag mußte jeder neu Angestellte dort einzahlen. Sie gelten daher als 2. Säule der Altersvorsorge, neben 1./staatlich, und 3./freiwillig. Es ist wichtig, sich das vor Augen zu halten, weil heute in den Medien hierzulande gern so getan wird, als würde die freiwillige Entscheidung der Einzahler, sich eine Privatversicherung zuzulegen, sozusagen negiert und aufgehoben. Die privaten Pensionskassen (2007 waren es 18, 2010 19 Stück) haben einen hohen Verwaltungsaufwand. Nach Abzug der Inflationsrate hatten sie nach eigenen Angaben im Jahr 2007, also noch vor Ausbruch der Finanzkrise, einen Ertrag von 1,6 bis 5,4%. Der Beschluß der ungarischen Regierung, diese Pensionsfonds wieder zu verstaatlichen, wurde damit begründet, daß sie am „Rande des Bankrotts“ gestanden wären. Von allen Gegnern der Verstaatlichung wurde das als Propagandalüge abgetan. Es kann aber durchaus auch etwas dran sein, zumindest bei einigen von ihnen. Sie haben die Einlagen, so wie alle Fonds auf der Welt, natürlich in diversen Wertpapieren veranlagt, und was sich auf diesem Gebiet seit der Finanzkrise getan hat, ist ja jedem hinlänglich bekannt. Es ist also durchaus vorstellbar, daß bei einigen dieser Fonds kleinere oder größere Löcher aufgetreten sind. Aber die gleichen Analysten und Fachleute, die jetzt ein Geschrei anfangen, welch ein Verstoß gegen die Freiheit des Eigentums diese Maßnahme doch sei, würden gar nichts dabei finden, wenn der eine oder andere dieser Fonds in ein paar Jahren, wenn er anfangen müßte, Pensionen auszuzahlen, bei der ungarischen Regierung anklopfen würde: Äh, hm, bei uns ist leider einiges schiefgegangen. Wir brauchen einen Zuschuß aus der Staatskasse, um unseren Verpflichtungen genügen zu können. Von allen möglichen Anhängern der Freiheit des Marktes wird diese Maßnahme auch dadurch kritisiert, daß die Regierung damit „nur“ das Loch in der Staatskasse stopfen wollte und das Defizit verringern bzw. sogar einen Überschuß erzielen wolle. Das mag ja auch durchaus so sein (in diesem Falle müßte allerdings noch einiges da sein bei den Pensionsfonds, also von wegen „am Rande des Bankrotts“), aber was heißt „nur“? Wenn die Staatskasse so leer ist, daß weder für sozialstaatliche Maßnahmen, noch für Wirtschaftsförderung, noch für die bloße Finanzierung des Staatsapparates genug da ist, so ist es doch begreiflich, wenn eine Regierung versucht, von irgendwo das Geld herzubekommen, damit der Laden weiterläuft. Hier noch etwas zum Populismus-Vorwurf, der Orbán gerne gemacht wird: Während früher bei diesem Vorwurf eher die Wortwahl und das Bedienen demokratisch nicht genehmer Sichtweisen angesprochen waren, bezieht er sich heute recht eindeutig auf den geforderten Umbau des Sozialstaates und den Umgang mit nicht mehr gebrauchter Bevölkerung: Wer sich wehrt, Teile seiner Bevölkerung über das Sozialwesen einfach abzuschreiben und zur Kenntnis zu nehmen, daß die nur mehr ein Ordnungsproblem darstellen, aber nichts mehr zur Wirtschaft oder der Nation beitragen; wer also versucht, die schwindenden Ressourcen aus der Staatskasse zur Aufrechterhaltung seiner Gesellschaft und Förderung seiner Wirtschaft einzusetzen, ist ein „Populist“, der im Grunde das ganze Weltwirtschaftssystem gefährdet. Das heißt keineswegs, daß jemand, dem dieser Vorwurf gemacht wird, wirklich ein Menschenfreund wäre, oder ihm die Obdachlosen oder Sozialhilfe-Empfänger irgendwie leid täten. Nein, es genügt inzwischen, daß jemand wie Viktor Orbán sagt: Ungarn hat bitteschön auch Interessen als Staat, als Nation, und geht nicht im Dienst am internationalen Kapital auf. Dann ist er ein „Populist“. Allerdings zeigen sich inzwischen auch Nachteile dieser Verstaatlichung: Die ungarischen Schatzscheine, eine Form von kurzfristigen und handelbaren Staatsschuldverschreibungen, sinken im Preis und finden schwerer Käufer, weil einer der Abnehmer die Pensionsfonds waren! Es ist eben nicht ohne Risiko, aus dem nationalen Kreditkarussell ein Element herauszunehmen. Da stellt sich nämlich heraus, daß der ganze Kreditapparat nichts anderes als ein System von wechselseitigen Stützungen, Garantien und Zahlungsversprechen ist. Eine andere Frage ist, was der ungarische Schritt für internationale Folgen haben wird. Die Betreiber der Pensionsfonds wollen die Zwangsverstaatlichung vor EU-Gerichten bekämpfen. Dort wäre es ein Präzedenzfall. Das EU-Recht ist im Grunde für Außenstehende wie für sogenannte Experten undurchschaubar. Um was es geht, ist jedenfalls Folgendes: Mit der Einrichtung privater Pensionsfonds ist die damalige Regierung internationale Verpflichtungen eingegangen, ohne das jedoch explizit in Vertragsform festzulegen. Es ist auch, da im Völkerrecht vieles Auslegungssache ist, sehr fraglich, ob so eine Maßnahme überhaupt bindend ist, weil eine Angelegenheit, die eigentlich in die nationale Kompetenz fällt – die Altersvorsorge – zum Gegenstand internationaler Spekulation gemacht wird. Österreich hat übrigens ein solches Pensionssystem nie eingeführt. Es gibt das staatliche verpflichtende Pensionssystem, daneben Firmenpensionen, die in die Kompetenz der Unternehmen fallen, und einen freien Markt für private Altersvorsorge. Das ist ein Hinweis darauf, daß ein Staat, dem das Wasser nicht bis zum Hals steht, sich auf ein solches System gar nicht erst einläßt.
5. Das Staatsbürgerschaftsgesetz Im Herbst vorigen Jahres wurde im ungarischen Parlament mit überwältigender Mehrheit (auch von der Opposition) ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz abgesegnet, das mit Anfang dieses Jahres in Kraft getreten ist. Demzufolge kann jede Person, die ungarische Abstammung und die Beherrschung der ungarischen Sprache nachweisen kann, und nicht vorbestraft ist, die ungarische Staatsbürgerschaft beantragen. Ein ständiger Wohnsitz in Ungarn ist, entgegen vorherigen Entwürfen, nicht nötig.
Dieses Gesetz hat einige unmittelbare praktische Konsequenzen. Wer immer nach diesem Gesetz die Staatsbürgerschaft erhält, hat damit alle Rechte, die auch den Bürgern Ungarns zustehen. Einzig für das Wahlrecht ist angeblich ein ständiger Wohnsitz notwendig, aber es wird sich erst erweisen, wie streng oder locker diese Bestimmung gehandhabt wird. Eine der Absichten der Regierung ist es also, sich Wähler zu sichern für die nächste Wahl: Schauts, wir nehmen euch auf, wählt uns doch bitte! Das Gesetz hat sehr viel Kritik seitens der EU hervorgerufen, die darin natürlich sofort die Absicht der ungarischen Regierung erkennt, ihren Einfluß über die Landesgrenzen auszudehnen. Und das wird einem Land wie Ungarn nicht zugestanden.
Man muß jedoch dazu bemerken, daß eine Vorgangsweise wie die in Ungarn in einigen der „alten“ EU-Staaten durchaus üblich war und ist. Man erinnere sich an Deutschlands „Aussiedler“-Programm, wo die Abstammung allein genügte, um Bürger der Ex-Sowjetunion nach Deutschland zu locken. In diesem Fall waren nicht einmal Sprachkenntnisse erforderlich. Auch für Bürger Polens gab es einmal – vor dem EU-Beitritt Polens – ein Programm, nach dem sich diese als Deutschstämmige registrieren lassen konnten, allerdings ohne Einbürgerungsbewilligung. Was jedoch allgemein bei Ungarn empört, ist der Umstand, daß sich darin die Aufmüpfigkeit eines zweitrangigen Staates äußert, der nicht nur mit seinem Volk, sondern auch mit seinen Landesgrenzen unzufrieden ist, und damit auch noch dazu innerhalb der EU Unfrieden stiften kann. In den Nachbarstaaten Ungarns, denen ihre Bürger somit prinzipiell bestritten werden, waren die Reaktionen sehr unterschiedlich. Als letztes Nachbarland bleibt Österreich. Der Minderheitenvertreter der Ungarn in Österreich hat sich geschwind bemüht zu betonen, daß das ungarische Staatsbürgerschaftsgesetz in Österreich „nicht gültig“ sei.
Zum Schluß, obwohl sie vom Staatsbürgerschaftsgesetz nicht unmittelbar betroffen sind, einiges zur Situation der ungarischen Roma. Sie sind sozusagen die Statisten des Staatsbürgerschaftsgesetzes, der ungarischen Bevölkerungspolitik, und dadurch auch davon betroffen: Sie sind diejenigen Leute, die die Mehrheit der ungarischen Parteien gerne loswerden würde – man weiß nur nicht wohin. Die Roma hatten im sozialistischen Ungarn eine eigenartige Stellung. Sie wurden als Volksgruppe in Evidenz gehalten, hatten jedoch nicht den Status einer anerkannten Minderheit, wie die Slowaken, Rumänen usw. Eine anerkannte Minderheit zu sein bedeutete Schulunterricht in der eigenen Sprache zu erhalten, Radio- und Fernsehsendungen zu erhalten, und jede Menge Subventionen für Traditionspflege. Diesen Status genossen die Roma ausdrücklich nicht: Ihre Traditionen und Kultur, ungeachtet der vielen Zigeunerkapellen, wurden von der sozialistischen Führung offenbar nicht als Elemente des Volkstums geschätzt. Die meisten der Roma sind nie wieder in ein Anstellungsverhältnis getreten. Erstens gibt vor allem auf dem Land kaum Jobs, weshalb auch die Landflucht groß ist. Zweitens will niemand Zigeuner anstellen. Die Roma bringen sich daher mit Gelegenheitsarbeiten, Sozialhilfe und Kindergeld, Flurdiebstahl und anderer Kleinkriminalität durch.
Anfang dieses Jahres ist auch ein neues Mediengesetz in Kraft getreten, mit dem auch eine Medien-Aufsichtsbehörde eingerichtet wurde. Während überall die Wogen hochgingen, daß hier die Pressefreiheit, eine besonders heilige Kuh der Demokratie, in Frage gestellt, gefährdet und ähnliches sei, macht sich, ähnlich wie bei den Pensionsfonds, niemand die Mühe nachzuschauen, was eigentlich der Grund für ein solches Gesetz ist, wie also die ungarische Medienlandschaft aussieht, und warum das bei der Regierungspartei Unzufriedenheit hervorruft. Schauen wir uns doch einmal verschiedene Bestimmungen des ungarischen Mediengesetzes an. Eine der Bestimmungen ist, daß bei den kommerziellen Medien die Berichterstattung über Verbrechen 20 % nicht übersteigen darf. Die Reklame-Sendungen, die mitten in einer Sendung eingespielt werden, dürfen die Lautstärke der Sendung selbst nicht überschreiten. Wer den Haß schürt gegen ethnische, gesellschaftliche oder religiöse Minderheiten, einzelne Personen, oder kirchliche Institutionen, macht sich strafbar. Weiters soll sich um die seriöse Aufarbeitung der Nachrichten bemüht werden, die Ungarische Presseagentur wird damit betraut, und auch Privatsendern wird angeblich vorgeschrieben, mehr Nachrichtensendungen in ihr Programm einzubauen. Aus all diesen bisher aufgezählten Bestimmungen ersieht man eines: Die Medien, ob Fernsehen, Radio oder Zeitungen, sind in Ungarn nicht so beschaffen wie bei uns oder in Deutschland, und dieser Umstand verärgert die ungarische Regierung. Die Zusammenarbeit zwischen Politik und Öffentlichkeit funktioniert nicht so, wie das zur Pressefreiheit dazugehört. Der Meinungsbildungsprozeß kann nicht in Gang gesetzt werden, aber nicht, weil die Medien anderer Ansicht wären als die Regierung, sondern weil sie deren Anliegen größtenteils links liegen lassen, und die Bevölkerung mit einer Mischung aus Seifenopern, Reality-Shows, Zeichentrickfilmen (als Babysitter-Ersatz), Verbrechensberichterstattung und Werbung zumüllen. Man muß hier vielleicht auch erwähnen, daß sich vor allem die Beitragsleister einiger wenig gelesener Intelligenzblattln über das Mediengesetz aufgeregt haben, während es sich nach seinen Bestimmungen viel mehr gegen Fernsehen und Rundfunk als gegen Printmedien richtet. Auch die ersten zwei Sanktionen im Jänner betrafen einen Fernsehsender (RTL) und ein Radio. Der für die Regierung unbefriedigende Zustand, dem mit diesem Mediengesetz abgeholfen werden soll, ist das Ergebnis zweier Umstände, die in Ungarn nach der Wende das Entstehen der Medienlandschaft bestimmten: Die Abwesenheit von Kapital und eine Vorstellung von Pressefreiheit, derzufolge in der Medienberichterstattung alles erlaubt zu sein habe. Die Tatsache, daß es kein Kapital für das Zustandekommen einer Medienlandschaft wie der österreichischen gab, hat erstens bewirkt, daß die öffentlich-rechtlichen Medien nie mit solchen Mitteln wie der ORF arbeiten konnten. Außerdem wurde das Ideal des Pluralismus auch bei der Organisationsstruktur der öffentlichen Rundfunkanstalten schlagend: In Ungarn sind öffentlich-rechtliches Fernsehen und Radio getrennt, was den Verwaltungsaufwand erhöht. Diese Trennung wird durch das Mediengesetz aufgehoben. Weder Radio noch Fernsehen können sich ein Korrespondenten-Netz leisten, wie es der ORF aufrechterhält. Wer sich in Ungarn über die Vorgänge in der großen weiten Welt informieren will, muß Fremdsprachen können und ausländische Zeitungen lesen oder sich des Internets bedienen. Dadurch sind die Nachrichtensendungen, die sich aus Agenturmeldungen speisen, relativ uninteressant und ziehen kaum Zuseher oder Hörer an. Zum Verständnis der Lage ein weiterer Vergleich mit dem ORF: Das ungarische Staatsfernsehen könnte sich auch keine Sendung wie „Universum“ leisten, oder das „Weltjournal“, weil es nicht über die finanziellen Mittel verfügt, Kameraleute und Reporter in verschiedene Teile der Welt zu schicken oder die entsprechenden Reportagen einzukaufen. Genausowenig könnte es eine Sendung wie den „Club 2“ veranstalten, weil es kein Geld dafür gibt, ausländische Geistesgrößen einzuladen, und die dann auch noch zu dolmetschen. Das alles hat dazu geführt, daß die öffentlichen Medien wenig gehört oder angeschaut werden. Die einzige Ausnahme ist das Kossuth Radio, das sich um ein gewisses Niveau bemüht, Wissenschaft und Kunst propagiert, eigene Kindersendungen macht usw. Dieser Radiosender, der mit Ö1 vergleichbar ist, beweist, daß es ein Bedürfnis nach Medien dieser Art durchaus gäbe. Es wird nur aus den bereits erwähnten Gründen spärlich bedient.
Das ungarische Fernsehen ist rund um die Ereignisse des Herbstes 2006 und der damals stattfindenden Demonstrationen zusätzlich unpopulär geworden, weil ein guter Teil der ungarischen Bevölkerung sich in diesen Medien nicht mehr repräsentiert gesehen hat. Es hat nämlich versucht, diese regierungsfeindlichen Proteste herunterzuspielen, zu verschweigen, und die gegen die Demonstranten angewendete Gewalt zu beschönigen. Ein anderes Problem stellen die privaten Medien für die Ansprüche der ungarischen Regierung dar. Nach der Wende 1989 strömte ausländisches Medienkapital nach Ungarn und wurde mit offenen Armen aufgenommen. He, kommt zu uns, bringt uns die Freiheit! Schluß mit den staatlichen Medien, mit den prefabrizierten Nachrichten, wir wollen endlich, daß alles besprochen werden kann, daß jeder sagen kann, was er will – so lautete der Tenor, unter dem ausländische Medienbetreiber in Ungarn willkommen geheißen wurden. In Ungarn wurde so etwas wie die österreichische Institution des Presserates, der Zeitungsenten und ähnliche Verstöße gegen die journalistische Ethik der Wahrheitsfindung rügt, nie geschaffen. Das ausländische Kapital, das in Ungarn in die Medien investierte, kam vor allem aus Deutschland und Frankreich, später auch aus der Schweiz. Erst waren die Printmedien interessant, später folgten die Rundfunk-Medien. Niemand in der damaligen ungarischen Regierung unter József Antall dachte an Regulierungen und Verbote. Alle waren überzeugt: Vom Westen kommt nur Gutes! Gegenüber der vorherigen angeblichen „Gängelung“ der Medien durch den Staat hielten sie jegliche von westlichem Kapital gegründete und betriebene Medien für eine Art Manna in der Wüste, dessen Investition nur positiv sein konnte und an dessen segensreicher Wirkung man nicht zweifeln durfte. Die in westlichen Staaten übliche Einrichtung des nationalen Medienzaren gibt es in Ungarn ebenfalls nicht. Zur westlichen Pressefreiheit gehören so Figuren und Medienimperien wie das von Murdoch, Springer oder Dichand selig. Eine reife Demokratie mitsamt ihrer Pressefreiheit braucht so Massenblattln wie die britische Sun, das deutsche Bild oder die österreichische Kronenzeitung, wo der Bevölkerung von einem dezidiert nationalen Standpunkt klar gemacht wird, wie sie die Welt zu sehen hat, wer gerade der Feind und Freund ist, und die mit ihren Artikeln auch die Parteienkonkurrenz beleben. Man erinnere sich an die Rolle der Kronenzeitung beim Großwerden des heutigen Bundeskanzlers, aber auch an ihre Bedeutung für die Bewerbung des „grünen“ Denkens anläßlich der Au-Besetzung in Hainburg. Ohne Krone, auch wenn das manche schmerzen wird, gäbe keine Grüne Partei in Österreich. In Ungarn gab es in den 90er Jahren Versuche, ein solches Medienimperium zu schaffen. Eine Partei, die es heute nicht mehr gibt, die Freien Demokraten, versuchten ein solches Medienkapital zu befördern, als sie damals in der Regierungskoalition waren. Der Mann, der sich zu einem ungarischen Medien-Monopolisten und Königsmacher stilisieren wollte, wurde 1998 auf der Margarethenbrücke in Budapest erschossen. Der Mord ist bis heute nicht aufgeklärt. Seine Ermordung schuldet sich angeblich dem Umstand, daß er von der Partei, die ihn groß gemacht hatte, zur Opposition überwechseln wollte. Dasjenige Massenmedium unter den ungarischen Medien, das irgendwie mit unserer Krone vergleichbar wäre, ist Blikk – eine Zeitung, deren Auflage um die 200.000 schwankt, gegenüber der Krone mit 1 Million. Der Blikk ist Eigentum der Schweizer Ringier-Gruppe, die gar keine politischen, sondern bloß kommerzielle Absichten in Ungarn hat.
Auf dem Vormarsch hingegen sind die neuen Medien und sie sind eine Domäne der Rechten. Das liegt unter anderem daran, daß es die ungarischen rechten Bewegungen, die Jobbik, die „Bewegung der 64 Komitate“ und was es noch an national bewegten Grüppchen geben mag, es besser als andere verstanden haben, die Möglichkeiten des Internets mit gewissen Bedürfnissen der Jugendkultur zusammenzubringen.
7. Die Jobbik und ihre Anhänger Das ungarische Mediengesetz richtet sich, entgegen dem, was bei uns verbreitet wird, mehr gegen die Presse der rechtsradikalen Kreise, denn die stellen für Fidesz die einzige wirkliche Konkurrenz im zukünftigen Kampf um die Macht dar. Die anderen Parteien haben sich entweder aufgelöst oder dezimiert oder sind, wie die MDF, die immerhin den ersten Ministerpräsidenten nach der Wende gestellt hat, an der 5%-Hürde gescheitert. Auch die eher farblose Newcomer-Partei LMP hat keine Chance, in diesem Wettbewerb der Patrioten und Retter des Ungarntums zu punkten. Es ist aber auch aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung in Ungarn beinahe notwendig, daß die Parteienkonkurrenz an diesem trostlosen Punkt angelangt ist. Nach der Wende erwarteten sich alle Parteien von der Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft eine Verbesserung der Lage und einen wirtschaftlichen Aufschwung. Den Niedergang von Landwirtschaft und Industrie in den unmittelbar auf die Wende folgenden Jahren betrachteten alle politischen Akteure als vorübergehende Schwierigkeit, die es zu überwinden galt. Das Paradox in Ungarn war jedoch, daß gerade diejenigen Parteien, die die Marktwirtschaft ohne Wenn und Aber propagierten, alles privatisieren wollten und die staatliche Verschuldung als ein Mittel zum Erfolg betrachteten, der sich früher oder später unweigerlich einstellen müsse – daß diese Parteien als „links“ galten und sich auch so bezeichneten. Sie leiteten dieses Markenzeichen daraus ab, daß sie selbst dem Fortschritt huldigten, das nationale und christliche Lager hingegen rückschrittlich, ja sogar primitiv sei und das Land durch seine Verbohrtheit in die Isolation treiben und zugrunderichten würde. Die wirtschaftliche Entwicklung, die Krise und das Sparpaket von 2008 haben diese sogenannte Linke jedoch völlig diskreditiert und ihr Geschwätz von Fortschritt und glänzender Zukunft als leeres Gerede entlarvt. Und die enttäuschte Bevölkerung wendete sich dem nationalen Lager zu. Der Rechtsruck in Ungarn nahm bedeutenden Schwung im Zuge von regierungsfeindlichen Demonstrationen im Herbst 2006. Fidesz selber wollte damals den Rücktritt des Ministerpräsidenten und vorgezogene Neuwahlen erzwingen und stachelte deshalb diese Proteste an. Die Polizeigewalt, die gegenüber den Demonstranten angewendet wurde, wurde von den Medien der Rechten als „anti-ungarische“ Aktion interpretiert. Damit wurde die damalige MSZP-Regierung, die dieses Vorgehen angeordnet oder zumindest gebilligt hatte, als „volksfremd“ dargestellt. Es ist nicht sicher, ob diese Sichtweise aus Fidesz-nahen Kreisen stammte, sie kam jedoch der Partei Viktor Orbáns sehr entgegen, der ja auch der MSZP-Regierung jegliche Legitimität absprach. Seit damals ist es jedenfalls durchaus salonfähig, einen Teil der Bevölkerung Ungarns als fremdes Element, Parasit an dem ungarischen Stammvolk usw. zu betrachten und offen oder verdeckt auch so zu bezeichnen, sobald irgendwelche Korruptions-Fälle oder Verbrechen in den rechten Medien breitgetreten werden. Dieses ganze Treiben war Fidesz durchaus recht, solange die Partei sich in der Opposition befand. Man konnte entweder verständnisvoll, aber doch etwas gemilderter in den Chor einfallen, der gegen die Betrüger und Schwindler angestimmt wurde, oder man konnte sich als gemäßigtes Element präsentieren, das allein den gerechten Volkszorn in die richtigen Bahnen leiten würde. Jetzt ist es anders. Fidesz ist an der Regierung, mit einer 2-Drittel-Mehrheit, und die Jobbik, die bei den Wahlen im Vorjahr zwischen 12 und 13 Prozent der Wählerstimmen erhalten haben, sind in der Opposition. Diese Position gibt ihnen viele Freiheiten, die sie auch nützen wollen und nützen werden.
Die Ereignisse der letzten Zeit, als die mit den Jobbik verbundene Garde in nordostungarischen Dörfern aufmarschiert ist, um die dortige Roma-Bevölkerung einzuschüchtern, und die relative Passivität der Regierung angesichts dieser Ereignisse haben gezeigt, daß in Ungarn inzwischen das Gewaltmonopol des Staates auf dem Spiel steht. Dieser frechen und auf Unterstützung eines Teils der ländlichen Bevölkerung zählen könnenden Miliz stehen Ordnungskräfte gegenüber, die durch diverse Sparmaßnahmen sehr ausgedünnt sind, dazu ein überlasteter Justizapparat und überfüllte Gefängnisse. So sieht es aus, das Land, das derzeit den Vorsitz der EU innehat.
Leicht modifizierter Text einer 2-teiligen Radiosendung, die im April 2011 im Radio Orange ausgestrahlt wurde. Der Artikel als Audio-Datei: Teil 1 xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxTeil 2
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