5.2. Religion

Nietzsche schreibt über Religion:

„ … noch nie hat eine Religion, weder mittelbar, noch unmittelbar, weder als Dogma, noch als Gleichnis, eine Wahrheit enthalten. Denn aus der Angst und dem Bedürfnis ist eine jede geboren, auf Irrgängen der Vernunft hat sie sich ins Dasein geschlichen …“ 34

und über ihr Verhältnis zur Wissenschaft:

„Weil die Philosophen vielfach unter dem Herkommen religiöser Gewohnheiten, oder zumindest unter der altvererbten Macht jenes »metaphysischen Bedürfnisses« philosophierten, so gelangten sie zu Lehrmeinungen, welche in der Tat den jüdischen oder christlichen oder indischen Religionsmeinungen sehr ähnlich sahen, – ähnlich nämlich, wie Kinder ihren Eltern zu sehen pflegen, nur daß in diesem Falle die Väter sich nicht über jene Mutterschaft klar waren, wie das wohl vorkommt, – sondern in der Unschuld ihrer Verwunderung von einer Familien-Ähnlichkeit aller Religion und Wissenschaft fabelten. In der Tat besteht zwischen der Religion und der wirklichen Wissenschaft nicht Verwandtschaft, noch Freundschaft, noch selbst Feindschaft: Sie leben auf verschiedenen Sternen.“ 35

Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Es ist richtig, daß Glauben und Wissenschaft aus verschiedenen Bedürfnissen entspringen, sich verschiedener Methoden bedienen und zu gänzlich unterschiedlichen Ergebnissen führen, sowohl theoretisch als auch praktisch, – insofern wirklich „auf verschiedenen Sternen“ wohnen. Nur in einem täuscht sich Nietzsche hier: Es besteht sehr wohl Feindschaft zwischen den beiden, weil keine Religion einer wissenschaftlichen Prüfung und Kritik standhält – sie wäre sofort als der Hokuspokus erkannt, der sie ist – und daher jeder, der auf Gläubigkeit Wert legt, die Wissenschaft dort bekämpfen muß, wo sie sich in die Belange des Glaubens einmischt.

In bezug auf die christliche Religion ist ihm das auch aufgefallen:

„– Hat man eigentlich die berühmte Geschichte verstanden, die am Anfang der Bibel steht, – von der Höllenangst Gottes vor der Wissenschaft? … Man hat sie nicht verstanden …()… Erst durch das Weib lernte der Mensch vom Baume der Erkenntnis kosten. – Was war geschehn? Den alten Gott ergriff eine Höllenangst. Der Mensch selbst war sein größter Fehlgriff geworden, er hatte sich einen Rivalen geschaffen, die Wissenschaft macht gottgleich, – es ist mit Priestern und Göttern zu Ende, wenn der Mensch wissenschaftlich wird! – Moral: die Wissenschaft ist das Verbotene an sich, – sie allein ist verboten. Die Wissenschaft ist die erste Sünde, der Keim aller Sünde, die Erbsünde. Dies allein ist Moral. –“ 36

Und nach intensiver Beschäftigung mit dem Christentum, seiner Geschichte, seiner Praxis, zieht er folgende Konsequenz:

„Hiermit bin ich am Schluß und spreche mein Urteil. Ich verurteile das Christentum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Korruptionen … () … Die christliche Kirche ließ nichts in ihrer Verderbnis unberührt, sie hat aus jedem Wert einen Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht. Man wage es noch, mir von ihren »humanitären« Segnungen zu reden! Irgendeinen Notstand abzuschaffen, ging wider ihre tiefste Nützlichkeit, – sie lebte von Notständen, sie schuf Notstände, um  sich zu verewigen …()… Diese ewige Anklage des Christentums will ich an alle Wände schreiben, wo es nur Wände gibt, – ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen … Ich heiße das Christentum den Einen großen Fluch …“ 37

So harte Worte wie über das Christentum findet er für die anderen Religionen, mit denen er sich beschäftigt, nicht. Aber an der Gründlichkeit, mit der er sie studiert, und an der Kühle, mit der er sie vergleicht und abwägt, welcher eher etwas abzugewinnen wäre und welcher nicht, merkt man zumindest eines: Hier ist kein Gläubiger am Werk, sondern ein Mensch, der weiß, daß Gott, Jenseits und das ganze Drumherum Erfindungen sind, mittels derer die Menschen verdummt bzw. dumm gehalten werden, damit sie sich der herrschenden Ordnung nicht widersetzen.

Wird Nietzsche deswegen zum Gegner von Religion überhaupt? Keineswegs! Denn für die „Masse“, die „Schwachen“ und „Stumpfen“ mag so eine Verblödung gerade das Richtige sein. Dann geben sie Ruhe und die „Vornehmen“ haben freie Hand. In diesem Sinne ist das bereits unter II.1. erwähnte Zitat zu lesen:

„Für die Starken, …()… zum Befehlen Vorbereiteten, …()… ist Religion ein Mittel mehr, um Widerstände zu überwinden, um herrschen zu können …“ 38

In solchen Punkten äußert sich der Zynismus Nietzsches, der seine Vorstellungen von Rasse und Rangordnung stets begleitet, besonders deutlich: Obwohl er ständig die Natürlichkeit seines Ideals einer hierarchischen Gesellschaft betont, ist er doch ein Anhänger und Parteigänger aller derjenigen Veranstaltungen, die Herrschaft befestigen und aufrecht erhalten, und die mittels Religion zustande gebrachte Volksverdummung ist ihm dann wiederum Anschauungsmaterial dafür, daß die unteren Volksschichten dank ihrer Geisteshaltung die Lage, in der sie sich befinden, verdienen.

Was er somit dem Christentum vor allem vorwirft, ist gar nicht so sehr sein Inhalt oder die Praktiken der Kirche in all den Jahrhunderten ihres Bestehens – das nötigt ihm zeitweise sogar Achtung ab, – die „christliche Klugheit“ nennt er das … Nein, ihn stört am Christentum, daß es nicht bei den „niederen Schichten“ geblieben ist, wo es entstanden ist und wo es seiner Meinung nach auch hingehört, (typisch für die Sklaven, sich eine so widerliche Religion zuzulegen!) sondern daß es sich ausgebreitet hat wie ein Bazillus, die „Vornehmen“ erfaßt hat, fremde Völker ebenfalls – kurz, daß es eben nichts „in seiner Verderbnis unberührt“ gelassen hat.

Nietzsches Verhältnis zu bereits bestehenden Religionen ist also von Nützlichkeitserwägungen bestimmt, die nur eine sehr bedingte Gegnerschaft zulassen.

Ein weiterer Punkt ist Nietzsches eigener Gottesgesichtspunkt.

Ich habe bereits an anderer Stelle angedeutet (siehe I. 2.), wie er sich aus seinem Menschenbild ergibt, ja geradezu aufdrängt: Da dem Menschen die Fähigkeit des zweckgerichteten Handelns bestritten wird, es aber gleichzeitig unübersehbar ist, daß Menschen handeln, so müssen in Nietzsches Weltbild andere Mächte auftreten, die den Menschen in seinem Handeln bestimmen.
Er hat den Gottesgesichtspunkt in anderen Philosophien angegriffen und bestritten, daß sich in seiner Philosophie ein solcher finden ließe. Und er legt dabei 2 Merkmale fest, die seiner Meinung nach darauf hinweisen, daß in einem philosophischen System die Existenz Gottes (oder eines Gott-Ersatzes) enthalten ist: Wenn nämlich die Rede ist von 1. einem Jenseits und 2. einem Willen.
Und auch hier hat er wiederum teilweise recht. Wer von einem Jenseits der menschlichen Belange, des menschlichen Erkenntnisvermögens usw. faselt, der steht immer auf dem Standpunkt des Glaubens, denn von dem, wovon man nichts weiß, kann man eben wirklich – nichts wissen. Es hängt nur von denjenigen Absichten dessen, der so ein Jenseits festlegt, also seine Hirngespinste unter die Leute bringt, ab, wie er diese seine Erfindung ausgestaltet. Er will schließlich damit die, an die er sich wendet, für seine Absichten gewinnen. (Meistens glaubt er übrigens selbst genauso fest daran wie seine Jünger, aber es ist für die Analyse seiner Absichten unwichtig, ob er das tut oder nicht.) Das Spektrum dieser Phantasien reicht von „Himmel mit Engeln“ und sonstigem Beiwerk über die rätselhafte Welt der „Dinge-an-sich“ bis zur spiritistischen Sitzung mit Tischerücken.

Nur: Wie ich bereits ausgeführt habe, richtet Nietzsche mit seiner Erkenntnistheorie, genauer genommen, mit seiner teilweisen Übernahme der KANT’schen Erkenntnistheorie, seiner Lehre von den Grenzen des Verstandes, ebenfalls ein solches Jenseits ein, weil er die menschlichen Belange noch durch andere Dinge als eine wertfreie Wissenschaft geregelt sehen will. Somit wäre – nach seinen eigenen Maßstäben! – der erste Punkt für die Feststellung religiöser Absichten erfüllt.

Mit dem 2. Punkt, der Sache mit dem Willen, ist das ganze um einiges komplizierter.

Er leugnet nicht nur den menschlichen Willen und tut ihn als metaphysischen Firlefanz ab, sondern warnt auch vor der Annahme eines außermenschlichen Willens, wie z.B. in Zitat 74. Er geht dort so weit, die bloße Annahme von Gesetzmäßigkeiten in der Natur bereits als Indiz für eine spezielle Art von Gläubigkeit zu bezeichnen. Dieser Gedanke kann nur einem modernen Staatsbürger kommen: Der und nur der kann sich Gesetzmäßigkeiten, die nicht auf einen Gesetzgeber zurückzuführen sind, gar nicht vorstellen. Und weil diese Gesetzmäßigkeiten andererseits gar nicht zu übersehen, im praktischen Leben auch gar nicht zu umgehen sind, er aber keinen Schöpfer anerkennen will, so sagt er: Diese Gesetzmäßigkeiten sind gar keine wirklichen, sondern von uns erfunden, und diese Erfindungen bewähren sich, helfen uns im praktischen Leben, können also nach Nietzsche nichts „Widernatürliches“ sein.
Dabei ist ein gewisser Wille zur Selbsttäuschung zu bemerken, wo jemand die Gesetze, die ein Staat erläßt, mit den Naturgesetzen gleichsetzt. Außer dem Namen lassen sich nämlich nicht viele Gemeinsamkeiten feststellen, auch für den nicht, der von Naturwissenschaft oder Jurisprudenz wenig Ahnung hat. Man erfährt den Unterschied einfach im täglichen Leben: Naturgesetze kann man nicht übertreten, sie können nicht bei Bedarf novelliert werden, sie richten sich nämlich überhaupt nicht nach dem Bedarf von Arbeitsmarkt und Wirtschaftswachstum, usw. Zudem werden sie erforscht und nicht kommissionell mit irgendwelchen Mehrheiten festgesetzt. Sie bedürfen, um zu gelten, keines Gewaltapparates, bestehend aus Justiz und Polizei, sie setzen sich ganz von selbst durch.

Nietzsche übernimmt diese Gleichsetzung von Naturgesetzen und Rechtskategorien, wenn er sagt: Naturgesetze nur mit Gesetzgeber, und da kein Schöpfer, daher auch keine Gesetzmäßigkeiten in der Natur.

Da es nicht der Wille der Menschen sein kann, auf den der Zustand der Welt zurückzuführen ist, es aber auch keinen Gott gibt, der dafür zuständig wäre, erklärt Nietzsche den Zufall für das einzig Weltbewegende. Es gibt das Schicksal, meint er, aber es ist blind, und damit gerät er wieder in einen seiner Widersprüche:

„Der Türkenfatalismus hat den Grundfehler, daß er den Menschen und das Fatum als zwei geschiedene Dinge einander gegenüberstellt: der Mensch, sagt er, könne dem Fatum widerstreben, es zu vereiteln suchen, aber schließlich behalte es immer den Sieg; weshalb das Vernünftigste sei, zu resignieren oder nach Belieben zu leben. In Wahrheit ist jeder Mensch selber ein Stück Fatum; wenn er in der angegebenen Weise dem Fatum zu widerstreben meint, so vollzieht sich eben darin auch das Fatum; der Kampf ist eine Einbildung, aber ebenso jene Resignation in das Fatum, alle diese Einbildungen sind im Fatum eingeschlossen …()… Die Torheiten der Menschen sind ebenso ein Stück Fatum wie seine Klugheiten: Auch jene Angst vor dem Fatum ist Fatum. Du selber, armer Ängstlicher, bist die unbezwingliche Moira, welche noch über den Göttern thront, für alles, was da kommt; du bist der Segen oder Fluch, und jedenfalls die Fessel, in welcher der Stärkste gebunden liegt; in dir ist alle Zukunft der Menschen-Welt vorherbestimmt, es hilft nichts, wenn dir vor dir selber graut.“ 39

Wie aus diesem Zitat hervorgeht, ist das Schicksal, das Fatum, die überflüssigste Sache der Welt. Vorgezeichnet oder vorbestimmt ist gar nichts, aber man kann sich nachher immer einreden, daß alles vorbestimmt war, und daher alles so gekommen ist, wie es kommen mußte. Das Schicksal, dem man solcherart „unterworfen“ ist, soll einen um Himmels willen nicht davon abhalten, Zwecke zu setzen, aber man soll sich immer zu allem, was man tut und getan hat, bekennen – weil, wie Nietzsche weiß, konnte man ja gar nicht anders! Die Macht des Schicksals, die in nichts anderem besteht als einer ganz leeren Notwendigkeit, wird von Nietzsche zum Zweck der Gewissensberuhigung eingeführt.

Für die Stellung Nietzsches zur Religion ist hier nur eines wichtig: Da er dem Schicksal keinerlei eigene Absichten zubilligt, ist er wieder auf den Menschen als Subjekt seiner eigenen Handlungen zurückverwiesen. Daher – und das ist der Widerspruch jedes „Schicksals“-Gedankens – appelliert er wieder an den Willen und das Bewußtsein dessen, den er gerade von dieser äußeren Macht überzeugen wollte, und er fordert sie auf, ihre „Angst“ – die er erst erfunden hat, – abzulegen. (Erfunden hat er sie deshalb, weil er auf der Richtigkeit seiner Theorie gegenüber allen Einwänden beharren möchte – und so erklärt er sofort jede mögliche Kritik zum Ausdruck eines Mangels – an Mut, während er, tapfer wie er ist, seine These vertritt!) Und während er sich an den vielgeschmähten freien! Willen wendet, leugnet er ihn und sagt: In Wirklichkeit ist alles Schicksal!

Nietzsches „Mächte“, die uns bestimmen, egal, ob sie jetzt „Geschichte“, „Schicksal“, „Leben“ oder sonstwie heißen, sind eine halbe Sache, wie man es auch dreht und wendet: Geben soll es sie auf jeden Fall, wissen kann man nichts über sie; den eigenen Willen soll man nicht zu hoch einschätzen, wegen ihnen nämlich! Verlassen kann man sich auch nicht auf sie …*(5) Der einzige Grund, warum sie eingeführt werden, ist eben derjenige der General-Rechtfertigung*(6) für alles, was von Menschen getan wird.

 

5.3. Kunst

„Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen.“ 41

schreibt Nietzsche, und das ist zumindest einmal eine außergewöhnliche Einschätzung der künstlerischen Inhalte und Absichten. Wenn sie stimmt, so heißt das, daß ein ähnliches Bedürfnis wie das nach Glauben die Leute bewegt, Künstler zu werden oder Kunst zu genießen. Und es würde heißen, daß die Kunst dieses Bedürfnis stillt.

In einer frühen Schrift präsentiert sich Nietzsche als bedingungsloser Anhänger von Kunst überhaupt: Seiner Ansicht nach ist der Künstler der Einzige, der der Objektivität fähig ist, und zwar als Sprachrohr Gottes bzw. des Zeitgeistes:

„Wir behaupten vielmehr, daß der ganze Gegensatz, nach dem wie nach einem Wertmesser auch noch Schopenhauer die Künste einteilt, der des Subjektiven und des Objektiven, überhaupt in der Ästhetik ungehörig ist, da das Subjekt, das wollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann. Insofern aber das Subjekt Künstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subjekt seine Erlösung im Scheine feiert. Denn dies muß uns vor allem, zu unserer Erniedrigung und Erhöhung, deutlich sein, daß die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja daß wir ebensowenig die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind: wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, daß wir für den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und künstliche Projektionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken unsere höchste Würde haben – denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: – während freilich unser Bewußtsein über diese unsere Bedeutung kaum ein andres ist als die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr dargestellten Schlacht haben. Somit ist unser ganzes Kunstwissen im Grunde ein völlig illusorisches, weil wir als Wissende mit jenem Wesen nicht eins und identisch sind, das sich, als einziger Schöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie, einen ewigen Genuß bereitet. Nur soweit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiß er etwas über das ewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Märchens gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subjekt und Objekt, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer.“ 42

Obwohl er seine Kunstbetrachtung in späterer Zeit deutlich weniger auf den lieben Gott aufbaut, sind die wesentlichen Momente seiner Kunst- und Erkenntnistheorie hier schon enthalten: Wahre „Objektivität“ ist Einklang mit der Schöpfung, der „Natur“ und dem „Leben“, wie sie anderorten heißt; der Sinn der menschlichen Existenz, ihre „Rechtfertigung“, liegt darin, daß Kunst hervorgebracht wird – unter den verschiedenen Abteilungen der Kultur belegt die Kunst bei Nietzsche den ersten Platz in dieser Frage –, erkennen und wissen kann man nichts über dieses allem innewohnende Prinzip der Schöpfung, aber streben soll man trotzdem danach ( – woher weiß Nietzsche, wann jemand wirklich von der Muse geküßt worden ist und wann er nur so tut, wenn man nur ein „völlig illusorisches Kunstwissen“ hat?); und schließlich entspringen Kunst und Schaffensdrang nicht egoistischen Motiven, sondern kommen erst unter Hintanstellung derselben zustande.

Was die Quellen dieses Prinzips oder Gottes, der sich durch den Künstler angeblich äußert, wirklich sind, verrät Nietzsche an anderer Stelle:

„Ja, in der Umwölkung des Schaffens vergißt der Dichter selber, wo er alle seine geistige Weisheit her hat – von Vater und Mutter, von Lehrern und Büchern aller Art, von der Straße und namentlich von den Priestern; ihn täuscht seine eigene Kunst, und er glaubt wirklich, in naiver Zeit, daß ein Gott durch ihn rede, daß er im Zustande einer religiösen Erleuchtung schaffe –: während er eben nur sagt, was er gelernt hat, Volks-Weisheit und Volks-Torheit miteinander. Also: insofern der Dichter wirklich vox populi ist, gilt er als vox dei.“ 43

Was Nietzsche über Künstler, namentlich Dichter schreibt, ist bemerkenswert: Die „Größe“ eines solchen Menschen liegt demzufolge darin, den durchgesetzten Meinungen im Lande Ausdruck zu verleihen, und je besser ihm das gelingt, um so mehr Anerkennung wird er erhalten. Der Konsens mit dem „Zeitgeist“ macht also den „wahren Künstler“ aus, seine Originalität betätigt er dadurch, daß er das schreibt/darstellt/komponiert, was die Leute gerade hören wollen, und zwar so, daß es als Ausdruck von etwas „Höherem“ begriffen werden kann. Grob formuliert, sind es also eigentlich geschickt formulierte Gemeinplätze, die einem Literaten Anerkennung, d.h. Erfolg, sichern.

Wer sich gegen eine solche Einschätzung verwehrt und sagt, das Wesen der Kunst bestünde darin, zu provozieren und gegen den Zeitgeist zu schwimmen, dem sei gesagt: „provozieren“, also hervorrufen, kann man nur etwas, das schon vorhanden ist. Wer also mit solchen „Provokationen“ Erfolg hat, verdankt ihn der Tatsache, daß es bereits ein Publikum gibt, das genau dieses Gebotene zu würdigen weiß. Ein Publikum also, das meint, die etablierte und durchgesetzte Kunst sei nicht mehr zeitgemäß und müßte geschwindest durch eine andere ersetzt werden. Wo es ein solches Publikum nicht gibt, bleibt der Künstler „verkannt“ und wird erst später – oder nie – „entdeckt“. Dann nämlich, wenn „seine Zeit“ gekommen ist – es also ein Bedürfnis nach seiner Aussage und/oder Darstellung gibt.

Die Charakterisierung des Künstlers, wie sie Nietzsche gibt, trifft nicht nur die tatsächliche Stellung von ihm, sondern auch seine Selbsteinschätzung: Er meint, dem Zeitgeist, oder einem „Zeitgefühl“ Ausdruck verleihen zu müssen, etwas Unerkanntem, das in den Menschen seiner näheren und weiteren Umgebung schlummert und vom Zauberstab des Dichters oder Malers auferweckt werden will.*(7)

Wie sich das vollzieht, charakterisiert Nietzsche folgendermaßen:

„Die Künstler verherrlichen fortwährend – sie tun nichts Anderes –: und zwar alle jene Zustände und Dinge, welche in dem Rufe stehen, daß bei ihnen und in ihnen der Mensch sich einmal gut oder groß, oder trunken, oder lustig, oder wohl und weise fühlen kann. Diese  ausgelesenen Dinge und Zustände, deren Wert für das menschliche Glück als sicher und abgeschätzt gilt, sind die Objekte der Künstler: sie liegen immer auf der Lauer, dergleichen zu entdecken und in’s Gebiet der Kunst hinüberzuziehen. Ich will sagen: Sie sind nicht selber die Taxatoren des Glücks und des Glücklichen, aber sie drängen sich immer in die Nähe dieser Taxatoren, mit der größten Neugierde und Lust, sich ihre Schätzungen sofort zu Nutze zu machen. So werden sie …()… immer auch unter den Ersten sein, die das neue Gute verherrlichen, und oft als die  erscheinen, welche es zuerst gut nennen und als gut taxieren …“ 44

Die Vermutung, die Nietzsche an dieser Stelle äußert, nämlich daß die „Reichen und Müßigen“ die Festleger des Guten und des Glücks, also der Werte, auf die es ankommt, sind, trifft die Sache nicht ganz genau: Es sind vielmehr heute die Politiker, also die gewählten oder selbsternannten Inhaber der Staatsgewalt, die leider gar nicht „müßig“ sind, sondern die kraft ihrer Stellung imstande sind, ihre Untertanen den jeweiligen Zwecken des Staates zu unterwerfen. Da das immer eine sehr ungemütliche Sache ist – was man schon allein daran erkennen kann, daß Gewalt dafür notwendig ist, – so sind sie konsequenterweise daran interessiert, daß die solchermaßen Behandelten das Verlangte ohne größeren Widerstand ausführen, sich also in den Zwang fügen. Zu diesem Zweck geben sie zusätzlich zu ihren jeweiligen Verordnungen und Erlässen, Sozialkürzungen und Aufrüstungsschritten und was immer, Sichtweisen an, die diesen Maßnahmen den Anschein von höheren Notwendigkeiten geben. So heißt es z.B., irgendeine Maßnahme wäre gar nicht von der jeweiligen Regierung beschlossen und durchgeführt, sondern sie gehorche dabei nur einem „Sachzwang“, sei also gar nicht das Subjekt der ganzen Angelegenheit, während der Sachzwang leider! unumgänglich sei.
Diese Sichtweisen machen sich die Normalverbraucher, die arbeitende Menschheit – zu ihrem eigenen Schaden – zu eigen und sie stellen sich dadurch aufgrund ihrer Durchgesetztheit als Volksmeinung dar, auf die sich dann auch jeder Hetzer von der Presse oder jeder Parteipolitiker berufen kann. Und diese Sichtweisen sind dem Künstler Material für sein Schaffen. Er übernimmt sie nicht einfach, sondern gestaltet sie nach seinen Vorstellungen aus, nimmt sie also in sein besonderes ICH auf und stellt sie dann so dar, als seien sie eben dieser seiner individuellen Besonderheit entsprungen. Das Maß an Originalität, das er dabei an den Tag legt, also die gelungene Verpackung der gewöhnlichen Lebensweisheiten, macht den Unterschied zwischen „hoher“ und „trivialer“ Kunst aus.*(8)
Nietzsche kommt schließlich zu der Auffassung, daß die Künstler aus den eben genannten Gründen auch nicht als Schöpfer neuer Wertvorstellungen in Frage kommen:

„Eliminieren wir zunächst die Künstler: dieselben stehen lange nicht unabhängig genug in der Welt und gegen die Welt, als daß ihre Wertschätzungen und deren Wandel an sich Teilnahme verdiente! Sie waren zu allen Zeiten Kammerdiener einer Moral oder Philosophie oder Religion; ganz abgesehn noch davon, daß sie leider oft genug die allzugeschmeidigen Höflinge ihrer Anhänger- und Gönnerschaft und spürnasige Schmeichler von alten oder eben neu heraufkommenden Gewalten gewesen sind.“ 45

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*(5) wenn sie einmal, selten aber doch, etwas anschaffen, dann immer nur das Eine: Moral

„Wenn wir von Werten reden, reden wir unter der Inspiration, unter der Optik des Lebens: das Leben selbst zwingt uns, Werte anzusetzen, das Leben selbst wertet durch uns, wenn wir Werte ansetzen ...“ 40

*(6) Der Begriff Rechtfertigung ist sehr wichtig für Nietzsche, und zwar aus dem Grund, den ich unter I.1.2. ausgeführt habe. Nietzsche will die Menschen für unschuldig erklären, also alle Schuld von ihnen nehmen. Er ist dafür von seinen Gegnern sehr angegriffen worden, weil in der herkömmlichen Moralphilosophie der Begriff „Schuld“, vornehmer auch „Verantwortung“ genannt, unentbehrlich ist. Alle Dispute und Überlegungen über richtiges, „verantwortliches“ und falsches, „verantwortungsloses“ Handeln leben von der Anerkennung dieser Grundvoraussetzung.
Diejenigen Philosophen, die ihm vorwerfen, er habe damit den Imperialismus und Faschismus und was auch immer gerechtfertigt, übersehen wohlweislich, daß die Politiker und Geschäftsleute sich nicht mit Moralphilosophen unterhalten, bevor sie tätig werden, und daher auch mit Schuld- und Anklage-Ideologien gut leben können.

*(7) Der Künstler, der sagt: ich kleckse oder dichte, weil und wie es mir Spaß macht, ist heute nicht nur eine (zumindest mir) unbekannte Erscheinung, er würde sich auch beim ersten öffentlichen Interview völlig unmöglich machen: Denn es wird von ihm erwartet, daß mehr dabei ist bei dem, was er tut, gerade dieses Vermitteln von Botschaften, dieser Anklang ans „Höhere“ macht die besondere Faszination hier und heute fürs geschätzte Publikum aus.

*(8) An einem Beispiel möchte ich diese eben gegebene Charakterisierung des künstlerischen Schaffens ausführen. Die NATO als vereinigter Gewaltapparat der westlichen – kapitalistischen – Demokratien existiert zwar tatsächlich deswegen, weil mit ihm der Kapitalismus und alle seine Prinzipien gegen den Realsozialismus verteidigt und durchgesetzt werden sollen. Bei dieser sehr blutigen Aufgabe bedienen sich ihre Fürsprecher aber immer der Deutungsweise, hiermit würde die Freiheit gegen die Unterdrückung durchgesetzt. Somit wird jede Schlächterei irgendwo auf dem Globus entweder als ein Verstoß gegen das vorgestellte Ideal der Freiheit, oder als eine notwendige Härte zur Sicherung derselben angesehen. Und auch das wird von niemandem in der freien demokratischen Öffentlichkeit als Aussage darüber, daß die Durchsetzung der Freiheit des Kapitals eine sehr brutale Angelegenheit ist, aufgefaßt. Nein, es wird so begriffen und diskutiert, als ob die Freiheit ein Elementarbedürfnis aller Menschen ist, das unter allen Umständen gesichert werden muß, gleichgültig, wie. Diese Absicherung der Freiheit wird somit in den eigentlichen „Auftrag“ der „Menschheit“ an die zuständigen Machthaber verwandelt, und es wird niemand darüber, daß täglich Scharen von Menschen auf die eine oder andere Art der imperialistischen Gewalt zum Opfer fallen, an dieser Deutung irre. Es geht schließlich um einen höheren Wert und da muß man über solche Kleinigkeiten hinwegsehen.
Das Ergebnis dieser ideologischen Veranstaltung kann sich, was die Kunst betrifft, sehen lassen: In der zeitgenössischen Literatur gilt die Freiheit als höchstes Gut, der Umgang mit ihr als allerwichtigstes und kompliziertestes Problem, an der Frage der Freiheit scheiden sich Gut und Böse; und der schärfste Vorwurf, den man einem Menschen überhaupt machen kann, im politischen wie im privaten Bereich, lautet, er lasse keine Freiheit zu, trete sie mit Füßen, oder widme ihr schlicht nicht die gebührende Aufmerksamkeit. (Das gilt übrigens nicht nur für die Literatur, sondern auch für die Philosophie, die Medien, das gesamte Spektrum der öffentlichen Meinung.) Und diese Literatur wird gerne gelesen, weil der Leser sich, seine eigene Meinung, darin wiederfindet. Denn der, an den sich der Schriftsteller richtet, versteht die Freiheit auch als sein höchstes Gut, und die Gemetzel und Einschüchterungsversuche der Staatsoberhäupter und Armeen – auch der Gedanke der „Abschreckung“ baut auf diesem Glauben auf – als die notwendige Verteidigung und Absicherung dieser Kostbarkeit.

 

34. Menschliches, Allzumenschliches I, 2/110

35.   -   "   -   "   -   "   -   "   -   "   -   2/110-111

36. Der Antichrist, 6/226-227

37.  -   "   -   "   -  6/252-253

38. Jenseits von Gut und Böse, 5/79

39. Menschliches, Allzumenschliches II, 2/580

40. Götzendämmerung, 6/86

41. Menschliches, Allzumenschliches I, 2/144

42. Die Geburt der Tragödie, 1/47-48

43. Menschliches, Allzumenschliches II, 2/455

44. Die fröhliche Wissenschaft, 3/442-443

45. Zur Genealogie der Moral, 5/344-345

 

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