4. Die Pensionskassen

Bevor wir zur voriges Jahr erfolgten Verstaatlichung der Pensionskassen schreiten, einmal ein kurzer Rückblick dorthin, wie diese privaten Kassen überhaupt entstanden sind.

Das sogenannte „gemischte System“ der Pensionsvorsorge wurde 1997 eingeführt.
Zum Hintergrund: Ab 1995 wurde Ungarn unter der Hand als nächster Pleitekandidat nach Mexiko gehandelt, was auf jeden Fall vermieden werden mußte, weil das die ganze Eingemeindung des ehemals sozialistischen Volkswirtschaften in die Marktwirtschaft fragwürdig gemacht hätte. Also waren IWF, Weltbank und ungarische Regierung gemeinsam bemüht, sich die Gunst der Geldmärkte zu sichern. Ein wichtiger Schritt waren hier die Pensionskassen: Mit ihnen wurde dem internationalen Finanzkapital eine Möglichkeit geboten, mit den Einzahlungen der ungarischen Arbeitnehmer auf dem Wertpapiermarkt zu spekulieren. Ungarn war das erste ehemals sozialistische Land, das dieses System einführte. Es war damit sozusagen Vorreiter für die Privatisierung der Sozialsysteme in Osteuropa. In dieser Vorreiterrolle hat sich Ungarn übrigens immer sehr gefallen.
Gleichzeitig war das auch ein Pilotprojekt für IWF und Weltbank. Mit dem Deuten auf das gelungene ungarische „Modell“ gelang es dann, das auch anderen Ländern aufs Aug zu drücken. (Das Vorbild für das ungarische System der privaten Pensionsfonds war, nebenbei bemerkt, dasjenige lateinamerikanische Land, wo es als erstes eingeführt wurde: Chile unter Pinochet, 1984. Damals nahm die Privatisierung der Sozialsysteme in Lateinamerika ihren Anfang.)

Bereits in Arbeitsverhältnissen stehende Angestellte konnten wählen, ob sie sich in das neue System begeben, für neu Eingestellte war es verpflichtend, einen Teil ihrer Pensionen in diese privaten Kassen einzuzahlen. Die Möglichkeit der ersten Gruppe, sich zu entscheiden, war mit Ende August 1999 befristet.
Natürlich wurde von 1997 bis Mitte 1999 fest die Werbetrommel gerührt, mit so Argumenten wie: Wer weiß, bei der Überalterung der Gesellschaft, ob der Staat ewig die Pensionen zahlen wird können! Besser eine private Vorsorge! (Das Argument ist sehr dümmlich, weil es nur auf Leute wirkt, die glauben, der Staat kann nicht wirtschaften, und alles, was privat ist, flutscht wie von selber. Die privaten Kassen sind ja vor der Überalterung nicht gefeit, und die Vorstellung, man könnte Geld so geschickt anlegen, daß man ein Schwinden der Einnahmen stets durch erhöhte Gewinne kompensieren können wird, war immer verkehrt und ist jetzt durch die Finanzkrise endgültig ihrer Haltlosigkeit überführt worden.)

Für den ungarischen Staat bedeutete das von da ab ein großes Loch im Budget: Die angetretenen Pensionen mußten ausgezahlt werden, bei starker Abnahme der Einzahlungen. Dieses Loch vergrößert sich seither natürlich von Jahr zu Jahr.
Die privaten Pensionskassen müßten jedoch erst 2013 anfangen auszuzahlen, bis dahin durften sie „akkumulieren“.

Man muß hier herausstreichen, daß private Pensionsvorsorge bereits vorher möglich war – da haben vor allem österreichische Versicherungen alles mögliche angeboten. Das besondere dieser 1997 ins Leben gerufenen Pensionskassen war die Verpflichtung, die eigenen Beiträge diesen Fonds zu überantworten. Ab dem Stichtag mußte jeder neu Angestellte dort einzahlen. Sie gelten daher als 2. Säule der Altersvorsorge, neben 1./staatlich, und 3./freiwillig. Es ist wichtig, sich das vor Augen zu halten, weil heute in den Medien hierzulande gern so getan wird, als würde die freiwillige Entscheidung der Einzahler, sich eine Privatversicherung zuzulegen, sozusagen negiert und aufgehoben.
Noch etwas. Zur Erinnerung: In Ungarn verdienen die Leute im Durchschnitt ein Drittel bis ein Viertel des österreichischen Durchschnitts. Es kommt also in alle diese Pensionskassen sehr viel weniger hinein. Die Pensionen sind auch dementsprechend niedrig, man kann praktisch nicht davon leben und braucht ein Zusatzeinkommen oder Unterstützung durch Familienangehörige. Es ist angesichts dieser Tatsachen schon sehr dümmlich, sich die Ungarn als lauter Großverdiener vorzustellen, die dauernd auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten für ihr reichlich sprudelndes Einkommen sind.

Die privaten Pensionskassen (2007 waren es 18, 2010 19 Stück) haben einen hohen Verwaltungsaufwand. Nach Abzug der Inflationsrate hatten sie nach eigenen Angaben im Jahr 2007, also noch vor Ausbruch der Finanzkrise, einen Ertrag von 1,6 bis 5,4%.
Die Eigentümerstruktur ist so, daß sie zwar von irgendwelchen Banken betrieben werden, die Einzahler aber zu Mitgliedern werden, die als Kollektiv die Eigentümer sind, sodaß im Falle der Pleite die die Gelder verwaltenden Institute nicht haften, sondern die Einzahler durch die Finger schauen. Das ist eine Konstruktion, die alles Risiko beim Einzahler beläßt, während alle Gewinne beim Fonds-Betreiber bleiben, und eine ziemlich schamlose Ausnützung der Stellung, die diese Pensionsfonds durch diese Beitrittsverpflichtung der Arbeitnehmer erhalten haben.

Der Beschluß der ungarischen Regierung, diese Pensionsfonds wieder zu verstaatlichen, wurde damit begründet, daß sie am „Rande des Bankrotts“ gestanden wären. Von allen Gegnern der Verstaatlichung wurde das als Propagandalüge abgetan. Es kann aber durchaus auch etwas dran sein, zumindest bei einigen von ihnen. Sie haben die Einlagen, so wie alle Fonds auf der Welt, natürlich in diversen Wertpapieren veranlagt, und was sich auf diesem Gebiet seit der Finanzkrise getan hat, ist ja jedem hinlänglich bekannt. Es ist also durchaus vorstellbar, daß bei einigen dieser Fonds kleinere oder größere Löcher aufgetreten sind. Aber die gleichen Analysten und Fachleute, die jetzt ein Geschrei anfangen, welch ein Verstoß gegen die Freiheit des Eigentums diese Maßnahme doch sei, würden gar nichts dabei finden, wenn der eine oder andere dieser Fonds in ein paar Jahren, wenn er anfangen müßte, Pensionen auszuzahlen, bei der ungarischen Regierung anklopfen würde: Äh, hm, bei uns ist leider einiges schiefgegangen. Wir brauchen einen Zuschuß aus der Staatskasse, um unseren Verpflichtungen genügen zu können.

Von allen möglichen Anhängern der Freiheit des Marktes wird diese Maßnahme auch dadurch kritisiert, daß die Regierung damit „nur“ das Loch in der Staatskasse stopfen wollte und das Defizit verringern bzw. sogar einen Überschuß erzielen wolle. Das mag ja auch durchaus so sein (in diesem Falle müßte allerdings noch einiges da sein bei den Pensionsfonds, also von wegen „am Rande des Bankrotts“), aber was heißt „nur“? Wenn die Staatskasse so leer ist, daß weder für sozialstaatliche Maßnahmen, noch für Wirtschaftsförderung, noch für die bloße Finanzierung des Staatsapparates genug da ist, so ist es doch begreiflich, wenn eine Regierung versucht, von irgendwo das Geld herzubekommen, damit der Laden weiterläuft.
Aber diese gleichen Kritiker, die es immer sehr gut finden, wenn der Staat Verbrauchssteuern erhöht und Sozialmaßnahmen streicht – das sei „wirtschaftlich vernünftig“, die Regierung „macht ihre Hausaufgaben“, „saniert“ den Staatshaushalt, so heißen die gängigen Phrasen – diese Kritiker also finden eine Maßnahme wie diese ganz unmöglich und gegen jede Marktlogik. Sie übersehen dabei, daß es den Markt nur gibt, weil der Staat ihn einrichtet und aufrechterhält – mit seinem Geld und seinen Gesetzen.

Hier noch etwas zum Populismus-Vorwurf, der Orbán gerne gemacht wird: Während früher bei diesem Vorwurf eher die Wortwahl und das Bedienen demokratisch nicht genehmer Sichtweisen angesprochen waren, bezieht er sich heute recht eindeutig auf den geforderten Umbau des Sozialstaates und den Umgang mit nicht mehr gebrauchter Bevölkerung: Wer sich wehrt, Teile seiner Bevölkerung über das Sozialwesen einfach abzuschreiben und zur Kenntnis zu nehmen, daß die nur mehr ein Ordnungsproblem darstellen, aber nichts mehr zur Wirtschaft oder der Nation beitragen; wer also versucht, die schwindenden Ressourcen aus der Staatskasse zur Aufrechterhaltung seiner Gesellschaft und Förderung seiner Wirtschaft einzusetzen, ist ein „Populist“, der im Grunde das ganze Weltwirtschaftssystem gefährdet. Das heißt keineswegs, daß jemand, dem dieser Vorwurf gemacht wird, wirklich ein Menschenfreund wäre, oder ihm die Obdachlosen oder Sozialhilfe-Empfänger irgendwie leid täten. Nein, es genügt inzwischen, daß jemand wie Viktor Orbán sagt: Ungarn hat bitteschön auch Interessen als Staat, als Nation, und geht nicht im Dienst am internationalen Kapital auf. Dann ist er ein „Populist“.

Allerdings zeigen sich inzwischen auch Nachteile dieser Verstaatlichung: Die ungarischen Schatzscheine, eine Form von kurzfristigen und handelbaren Staatsschuldverschreibungen, sinken im Preis und finden schwerer Käufer, weil einer der Abnehmer die Pensionsfonds waren! Es ist eben nicht ohne Risiko, aus dem nationalen Kreditkarussell ein Element herauszunehmen. Da stellt sich nämlich heraus, daß der ganze Kreditapparat nichts anderes als ein System von wechselseitigen Stützungen, Garantien und Zahlungsversprechen ist.

Eine andere Frage ist, was der ungarische Schritt für internationale Folgen haben wird. Die Betreiber der Pensionsfonds wollen die Zwangsverstaatlichung vor EU-Gerichten bekämpfen. Dort wäre es ein Präzedenzfall. Das EU-Recht ist im Grunde für Außenstehende wie für sogenannte Experten undurchschaubar. Um was es geht, ist jedenfalls Folgendes: Mit der Einrichtung privater Pensionsfonds ist die damalige Regierung internationale Verpflichtungen eingegangen, ohne das jedoch explizit in Vertragsform festzulegen. Es ist auch, da im Völkerrecht vieles Auslegungssache ist, sehr fraglich, ob so eine Maßnahme überhaupt bindend ist, weil eine Angelegenheit, die eigentlich in die nationale Kompetenz fällt – die Altersvorsorge – zum Gegenstand internationaler Spekulation gemacht wird.
Außerdem, und das beunruhigt natürlich EU-Gremien und Wirtschafts-Kommentatoren, ist noch gar nicht klar, inwiefern dieses Beispiel Schule machen wird. Staaten, die in ähnlichen Nöten sind, könnten dem Beispiel folgen. Irland denkt laut über ähnliche Schritte nach. Zudem wird es dann schwierig bis unmöglich, dieses Pensions-Modell anderen Staaten aufzuschwatzen.
Vor Ungarn hat übrigens Argentinien 2008 das Gleiche gemacht. Die Parallelen sind unübersehbar: Hier wie dort Länder, die sich als Vorreiter marktwirtschaftlicher Reformen in ihrer Region präsentierten (Argentinien: Plan Cavallo 1991, Ungarn: Bokros-Paket 1995) und dann mehr als ein Jahrzehnt später die Ernüchterung, daß das alles ein Schritt in die verkehrte Richtung war.

Österreich hat übrigens ein solches Pensionssystem nie eingeführt. Es gibt das staatliche verpflichtende Pensionssystem, daneben Firmenpensionen, die in die Kompetenz der Unternehmen fallen, und einen freien Markt für private Altersvorsorge. Das ist ein Hinweis darauf, daß ein Staat, dem das Wasser nicht bis zum Hals steht, sich auf ein solches System gar nicht erst einläßt.

 

5. Das Staatsbürgerschaftsgesetz

Im Herbst vorigen Jahres wurde im ungarischen Parlament mit überwältigender Mehrheit (auch von der Opposition) ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz abgesegnet, das mit Anfang dieses Jahres in Kraft getreten ist. Demzufolge kann jede Person, die ungarische Abstammung und die Beherrschung der ungarischen Sprache nachweisen kann, und nicht vorbestraft ist, die ungarische Staatsbürgerschaft beantragen. Ein ständiger Wohnsitz in Ungarn ist, entgegen vorherigen Entwürfen, nicht nötig.
Die ungarische Regierung bringt hiermit zunächst zum Ausdruck, daß sie unzufrieden ist mit der völkischen Zusammensetzung ihrer Bürger. Sie hat zuviel Bürger, die sie eigentlich nicht will, die Roma nämlich, und zuwenig von denen, die sie gerne hätte. Sie erhebt damit Anspruch auf die Bürger anderer Länder und spricht damit aus, daß die eigentlich ihr gehören.
Für das erste Jahr rechnet sie mit 230.000 Ansuchen, was wohl angesichts der wirtschaftlichen Lage, in der sich Ungarn befindet, reines Wunschdenken sein dürfte.

Patriotische Aufkleber fürs Auto und ähnliche Werbeträger:

Großungarn einfach. (Links Mitte ist das Burgenland, links unten Rijeka und ein Teil der dalmatinischen Küste. Der rote Teil deckt sich ungefähr mit der Slowakei und der Karpato-Ukraine. Die weiß-grüne Nase rechts hinten ist Siebenbürgen und der Rest des grünen Teils enthält die Umgebung von Temesvár, den Norden Serbiens und Kroatien ohne Dalmatien.)

Großungarn für Insider, oder wahre Kenner: Hier ist der Name in der Székler Ritzschrift* geschrieben. (Von rechts nach links zu lesen.)

Noch eine Steigerungsstufe: Großungarn im Schlafanzug.

Statt der heutigen ungarischen Fahne wird die Árpád-Fahne verwendet, die an die fernen glorreichen Zeiten erinnert, als ungarische Krieger hoch zu Roß Angst und Schrecken in Mitteleuropa verbreiteten.

Dieses Gesetz hat einige unmittelbare praktische Konsequenzen.

Wer immer nach diesem Gesetz die Staatsbürgerschaft erhält, hat damit alle Rechte, die auch den Bürgern Ungarns zustehen. Einzig für das Wahlrecht ist angeblich ein ständiger Wohnsitz notwendig, aber es wird sich erst erweisen, wie streng oder locker diese Bestimmung gehandhabt wird. Eine der Absichten der Regierung ist es also, sich Wähler zu sichern für die nächste Wahl: Schauts, wir nehmen euch auf, wählt uns doch bitte!
Die solchermaßen anerkannten Neu-Ungarn haben unbegrenzten Zugang zu Bildungseinrichtungen. Das stellt eine Erleichterung für diejenigen Ungarn aus den Nachbarländern dar, die in Ungarn eine Schule oder Universität besuchen wollen, und bisher mit bürokratischen Hürden zu kämpfen hatten. Es ist auch anzunehmen, daß auf solche Studenten in Zukunft Druck gemacht werden wird, doch um die Staatsbürgerschaft anzusuchen, um sich und den Behörden Komplikationen zu ersparen.
Weiters stellt das Gesetz eine Erleichterung für die ungarischen Gastarbeiter aus Rumänien, der Ukraine und Serbien dar, die bisher um Arbeitsbewilligungen und Aufenthaltsbewilligungen ansuchen mußten. Auch Familienzusammenführung, sofern gewünscht, wird dadurch erleichtert. Das Gesetz ist also auch ein Versuch, das Arbeitskräftereservoir flexibel zu machen und dadurch Lohndruck zu erzeugen.

Das Gesetz hat sehr viel Kritik seitens der EU hervorgerufen, die darin natürlich sofort die Absicht der ungarischen Regierung erkennt, ihren Einfluß über die Landesgrenzen auszudehnen. Und das wird einem Land wie Ungarn nicht zugestanden.

Der Teppich des Anstoßes, mit dem Ungarn in Brüssel seinen EU-Vorsitz einleitete: Im Vordergrund eine Landkarte von 1848 mit Ungarn in den damaligen Grenzen.

 

Man muß jedoch dazu bemerken, daß eine Vorgangsweise wie die in Ungarn in einigen der „alten“ EU-Staaten durchaus üblich war und ist. Man erinnere sich an Deutschlands „Aussiedler“-Programm, wo die Abstammung allein genügte, um Bürger der Ex-Sowjetunion nach Deutschland zu locken. In diesem Fall waren nicht einmal Sprachkenntnisse erforderlich. Auch für Bürger Polens gab es einmal – vor dem EU-Beitritt Polens – ein Programm, nach dem sich diese als Deutschstämmige registrieren lassen konnten, allerdings ohne Einbürgerungsbewilligung.
Deutschland als europäische Großmacht kann sich so etwas gegenüber Staaten wie Rußland und Polen natürlich erlauben.
Auch Italien und Spanien haben Einbürgerungsprogramme für die Nachfahren ihrer Emigranten nach Argentinien oder andere Staaten Lateinamerikas. Auch sie kennen das Problem, das Ungarn sich macht: Wir hätten gern mehr völkisch passende Bürger, und nicht lauter Einwanderer aus Afrika!
Auch hier sind die Staaten, die von diesen Einbürgerungsgesetzen betroffen sind, keine Mitglieder der EU und daher vernachlässigenswert.
Aus diesen erwähnten Staaten gab es wenig Kritik an dem ungarischen Gesetz. Man hat dort offenbar ein gewisses Verständnis für diese Art von völkischem Denken. In Großbritannien hingegen äußerten einige Stimmen in der Presse die Befürchtung, daß Bürger von Nicht-EU-Staaten das ungarische Staatsbürgerschaftsgesetz als Sprungbrett für die Einwanderung nach Großbritannien nützen könnten.

Was jedoch allgemein bei Ungarn empört, ist der Umstand, daß sich darin die Aufmüpfigkeit eines zweitrangigen Staates äußert, der nicht nur mit seinem Volk, sondern auch mit seinen Landesgrenzen unzufrieden ist, und damit auch noch dazu innerhalb der EU Unfrieden stiften kann.

In den Nachbarstaaten Ungarns, denen ihre Bürger somit prinzipiell bestritten werden, waren die Reaktionen sehr unterschiedlich.
Was Slowenien betrifft, hieß die Devise: Nit einmal ignorieren. Die Regierung dort geht offensichtlich davon aus, daß ihre Bürger in Slowenien besser gestellt sind als in Ungarn und dieses Angebot für sie überhaupt keines ist. Ungeachtet seiner geringen Größe hält Slowenien dieses Gesetz für keine Bedrohung der Loyalität seiner Bürger oder die Integrität seiner Grenzen.
In Rumänien, wo ungefähr eineinhalb Millionen ethnische Ungarn leben, hat das ungarische Staatsbürgerschaftsgesetz ebenfalls kaum Mißfallen hervorgerufen. Rumänien hat erstens ein ähnliches Problem wie Ungarn: Zu wenig ethnische Rumänen, zu viel fremdstämmige Minderheiten. Rumänien hat eben deshalb ein ähnliches Staatsbürgerschaftsgesetz wie Ungarn, dem zufolge die Bürger Moldawiens relativ problemlos die rumänische Staatsbürgerschaft beantragen können. Die rumänische Regierung ist weiters gar nicht ungehalten, wenn rumänische Ungarn nach Ungarn übersiedeln und damit den sehr trostlosen rumänischen Arbeitsmarkt entlasten. Die einzige schärfere Kritik an dem ungarischen Staatsbürgerschaftsgesetz kam deshalb von den ungarischen Minderheitenvertretern in Rumänien, die befürchten, daß ihnen ihre Wählerschaft durch Abwanderung abhanden kommt.
Ähnlich ist die Lage in der Ukraine, wo es auch die ungarischen Minderheitenvertreter und nicht ukrainische Politiker sind, die die meiste Besorgnis über dieses Gesetz äußern.
In Serbien hat die Regierung das Gesetz nicht nur nicht kritisiert, sondern sogar begrüßt. Vor Jahren schon, als in Ungarn die sozialistische MSZP-Regierung am Ruder war, hat der damalige Regierungschef Zivkovic der ungarischen solch ein Gesetz beinahe empfohlen und betont, daß Serbien nichts dagegen hätte. Jetzt haben die ungarischen Minderheitenvertreter in Serbien ihre Volksgenossen richtig dazu aufgefordert, möglichst massenhaft das Angebot der Doppelstaatsbürgerschaft auszunützen.
Serbien setzt auf Bürger mit doppelter Staatsbürgerschaft, um sich aus seiner Isolation zu befreien. Die praktisch bereits existierende inoffizielle Freihandelszone zwischen Serbien und Ungarn soll damit ausgebaut werden. Serbien rechnet sich durch die Voivodina-Ungarn ein langsames Hineinrutschen in die EU aus.
Ähnlich ist die Lage in Kroatien, dem die derzeitige ungarische Regierung beim angestrebten EU-Beitritt helfen will. Auch Kroatien, dessen ungarische Minderheit allerdings weitaus kleiner ist als die in Serbien, sieht die einheimischen Ungarn inzwischen eher als eine Trumpfkarte im Fächer, und nicht als unsichere Kantonisten im eigenen Land.
Das einzige Land, das massive Vorbehalte gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz angemeldet hat, ist die Slowakei. Dieses Land, das erst 1993 entstand und auch kleiner als Ungarn ist, betrachtet das ungarische Staatsbürgerschaftsgesetz als Gefährdung seiner Souveränität und territorialen Integrität. Die Slowakei erinnert sich an den 1. Wiener Schiedsspruch 1938, als Teile des slowakischen Staates kurz nach seiner Gründung an Ungarn abgetreten werden mußten. Das slowakische Parlament hat deshalb kurz nach der Absegnung des ungarischen Staatsbürgerschaftsgesetzes eine Änderung des slowakischen Staatsbürgerschaftsgesetzes beschlossen, das Doppelstaatsbürgerschaften verbietet.
In der Slowakei leben über eine halbe Million Ungarn, mehr als ein Zehntel der Bevölkerung der Slowakei. Wer von ihnen die ungarische Staatsbürgerschaft beantragt, riskiert, von den slowakischen Behörden ausgebürgert zu werden.
Eine der Eigenheiten der ungarischen Minderheit in der Slowakei ist, daß zwischen 15 und 20 Prozent davon Roma sind, sich bei den Volkszählungen als Ungarn bekennen, um dem Zigeuner-Stigma zu entkommen. Ihre Muttersprache ist Ungarisch. Die meisten von ihnen leben in absolutem Elend, vor allem in der Ostslowakei. Die Bewohner des ostslowakischen Dorfes, die in Graz betteln gehen, weil sie zu Hause keinerlei Überlebensmöglichkeit haben, sind ausnahmslos Roma mit ungarischer Muttersprache. Es wird interessant, wenn slowakische Roma sich des ungarischen Staatsbürgerschaftsgesetzes zu bedienen versuchen, weil sie sich in Ungarn bessere Bedingungen erwarten. Wie werden die ungarischen Behörden damit umgehen? Die slowakisch-ungarischen Roma erfüllen alle Bedingungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes.

Als letztes Nachbarland bleibt Österreich. Der Minderheitenvertreter der Ungarn in Österreich hat sich geschwind bemüht zu betonen, daß das ungarische Staatsbürgerschaftsgesetz in Österreich „nicht gültig“ sei.
Das stimmt jedoch nicht.
Ein Passus des österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1985 lautet:
„Die Staatsbürgerschaft verliert, wer auf Grund seines Antrages, seiner Erklärung oder seiner ausdrücklichen Zustimmung eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt, sofern ihm nicht vorher die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft bewilligt worden ist.“ (Staatsbürgerschaftsgesetz § 27 (1)) Was die Slowakei erst seit 2010 eingeführt hat, gilt hierzulande schon seit langem. Wer also hierzulande nach dem ungarischen Staatsbürgerschaftsgesetz selbige beantragt, riskiert genau wie nach dem slowakischen Gesetz den Verlust seiner österreichischen Staatszugehörigkeit.
Es ist aber anzunehmen, aufgrund der Wirtschaftslage hier und dort, daß der Andrang derer, die die ungarische Staatsbürgerschaft beantragen wollen, eher verschwindend sein wird.

Der ungarische Totemvogel, der Turul: Beleidigt und gekränkt, weil man ihm einen Teil des von ihm betreuten Territoriums weggenommen hat.

 

(Laut ungarischen Legenden soll der Turul seinerzeit die Ungarn ins Karpatenbecken geführt haben.)

Zum Schluß, obwohl sie vom Staatsbürgerschaftsgesetz nicht unmittelbar betroffen sind, einiges zur Situation der ungarischen Roma. Sie sind sozusagen die Statisten des Staatsbürgerschaftsgesetzes, der ungarischen Bevölkerungspolitik, und dadurch auch davon betroffen: Sie sind diejenigen Leute, die die Mehrheit der ungarischen Parteien gerne loswerden würde – man weiß nur nicht wohin.

Die Roma hatten im sozialistischen Ungarn eine eigenartige Stellung. Sie wurden als Volksgruppe in Evidenz gehalten, hatten jedoch nicht den Status einer anerkannten Minderheit, wie die Slowaken, Rumänen usw. Eine anerkannte Minderheit zu sein bedeutete Schulunterricht in der eigenen Sprache zu erhalten, Radio- und Fernsehsendungen zu erhalten, und jede Menge Subventionen für Traditionspflege. Diesen Status genossen die Roma ausdrücklich nicht: Ihre Traditionen und Kultur, ungeachtet der vielen Zigeunerkapellen, wurden von der sozialistischen Führung offenbar nicht als Elemente des Volkstums geschätzt.
Ein anderes Moment des sozialistischen Systems jedoch begünstigte die Roma auf eigenartige Weise: Im sozialistischen Ungarn herrschte eine andere Art von Arbeitszwang als in der Marktwirtschaft. Jeder sollte seinen Teil zum sozialistischen Aufbau beitragen. Wer keinen Arbeitsplatz, keine fixe Beschäftigung aufweisen konnte, machte sich strafbar und galt, sofern er bei einer Polizeikontrolle nicht den verpflichtenden Stempel der Arbeitsstelle aufweisen konnte, als „gemeingefährlicher Arbeitsvermeider“. Um diese Arbeitspflicht auch auf der Seite der Betriebsleitungen durchsetzen zu können, erhielten die Betriebe die Auflage, einen bestimmten Prozentsatz von Roma anzustellen.
Die Roma waren die ersten, die nach der Wende entlassen wurden. Die Betriebsleiter befreiten sich erleichtert von dieser unangenehmen Verpflichtung. Später gingen die Betriebe meistens ein und der Rest der Belegschaft wurde auch arbeitslos.

Die meisten der Roma sind nie wieder in ein Anstellungsverhältnis getreten. Erstens gibt vor allem auf dem Land kaum Jobs, weshalb auch die Landflucht groß ist. Zweitens will niemand Zigeuner anstellen. Die Roma bringen sich daher mit Gelegenheitsarbeiten, Sozialhilfe und Kindergeld, Flurdiebstahl und anderer Kleinkriminalität durch.
Die offizielle Arbeitslosenrate in Ungarn liegt bei über 11%. Aber in ihre Berechnung gehen nur Leute ein, die bereits einmal reguläre Arbeit hatten. Für die meisten Roma trifft das aber gar nicht zu, sodaß weder ihre besondere Arbeitslosigkeit erfaßt ist, noch dieselbe in die Arbeitslosenquote eingeht. Sie sind für die Marktwirtschaft dermaßen überflüssig, als Konsumenten beispielsweise, daß sie auch in den meisten anderen Statistiken nicht aufscheinen. Heute werden sie vor allem in der Kriminalitätsstatistik in Evidenz gehalten, um hin und wieder Debatten über die „Zigeunerkriminalität“ entfachen zu können. Stehlen und Einbrechen-Gehen haben nämlich vielen ungarischen Politikern und Journalisten zufolge nichts mit unserem Wirtschaftssystem und dem Privateigentum zu tun, sondern sind eine rassisch-genetische Disposition.
Die Verteidiger der Roma, meist Budapester Intellektuelle, führen dagegen ins Feld, daß die Roma deshalb keine Anstellung finden und zu illegalen Strategien greifen müssen, weil sie so ein niedriges Ausbildungsniveau haben. Sie fordern eine Bildungsoffensive und mehr Chancengleichheit. Diese Position ist nur scheinbar menschenfreundlicher als der Rassismus der braven Bürger: Er leugnet die Notwendigkeit der Arbeitslosigkeit aus den Geschäftskalkulationen der Unternehmer, und erklärt die entfesselte Konkurrenz der Arbeitssuchenden zum Allheilmittel gegen Armut und Marginalisierung.

 

6. Das Mediengesetz

Anfang dieses Jahres ist auch ein neues Mediengesetz in Kraft getreten, mit dem auch eine Medien-Aufsichtsbehörde eingerichtet wurde.

Während überall die Wogen hochgingen, daß hier die Pressefreiheit, eine besonders heilige Kuh der Demokratie, in Frage gestellt, gefährdet und ähnliches sei, macht sich, ähnlich wie bei den Pensionsfonds, niemand die Mühe nachzuschauen, was eigentlich der Grund für ein solches Gesetz ist, wie also die ungarische Medienlandschaft aussieht, und warum das bei der Regierungspartei Unzufriedenheit hervorruft.
Es ist nämlich keineswegs so, wie hier gern dargestellt wird, daß die ungarischen Medien so wahnsinnig kritisch gegenüber den Maßnahmen der Regierung wären und deswegen stärker beaufsichtigt und gegängelt werden müßten. Abgesehen davon, daß es ja verschiedene Arten von Kritik gibt und auch hier nicht alles erlaubt ist – man denke an Stichworte Jugendschutz, Volksverhetzung, üble Nachrede und ähnliches –, so hat die Regierung in Ungarn ein viel dringenderes Problem: Ein Großteil der Medien befaßt sich nämlich gar nicht mit der Politik und dem, was sie als Probleme der Nation ausgibt und von ihren Bürgern als solche wahrgenommen werden sollen. Das ungarische Mediengesetz enthält daher nicht nur Verbote, sondern auch Gebote bezüglich der Inhalte, mit denen die Medien in Zukunft das p.t. Publikum versorgen müssen, bei Androhung teilweise recht empfindlicher Geldstrafen.

Schauen wir uns doch einmal verschiedene Bestimmungen des ungarischen Mediengesetzes an.

Eine der Bestimmungen ist, daß bei den kommerziellen Medien die Berichterstattung über Verbrechen 20 % nicht übersteigen darf.
Daraus kann man darauf schließen, daß bisher einige der Privatsender jede Menge Grusel-Berichte über Mord und Totschlag im In- und Ausland gebracht haben. Programme dieser Art bilden zwar niemanden, machen auch niemanden gescheiter, aber sorgen für Spannung und Einschaltquoten und sind billig herzustellen.

Die Reklame-Sendungen, die mitten in einer Sendung eingespielt werden, dürfen die Lautstärke der Sendung selbst nicht überschreiten.
Daraus kann man darauf schließen, daß hier bisher lautstärkemäßig ziemlich aggressiv vorgegangen wurde und diverse Werbeeinschaltungen dem Zuseher fast das Ohr ausgehaut haben.

Wer den Haß schürt gegen ethnische, gesellschaftliche oder religiöse Minderheiten, einzelne Personen, oder kirchliche Institutionen, macht sich strafbar.
Bisher konnte man offenbar ungestraft jede Menge Mist und Hetzpropaganda gegen Minderheiten wie Juden oder Roma verbreiten, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen.

Weiters soll sich um die seriöse Aufarbeitung der Nachrichten bemüht werden, die Ungarische Presseagentur wird damit betraut, und auch Privatsendern wird angeblich vorgeschrieben, mehr Nachrichtensendungen in ihr Programm einzubauen.

Aus all diesen bisher aufgezählten Bestimmungen ersieht man eines: Die Medien, ob Fernsehen, Radio oder Zeitungen, sind in Ungarn nicht so beschaffen wie bei uns oder in Deutschland, und dieser Umstand verärgert die ungarische Regierung. Die Zusammenarbeit zwischen Politik und Öffentlichkeit funktioniert nicht so, wie das zur Pressefreiheit dazugehört. Der Meinungsbildungsprozeß kann nicht in Gang gesetzt werden, aber nicht, weil die Medien anderer Ansicht wären als die Regierung, sondern weil sie deren Anliegen größtenteils links liegen lassen, und die Bevölkerung mit einer Mischung aus Seifenopern, Reality-Shows, Zeichentrickfilmen (als Babysitter-Ersatz), Verbrechensberichterstattung und Werbung zumüllen. Man muß hier vielleicht auch erwähnen, daß sich vor allem die Beitragsleister einiger wenig gelesener Intelligenzblattln über das Mediengesetz aufgeregt haben, während es sich nach seinen Bestimmungen viel mehr gegen Fernsehen und Rundfunk als gegen Printmedien richtet. Auch die ersten zwei Sanktionen im Jänner betrafen einen Fernsehsender (RTL) und ein Radio.

Der für die Regierung unbefriedigende Zustand, dem mit diesem Mediengesetz abgeholfen werden soll, ist das Ergebnis zweier Umstände, die in Ungarn nach der Wende das Entstehen der Medienlandschaft bestimmten: Die Abwesenheit von Kapital und eine Vorstellung von Pressefreiheit, derzufolge in der Medienberichterstattung alles erlaubt zu sein habe.

Die Tatsache, daß es kein Kapital für das Zustandekommen einer Medienlandschaft wie der österreichischen gab, hat erstens bewirkt, daß die öffentlich-rechtlichen Medien nie mit solchen Mitteln wie der ORF arbeiten konnten. Außerdem wurde das Ideal des Pluralismus auch bei der Organisationsstruktur der öffentlichen Rundfunkanstalten schlagend: In Ungarn sind öffentlich-rechtliches Fernsehen und Radio getrennt, was den Verwaltungsaufwand erhöht. Diese Trennung wird durch das Mediengesetz aufgehoben.

Weder Radio noch Fernsehen können sich ein Korrespondenten-Netz leisten, wie es der ORF aufrechterhält. Wer sich in Ungarn über die Vorgänge in der großen weiten Welt informieren will, muß Fremdsprachen können und ausländische Zeitungen lesen oder sich des Internets bedienen. Dadurch sind die Nachrichtensendungen, die sich aus Agenturmeldungen speisen, relativ uninteressant und ziehen kaum Zuseher oder Hörer an. Zum Verständnis der Lage ein weiterer Vergleich mit dem ORF: Das ungarische Staatsfernsehen könnte sich auch keine Sendung wie „Universum“ leisten, oder das „Weltjournal“, weil es nicht über die finanziellen Mittel verfügt, Kameraleute und Reporter in verschiedene Teile der Welt zu schicken oder die entsprechenden Reportagen einzukaufen. Genausowenig könnte es eine Sendung wie den „Club 2“ veranstalten, weil es kein Geld dafür gibt, ausländische Geistesgrößen einzuladen, und die dann auch noch zu dolmetschen.

Das alles hat dazu geführt, daß die öffentlichen Medien wenig gehört oder angeschaut werden. Die einzige Ausnahme ist das Kossuth Radio, das sich um ein gewisses Niveau bemüht, Wissenschaft und Kunst propagiert, eigene Kindersendungen macht usw. Dieser Radiosender, der mit Ö1 vergleichbar ist, beweist, daß es ein Bedürfnis nach Medien dieser Art durchaus gäbe. Es wird nur aus den bereits erwähnten Gründen spärlich bedient.

Das neue Gebäude des staatlichen Rundfunks in Óbuda

Das ungarische Fernsehen ist rund um die Ereignisse des Herbstes 2006 und der damals stattfindenden Demonstrationen zusätzlich unpopulär geworden, weil ein guter Teil der ungarischen Bevölkerung sich in diesen Medien nicht mehr repräsentiert gesehen hat. Es hat nämlich versucht, diese regierungsfeindlichen Proteste herunterzuspielen, zu verschweigen, und die gegen die Demonstranten angewendete Gewalt zu beschönigen.
Der einzige staatliche Fernsehsender, das sich einer größeren Popularität erfreut, ist Duna TV, der mit Auslandsungarn als Mitarbeitern in alle Nachbarstaaten ausgestrahlt wird und sich dort einer stabilen Zuseherzahl erfreut. Es wird auch über Satelliten in alle Welt übertragen. In Ungarn selbst hat es allerdings keine hohe Zuseherzahl.

Ein anderes Problem stellen die privaten Medien für die Ansprüche der ungarischen Regierung dar.

Nach der Wende 1989 strömte ausländisches Medienkapital nach Ungarn und wurde mit offenen Armen aufgenommen. He, kommt zu uns, bringt uns die Freiheit! Schluß mit den staatlichen Medien, mit den prefabrizierten Nachrichten, wir wollen endlich, daß alles besprochen werden kann, daß jeder sagen kann, was er will – so lautete der Tenor, unter dem ausländische Medienbetreiber in Ungarn willkommen geheißen wurden.
Erst 1996 wurde ein Mediengesetz erlassen, das jedoch hauptsächlich technische Fragen regelte, wie über Pausen, Reklame-Länge, Haupt- und Neben-Sendezeiten, Satellitenrechte, örtliche Radiosendungen, und ähnliches. Dieses Gesetz drückte auch Interesse an objektiver Information und Kultur- und Wissenschaftsprogrammen aus, aber ohne jegliche Rechtskraft, oder Sanktionen im Falle von Verstößen. Ebenso erwähnt es den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und die Erwartungen, die an die privaten Medien gerichtet werden, ebenfalls ohne irgendwelche Bestimmungen, was zu tun wäre, wenn diese dem erwähnten Auftrag nicht genügen.

In Ungarn wurde so etwas wie die österreichische Institution des Presserates, der Zeitungsenten und ähnliche Verstöße gegen die journalistische Ethik der Wahrheitsfindung rügt, nie geschaffen.

Das ausländische Kapital, das in Ungarn in die Medien investierte, kam vor allem aus Deutschland und Frankreich, später auch aus der Schweiz. Erst waren die Printmedien interessant, später folgten die Rundfunk-Medien. Niemand in der damaligen ungarischen Regierung unter József Antall dachte an Regulierungen und Verbote. Alle waren überzeugt: Vom Westen kommt nur Gutes! Gegenüber der vorherigen angeblichen „Gängelung“ der Medien durch den Staat hielten sie jegliche von westlichem Kapital gegründete und betriebene Medien für eine Art Manna in der Wüste, dessen Investition nur positiv sein konnte und an dessen segensreicher Wirkung man nicht zweifeln durfte.

Die in westlichen Staaten übliche Einrichtung des nationalen Medienzaren gibt es in Ungarn ebenfalls nicht. Zur westlichen Pressefreiheit gehören so Figuren und Medienimperien wie das von Murdoch, Springer oder Dichand selig. Eine reife Demokratie mitsamt ihrer Pressefreiheit braucht so Massenblattln wie die britische Sun, das deutsche Bild oder die österreichische Kronenzeitung, wo der Bevölkerung von einem dezidiert nationalen Standpunkt klar gemacht wird, wie sie die Welt zu sehen hat, wer gerade der Feind und Freund ist, und die mit ihren Artikeln auch die Parteienkonkurrenz beleben. Man erinnere sich an die Rolle der Kronenzeitung beim Großwerden des heutigen Bundeskanzlers, aber auch an ihre Bedeutung für die Bewerbung des „grünen“ Denkens anläßlich der Au-Besetzung in Hainburg. Ohne Krone, auch wenn das manche schmerzen wird, gäbe keine Grüne Partei in Österreich.
Ähnlich ist es mit Murdochs Massenblatt Sun und anderen Medien, mit denen er in neuerer Zeit die Niederlage Labours und dadurch den Wahlsieg Camerons und Cleggs erreicht hat, oder sein Fernsehsender Fox-TV in den USA, der kräftig in der US-Innenpolitik mitmischt. Zur Pressefreiheit in erfolgreichen kapitalistischen Staaten gehört offenbar ein privates Medienimperium dazu, das seine Medien-Marktmacht in die Schlacht wirft, wenn es um das nationale Interesse geht und darum, wer es bei der nächsten Wahl Sieger wird. Das ist etwas, was viele Anhänger der Pressefreiheit nicht zur Kenntnis nehmen wollen: Daß zu dieser Pressefreiheit eben auch die Freiheit dazugehört, die Massen der Bevölkerung mit leicht verdaulichen Feind-Freund-Bildern zu versorgen, und mit staatsmännischen Sichtweisen darüber, wer gerade jetzt verarmt oder beschränkt oder gefördert oder gewählt gehört.

In Ungarn gab es in den 90er Jahren Versuche, ein solches Medienimperium zu schaffen. Eine Partei, die es heute nicht mehr gibt, die Freien Demokraten, versuchten ein solches Medienkapital zu befördern, als sie damals in der Regierungskoalition waren. Der Mann, der sich zu einem ungarischen Medien-Monopolisten und Königsmacher stilisieren wollte, wurde 1998 auf der Margarethenbrücke in Budapest erschossen. Der Mord ist bis heute nicht aufgeklärt. Seine Ermordung schuldet sich angeblich dem Umstand, daß er von der Partei, die ihn groß gemacht hatte, zur Opposition überwechseln wollte.
Seither haben alle Parteien Wert darauf gelegt, eine solche Medienkonzentration nicht mehr zuzulassen. Auch das neue Mediengesetz dieses Jahres sieht Regelungen vor, die verhindern sollen, daß ein Fernsehkanal oder ein anderes Medium eine irgendwie geartete Medienkonzentration zustandebringen.
Alle, ob MSZP oder Fidesz oder andere im Laufe der Zeit entstandene Parteien wollten bzw. wollen zwar einerseits die Medien beeinflussen, als ihre Sprachrohre, stehen aber andererseits der Tatsache gegenüber, daß diese Medien entweder schon lange die Sprachrohre anderer sind, oder sich gar nicht um die Anliegen der jeweiligen Regierung bzw. der Politik überhaupt kümmern.

Dasjenige Massenmedium unter den ungarischen Medien, das irgendwie mit unserer Krone vergleichbar wäre, ist Blikk – eine Zeitung, deren Auflage um die 200.000 schwankt, gegenüber der Krone mit 1 Million. Der Blikk ist Eigentum der Schweizer Ringier-Gruppe, die gar keine politischen, sondern bloß kommerzielle Absichten in Ungarn hat.
Die traditionelle Zeitung der sogenannten fortschrittlichen Kräfte in Ungarn ist die Népszabadság, die ehemalige sozialistische Regierungszeitung vor der Wende. Die Népszabadság ist das Sprachrohr der MSZP und gilt als Zeitung der „linken“ und fortschrittlichen Kräfte. Seit der Wende hat sie kontinuierlich an Lesern verloren und hält derzeit bei 70-80.000. Abgesehen davon, daß die MSZP inzwischen nicht mehr allzu viele Anhänger hat, sind generell die Tageszeitungen weltweit auf dem Rückzug, und das spürt eben auch die Népszabi, die nach heftigen Personalkürzungen inzwischen ein ziemlich uninteressantes Blatt geworden ist.

„Népszabadság“ einst und jetzt

Auf dem Vormarsch hingegen sind die neuen Medien und sie sind eine Domäne der Rechten. Das liegt unter anderem daran, daß es die ungarischen rechten Bewegungen, die Jobbik, die „Bewegung der 64 Komitate“ und was es noch an national bewegten Grüppchen geben mag, es besser als andere verstanden haben, die Möglichkeiten des Internets mit gewissen Bedürfnissen der Jugendkultur zusammenzubringen.
Da schon die traditionellen Medien keine Richtlinien hatten, was gesetzlich erlaubt oder verboten war, so sind dem im Internet erst recht keine Grenzen gesetzt. Jede Menge an übler Nachrede und völlig erfundenen Geschichten über Betrügereien von Juden und Roma, oder anderen Personengruppen, die den patriotischen Standards nicht genügen, schwirren in Form von Webseiten, Email-Verteilern oder Audio-Programmen durchs Netz. Es ist oft auch gar nicht klar, wer die betreibt, oder wer sie finanziert. Das Radio Stephanskrone, ein Sprachrohr der Jobbik, wurde vor Jahren als Internetradio – damals eine Pionierleistung – eingerichtet, weil seine Betreiber keine Frequenz erhielten. Es finanziert sich aus Spenden, die offenbar reichlich fließen.

 

7. Die Jobbik und ihre Anhänger

Das ungarische Mediengesetz richtet sich, entgegen dem, was bei uns verbreitet wird, mehr gegen die Presse der rechtsradikalen Kreise, denn die stellen für Fidesz die einzige wirkliche Konkurrenz im zukünftigen Kampf um die Macht dar. Die anderen Parteien haben sich entweder aufgelöst oder dezimiert oder sind, wie die MDF, die immerhin den ersten Ministerpräsidenten nach der Wende gestellt hat, an der 5%-Hürde gescheitert. Auch die eher farblose Newcomer-Partei LMP hat keine Chance, in diesem Wettbewerb der Patrioten und Retter des Ungarntums zu punkten.

Es ist aber auch aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung in Ungarn beinahe notwendig, daß die Parteienkonkurrenz an diesem trostlosen Punkt angelangt ist.

Nach der Wende erwarteten sich alle Parteien von der Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft eine Verbesserung der Lage und einen wirtschaftlichen Aufschwung. Den Niedergang von Landwirtschaft und Industrie in den unmittelbar auf die Wende folgenden Jahren betrachteten alle politischen Akteure als vorübergehende Schwierigkeit, die es zu überwinden galt. Das Paradox in Ungarn war jedoch, daß gerade diejenigen Parteien, die die Marktwirtschaft ohne Wenn und Aber propagierten, alles privatisieren wollten und die staatliche Verschuldung als ein Mittel zum Erfolg betrachteten, der sich früher oder später unweigerlich einstellen müsse – daß diese Parteien als „links“ galten und sich auch so bezeichneten. Sie leiteten dieses Markenzeichen daraus ab, daß sie selbst dem Fortschritt huldigten, das nationale und christliche Lager hingegen rückschrittlich, ja sogar primitiv sei und das Land durch seine Verbohrtheit in die Isolation treiben und zugrunderichten würde. Die wirtschaftliche Entwicklung, die Krise und das Sparpaket von 2008 haben diese sogenannte Linke jedoch völlig diskreditiert und ihr Geschwätz von Fortschritt und glänzender Zukunft als leeres Gerede entlarvt. Und die enttäuschte Bevölkerung wendete sich dem nationalen Lager zu.

Der Rechtsruck in Ungarn nahm bedeutenden Schwung im Zuge von regierungsfeindlichen Demonstrationen im Herbst 2006. Fidesz selber wollte damals den Rücktritt des Ministerpräsidenten und vorgezogene Neuwahlen erzwingen und stachelte deshalb diese Proteste an. Die Polizeigewalt, die gegenüber den Demonstranten angewendet wurde, wurde von den Medien der Rechten als „anti-ungarische“ Aktion interpretiert. Damit wurde die damalige MSZP-Regierung, die dieses Vorgehen angeordnet oder zumindest gebilligt hatte, als „volksfremd“ dargestellt. Es ist nicht sicher, ob diese Sichtweise aus Fidesz-nahen Kreisen stammte, sie kam jedoch der Partei Viktor Orbáns sehr entgegen, der ja auch der MSZP-Regierung jegliche Legitimität absprach. Seit damals ist es jedenfalls durchaus salonfähig, einen Teil der Bevölkerung Ungarns als fremdes Element, Parasit an dem ungarischen Stammvolk usw. zu betrachten und offen oder verdeckt auch so zu bezeichnen, sobald irgendwelche Korruptions-Fälle oder Verbrechen in den rechten Medien breitgetreten werden. Dieses ganze Treiben war Fidesz durchaus recht, solange die Partei sich in der Opposition befand. Man konnte entweder verständnisvoll, aber doch etwas gemilderter in den Chor einfallen, der gegen die Betrüger und Schwindler angestimmt wurde, oder man konnte sich als gemäßigtes Element präsentieren, das allein den gerechten Volkszorn in die richtigen Bahnen leiten würde.

Jetzt ist es anders. Fidesz ist an der Regierung, mit einer 2-Drittel-Mehrheit, und die Jobbik, die bei den Wahlen im Vorjahr zwischen 12 und 13 Prozent der Wählerstimmen erhalten haben, sind in der Opposition. Diese Position gibt ihnen viele Freiheiten, die sie auch nützen wollen und nützen werden.

Aufmarsch der Garde im Burgviertel von Budapest

Neben der ungarischen Fahne auch die rotweiß-gestreifte Árpád-Fahne, mit der der Anspruch auf Großungarn symbolisiert wird.

Die Ereignisse der letzten Zeit, als die mit den Jobbik verbundene Garde in nordostungarischen Dörfern aufmarschiert ist, um die dortige Roma-Bevölkerung einzuschüchtern, und die relative Passivität der Regierung angesichts dieser Ereignisse haben gezeigt, daß in Ungarn inzwischen das Gewaltmonopol des Staates auf dem Spiel steht. Dieser frechen und auf Unterstützung eines Teils der ländlichen Bevölkerung zählen könnenden Miliz stehen Ordnungskräfte gegenüber, die durch diverse Sparmaßnahmen sehr ausgedünnt sind, dazu ein überlasteter Justizapparat und überfüllte Gefängnisse.

So sieht es aus, das Land, das derzeit den Vorsitz der EU innehat.

 

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Leicht modifizierter Text einer 2-teiligen Radiosendung, die im April 2011 im Radio Orange ausgestrahlt wurde.

Der Artikel als Audio-Datei: Teil 1

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