5.4. Philosophie

In einer frühen Schrift schreibt Nietzsche über diese Königin aller Wissenschaften:

„Ähnlich“ (wie mit der Geschichte) „steht es mit der Philosophie: aus welcher ja die Meisten nichts anderes lernen wollen, als die Dinge ungefähr – sehr ungefähr! – verstehen, um sich dann in sie zu schicken. …()… Mir scheint dagegen die wichtigste Frage aller Philosophie zu sein, wie weit die Dinge eine unabänderliche Artung und Gestalt haben: um dann, wenn diese Frage beantwortet ist, mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die Verbesserung der als veränderlich erkannten Seite der Welt loszugehen. Das lehren die wahren Philosophen auch selber durch die Tat, dadurch, daß sie an der Verbesserung der sehr veränderlichen Einsicht der Menschen arbeiteten und ihre Weisheit nicht für sich behielten; …“ 46

In diesem Zitat lassen sich alle Momente des Weltverbesserertums auffinden: Wichtig ist nicht, zu untersuchen, ob etwas überhaupt verbessernswert ist, oder ob es vielleicht zu denjenigen Dingen gehört, derer man sich besser entledigt. Das zu untersuchende Etwas ist ebenso uninteressant, die Bestimmung „die Dinge“ bezeichnet schlicht alles auf der Welt, und alles soll besser werden. Es ist,

„als ob die Welt auf ihn gewartet hätte, um zu erfahren, wie sie sein solle, aber nicht sei.“ …47

Der einzige Unterschied, der ihn interessiert, ist der zwischen verbesserbar und nicht verbesserbar, weil nicht veränderbar. Und er entscheidet sich, bereits hier, daß das Veränderliche auf der Welt die „Einsicht der Menschen“ ist, ihr Verstand also, und er nimmt sich vor, im Gefolge der philosophischen Tradition auf ebendiesen einzuwirken.

Nietzsche war kein Umstürzler, er ist auch zu keinem geworden: Das war nie seine Absicht. Im Grunde enthält das obige Zitat bereits den Kern seiner ganzen Philosophie (und darin wieder ist er ein sehr typischer Vertreter seiner Zunft): Es geht ihm nicht darum, gesellschaftliche Zustände aufzuheben oder Utopien für neue Gesellschaftsformen zu entwickeln, sondern er will die geistig-psychische Einstellung zu den bestehenden Zuständen ändern. Das ist sein „Kampf“, den er sich vornimmt, und für den er seine „rücksichtslose Tapferkeit“ braucht. Die am Zitatanfang vorgenommene Distanzierung vom falschen Philosophieverständnis relativiert sich dahingehend, daß er sich sehr wohl in die Dinge schickt, die er – „sehr ungefähr!“ versteht, – nämlich Politik und Ökonomie, den bürgerlichen Staat und seine ganzen Einrichtungen, – aber über das vorgefundene Geistesleben sehr unzufrieden wird. „Die wichtigste Frage aller Philosophie“ beantwortet sich also mit der Festsetzung, daß veränderbar genau das ist, was in seinen Augen verändernswert ist – und diese Antwort ist eine notwendige Folge des in der Frage bereits gemachten Fehlers: Veränderbarkeit kommt jedem Ding auf der Welt zu, sobald es ein Interesse dafür gibt, etwas daran verändern zu wollen. Es ist somit Eigenschaft von Allem und deshalb auch gleich wieder Eigenschaft von gar nichts, genauso wie die Kategorie „Sein“, die die bloße Existenz zu einer Eigenschaft erklärt. „Veränderbarkeit“ ist also durch das Interesse an einer Sache bestimmt, und so ist es nur konsequent, das Interesse zur Bestimmung zu erklären.

Der Höhepunkt von Nietzsches Philosophie, so wie sie hier programmatisch formuliert wird, ist der „Zarathustra“, das Buch, das er selber zu seinem bedeutendsten und tiefsten erklärt hat. (Eine Einschätzung, der ich mich, was den gedanklichen Inhalt des Buches angeht, nicht anschließen kann.) Im „Zarathustra“ macht Nietzsche ernst mit seiner „Umwertung aller Werte“, indem er ein Gegen-Ideal gegen die bisher gepredigten Ideale, die er an anderer Stelle kritisiert hat, errichten will. Er will hier positiv sein, sich als Ja-Sagender präsentieren, da zu viel Kritisiererei ihm als „Nihilismus“, „Dekadenz“, „Wille zum Ende“ gilt. „Also sprach Zarathustra“ ist sozusagen Nietzsches Gegen-Bibel, oder Bibel-Ersatz.

Besonders trostlos an dieser seiner im „Zarathustra“ niedergelegten, angeblich so neuen „vornehmen Wertungsweise aller Dinge“ ist der Umstand, daß hier altbekannte christliche Tugenden wie Entsagung, Keuschheit, Gehorsam wiederauferstehen – nur mit dem (vermeintlichen) großen Unterschied, daß man sie von nun an nicht mehr wegen Gott und Jenseits und Jüngsten Gericht tun soll, sondern weil man sie sich ganz persönlich ausgewählt hat. (Mehr davon in Abschnitt IV.)

Anhand von Nietzsches Philosophieverständnis und eben besonders deutlich sichtbar beim „Zarathustra“ bewahrheitet sich seine eigene Aussage über diese Wissenschaft und ihre Vertreter:

„Allmählich hat sich mir herausgestellt, …()… daß die moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den eigenen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze gewachsen ist. In der Tat, man tut gut (und klug), zur Erklärung davon, wie eigentlich die entlegensten metaphysischen Behauptungen eines Philosophen zu Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen: Auf welche Moral will es (will e r –) hinaus? Ich glaube demgemäß nicht, daß ein »Trieb zur Erkenntnis« der Vater der Philosophie ist, sondern daß sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntnis (und der Verkenntnis!) nur wie eines Werkzeuges bedient hat.“ 48

Und auch eine andere von ihm getroffene Feststellung bezüglich der Philosophie gilt für ihn selber ebenso:

„ … wir modernen Menschen sind so an die Notdurft der Logik gewöhnt und zu ihr erzogen,*(15), daß sie …()… den Lüsternen und Dünkelhaften zuwider sein muß …()… Ihr feinerer Ehrgeiz möchte gar zu gerne sich glauben machen, daß ihre Seelen Ausnahmen seien, nicht dialektische und vernünftige Wesen, sondern – nun zum Beispiel »intuitive Wesen«, begabt mit dem »inneren Sinn« oder mit der »intellektualen Anschauung«. Vor Allem wollen sie »künstlerische Naturen« sein …()… mit dem Götter-Vorrecht, unbegreiflich zu sein. – Das treibt nun auch Philosophie! Ich fürchte, sie merken eines Tages, daß sie sich vergriffen haben, – das, was sie wollen, ist Religion!“ 50

Daß die heute nicht nur in der Philosophie durchgesetzte Unart, Geringschätzung bis Widerwillen gegenüber der Logik, ja dem Verstand überhaupt an den Tag zu legen und sich aufs Gefühl zu berufen, daß diese Sitte keinen anderen Grund hat, als seine Besonderheit ganz leer und grundlos zu behaupten und gegen alle anderen auszuspielen, hat Nietzsche richtig erkannt. Er hat sich dieser Vorgangsweise auch selbst oft genug bedient, wo immer es ihm geraten erschienen ist, und der Untertitel des „Zarathustra“ ist schon für sich ein Beispiel für seinen Dünkel: „Ein Buch für Alle und für Keinen“ bedeutet nichts anderes als seine Einschätzung der werten Leser: „Lesen sollt ihr es, denn um mich mitzuteilen, habe ich es geschrieben, aber verstehen könnt ihr es gar nicht, denn ich bin zu außergewöhnlich für Euch“.
(Heute würde man sagen: Ein guter Werbegag!)

Nur in dem Punkt, was die Eignung solcher „Dünkelhaften“ für das philosophische Treiben betrifft, täuscht sich Nietzsche. Die „vergreifen“ sich gar nicht, wenn sie Philosophie treiben. Denn wer Moral, Wertvorstellungen begründen will, befindet sich überhaupt nicht im Widerspruch, sondern vielmehr im Einklang mit der Religion: Moralität beruht auf Glauben, auf Unterordnung unter ein „Soll“, eine wirkliche oder eingebildete Instanz, und läßt sich nicht rationell begründen. Die Philosophie unterscheidet sich gerade dadurch von der Religion, daß ihre Vertreter sich trotzdem darum bemühen, und sie gleicht ihr darin, daß sie zum selben Ziel gelangt: Dem Aufstellen von ethischen Normen.

An diesem Selbstwiderspruch arbeitet sie sich ab und ist weit entfernt davon, daran zugrunde zu gehen. Die in Papierform vorliegenden Ergebnisse von einigen Jahren Philosophiegeschichte und das ungebrochene Interesse, das nach wie vor an dieser Wissenschaft besteht, beweisen vielmehr, wie produktiv ein solcher Widerspruch sein kann. Seine Beliebtheit verdankt er dem elitären Bewußtsein, daß philosophisch gebildete Menschen sich vom alten Mütterchen auf der Kirchenbank dadurch abheben wollen, daß sie „nur“ glaubt, während Philosophen sich ihre Gläubigkeit genau überlegt haben!

Die Entdeckung, die Nietzsche schließlich machen muß, nämlich daß die Religion Grundlage aller Philosophie ist und nicht nur ein durch niedrige Geister mit ihr getriebener Mißbrauch, diese Entdeckung bewegt ihn zu einer Haßtirade gegen sie:

„Jede Teilnahme an einem Gottesdienste ist ein Attentat auf die öffentliche Sittlichkeit. Man soll härter gegen Protestanten als gegen Katholiken sein, härter gegen liberale Protestanten als gegen strenggläubige. Das Verbrecherische im Christsein nimmt in dem Maße zu, als man sich der Wissenschaft nähert. Der Verbrecher der Verbrecher ist folglich der Philosoph.“ 51

Diese moralische Entrüstung ist mit einer Kritik nicht zu verwechseln, sie bleibt den gleichen Denkschemen verhaftet: Vom Standpunkt irgendeines Nietzsche’schen Sittlichkeitsbegriffes wird gegen die herrschende Sittlichkeit gewettert: Sie wird als unsittlich angeprangert. Weil die Suche nach der rechten Moralität der Motor von Nietzsches gesamtem Denken ist, kann er an der Moral keine Kritik üben, die nicht für sich schon ein Werturteil enthält – also eine Abschwächung, einen Rückgriff auf die eigene Subjektivität, die damit gleichzeitig in die Waagschale geworfen wird. So macht man es denn anderen leicht, eine Kritik als bloße Meinung abzutun.


Zusammenfassung von Nietzsches Kulturkritik

Nietzsche sucht im nationalen Geistesleben nach Anknüpfungspunkten für sein Konzept der Helden-Tugendhaftigkeit, des Strebens nach Auszeichnung, nach Distanz von der „Herde“, der Kleinheit, der kleinkarierten Vorteilsrechnung. Zu jeder der in diesem Abschnitt unter „Kultur“ behandelten Abteilungen – Wissenschaft, Religion, Kunst und Philosophie, – nimmt Nietzsche im Verlauf seiner Beschäftigung mit ihr entgegengesetzte Stellungen ein. Er setzt Hoffnungen in sie bzw. ihre Repräsentanten (Wagner, Schopenhauer), zweifelt an ihnen, verwirft sie, wendet sich ihnen wieder zu usw. Es läßt sich eine gewisse Entwicklung von der Euphorie seiner Frühschriften hin zur weitgehenden Enttäuschung seiner späten Werke feststellen, aber er bleibt bis zuletzt schwankend, eine klare Abkehr vom einen oder anderen, seis jetzt Religion, seis Wissenschaft, läßt sich nicht finden.

Der Widerspruch liegt eben auch hier in der Sache, in Nietzsches Untersuchungsabsicht, mit der er sich an die Kultur heranmacht. Die Schwierigkeit dabei ist die, daß die „Taxatoren des Glücks“, also die Leute, die den Ton angeben im Lande, woanders sitzen als in Philosophenstuben. Es ist die Täuschung über seine eigene Rolle als Subjekt des Geisteslebens, über seine eigene Bedeutsamkeit, an der Nietzsche notgedrungen scheitern muß. Es ist auch sein – typisch philosophischer – Irrtum über Moralität als Zweck menschlichen Handelns. Einem so fanatischen Anhänger der Sittlichkeit, wie Nietzsche einer war, und der ein geistiges Betreuungsverhältnis zur Menschheit einnimmt, das mit seiner tatsächlichen Stellung überhaupt nicht korrespondiert, mag diese zum Endzweck des gesamten eigenen Handelns gemachte Moral als Ideal vorschweben. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß im gewöhnlichen Leben Moral nichts anderes ist als eine Deutung der wirklichen Zustände, der wirklichen Zwänge, denen die Leute ausgesetzt sind, und zwar eine Deutung, die diesen Zwängen irgendeine Form von letzter Notwendigkeit verleiht, seis als Wille Gottes oder als irgendein „Natur“gesetz. Das Interesse derer, die sich diese Deutung, die notwendig eine verkehrte Darstellungsweise der betreffenden Dinge sein muß, zu eigen machen, ist das Sich-Abfinden und Einrichten in diesen Zwängen – zum eigenen Schaden. Moral ist jedenfalls dort den ökonomischen und politischen Zwängen nachgeordnet, eine freiwillige Selbstverdummung und Mittel für gar nichts, geschweige denn jemandes Zweck.

Von der anderen Seite, der der Nutznießer gesellschaftlicher Verhältnisse, ist Moral genau das, als was Nietzsche die Religion qualifizierte – (deren Vertreter in vorbürgerlichen Zeiten tatsächlich das Monopol auf seelische Betreuung der Unterworfenen und damit auch eine entsprechende Machtposition innegehabt haben, die ihnen mit dem Aufkommen anderer Untertanen-Ideologien größtenteils abhanden gekommen ist.) – „ein Mittel mehr, um Widerstände zu überwinden, um herrschen zu können…“ sie befördern sie daher kräftig. Zunächst, vor aller geistigen Betreuung, setzen sie den Grund für Moral, den Zwang, heute: Recht und Gesetz, Justiz und Exekutive. Die bürgerliche Moral entspricht daher dem, was dem Staatsbürger in einem kapitalistischen Staat abverlangt wird. Heldenhaftigkeit ist da weniger gefragt, es genügt zunächst das Streben nach Erfolg, die Jagd nach dem Glück und das Suchen und Finden von allerlei dummen Gründen, warum man keines von beiden erreicht hat.

Nietzsche geht bei seiner Kulturkritik genauso vor wie bei seiner Betrachtung der Armut und des Krieges, der Ehe und der Rasse: Er schreibt ihr eine Bestimmung zu, die sie nicht hat – seine eigene Vorstellung nämlich – und wird dann darüber unzufrieden, daß sie dieser Bestimmung nicht nachkommt, – ohne davon zu lassen, sie ihr weiterhin als „eigentliche“ zuzuschreiben.

Die Grundlage für dieses ganze Weltbild ist die Art und Weise, wie er sich „den Menschen“ zusammenreimt. Dabei macht er den

„Erbfehler der Philosophen. – Alle Philosophen haben den Erbfehler an sich, daß sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Analyse desselben an’s Ziel zu kommen meinen. Unwillkürlich schwebt ihnen »der Mensch« als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maß der Dinge vor.“ 52

Sein ewig „Gleichbleibendes“ ist für ihn der „Wille zur Macht“ und als Äußerungen davon versucht er die verschiedenen Verhaltensweisen der Menschen zu erklären.

Diese Suche nach Hintergründigem, welches das Vordergründige beeinflußt bzw. erst hervorbringt; nach Tieferem, Höheren im und jenseits des Menschen, mit dessen Hilfe man die banalen täglichen Handlungen mit einem „nur“ belegen kann, nach „Menschlichem, Allzumenschlichen“ ist keineswegs eine besondere Eigenart Nietzsches: Es ist das Bedürfnis nach Sinn.

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*(15) Dieser Beobachtung kann ich mich nicht anschließen, mir erscheint eine entgegengesetzte Beobachtung Nietzsches zutreffender zu sein:

„Sind wir nicht daraufhin erzogen, gerade dann pathetisch zu fühlen und uns in’s Dunkle zu flüchten, wenn der Verstand so klar und kalt wie möglich blicken sollte! Nämlich bei allen höheren und wichtigeren Angelegenheiten.“ 49

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46. Wagner in Bayreuth, 1/445

47. HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Suhrkamp tw, Werke
Band 8/48, siehe auch die Einleitung dieser Arbeit

48. Jenseits von Gut und Böse, 5/19-20

49. Morgenröte, 3/95

50. " - " 3/315

51. Der Antichrist, 6/254

52. Menschliches, Allzumenschliches I, 2/24

 

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