II.TEIL. DIE RECHTLICHEN RAHMENBEDINGUNGEN DES KREDITWESENS IN UNGARN (1)

 

1. Der Grundbesitz. Die Avitizität.

Den adeligen Grundbesitz in Ungarn kennzeichnen 2 Momente. 1.: Der Grundbesitz soll gegen Zugriff von außen, d.h., gegen Fremde, Nicht-Angehörige geschützt sein. 2.: Jeder, der zur Familie gehört, kann Ansprüche darauf geltend machen. Dieses zweite Prinzip existierte seit 1351 als Rechtsbegriff unter dem Namen der Avitizität und stellte damals vermutlich nur die Kodifizierung eines älteren Gewohnheitsrechtes dar. Eigentlich ein Überrest der Stammesorganisation der Ungarn, ist es einerseits zu einem Schutzfaktor, andererseits zu einer Schranke des feudalen Grundbesitzes geworden.
Gemäß dem Prinzip der Avitizität konnte jeder Anspruch auf den Grundbesitz geltend machen, der irgendeine Form der Blutsverwandtschaft zu demjenigen nachweisen konnte, dem das Land seinerzeit – vor Jahrhunderten – verliehen worden war. Dem im Rahmen dieser Studie behandelten Zeitraum geht mehr als ein Jahrhundert der Rechtsstreitigkeiten voraus, in der die Angehörigen des Adels versuchten, ihr Vermögen auf dem Rechtsweg zu vergrößern. Der Prozeß um das Land war die einzig gängige Form der Bereicherung. Es war aber auch der häufigste Verschuldungsgrund: Gerichtsverfahren waren kostspielig, die Grundbesitzer verfügten selten genug über Bargeld. Eine übliche Form der Kreditaufnahme bestand darin, Grundstücke gegen Bargeld zu verpfänden. Diese Form war zwar für beide Seiten die sicherste – der Kredit konnte nicht frühzeitig aufgekündigt werden, die Zinsen wurden durch die Einnahmen des Grundstückes bezahlt – stand aber einer produktiven Nutzung des Bodens, Investitionen zwecks Ertragsverbesserung, im Weg: Der, der den Kredit aufnahm, mußte gerade das Land hergeben. Um es nach Ablauf der Verpfändungsfrist wieder einlösen zu können, war der Verpfänder klarerweise gegen hohe Investitionen durch den Pfandnehmer, da er diese auch zurückerstatten mußte. Oft war der, der einen Besitz gegen Kredit in Pfand genommen hatte, nicht bereit, ihn nach Ablauf der vereinbarten Frist zurückzugeben, was wiederum Prozesse nach sich zog, Kosten verursachte, usw. Die wirkungsvollste Methode, um das Pfand über die festgelegte Frist hinaus einbehalten zu können, waren eben besagte Investitionen durch den Pfandnehmer, die die Rückeinlösung für den Besitzer verteuerten.
Da diese Form der Kreditaufnahme den Familienbesitz belastete, wurde sie durch gesetzliche Bestimmungen erschwert, wie die des verpflichtenden Anbots: Wer ein Grundstück an einen Fremden verpfänden wollte, mußte vorher seinen näheren oder entfernteren Verwandten die Möglichkeit geben, es zu den gleichen Bedingungen als Pfand zu nehmen.
Bei Ablauf der vereinbarten Frist für die Rückgabe des Grundes (bis zu 32 Jahre) waren dem Gläubiger bzw. Pfandhalter die auf dem Grund gemachten Investitionen zurückzuerstatten, was wiederum Geldbedarf nach sich zog. Aber auch wer gerade nicht auf Landgewinn aus war, mußte ständig damit rechnen, daß sein Grund ihm von anderen entfernten Blutsverwandten streitig gemacht werden könnte, und entsprechend Vorsorge tragen, d.h., einen Rechtsexperten beschäftigen, bei Behörden Eingaben machen usw. All dies wurde erschwert oder umgekehrt gerade angeheizt durch das völlige Fehlen von Grundbüchern, da mangels fehlender Unterlagen der rechtmäßige Besitz eines Grundes leicht bestritten, aber schwer bewiesen werden konnte. Das hatte zur Folge, daß im Falle einer Kreditaufnahme die Angaben eines Schuldners über seinen Grundbesitz schwer zu überprüfen waren.
Ein Beispiel für einen sogenannten „Anspruchsprozeß“ stellt ein Rechtsstreit der Familie Batthyány aus dem Jahr 1842 dar: Die beigebrachten Dokumente, mit denen die eine Seite ihren Anspruch untermauern wollte, reichen bis ins Jahr 1544 zurück, die Besitzungen der verschiedenen Familienmitglieder waren auf 4 Komitate verstreut, das Erbrecht bestand für beide Geschlechter, sodaß auch eingeheiratete Verwandte auf die fraglichen Grundstücke Anspruch erheben konnten. Zusätzlich waren diese Grundstücke nicht nur vererbt, sondern auch innerhalb der Familie gegen andere, günstiger gelegene getauscht worden, was die eine Partei ein Jahrhundert später wegen angeblicher Benachteiligung anfocht.(2)

Es gab auch Grund, der nicht unter die Bestimmungen der Avitizität fiel, und zwar der Grund innerhalb der königlichen Freistädte. Der war natürlich bei Schuldprozessen besonders begehrt. Bei der Vollstreckung von Urteilen kam es daher oft zu Streitigkeiten zwischen den den Adel repräsentierenden Behörden der Komitate und den demgegenüber über die Rechte der Stadtbürger wachenden städtischen Behörden.
Die Avitizität war Streitgegenstand der letzten drei ungarischen Reichstage, erst derjenige von 1848 hob sie auf. Sie wurde, ebenso wie die Unklarheiten über die Besitzverhältnisse, von ihren Anhängern für einen Schutz vor Pfändung und sozialem Abstieg gehalten. Außerdem schränkte diese Bestimmung das Devolutionsrecht der Krone ein, demzufolge die Güter eines Adeligen in den Besitz des Königs übergingen, wenn der Besitzer ohne Nachkommen verstarb.
Die Gegner der feudalen Privilegien sahen in der Avitizität eine Beschränkung der Modernisierung, des Fortschritts, weil sie den Hypothekarkredit verunmöglichte und den Verkauf von Grund und Boden erschwerte. Aufhalten konnte die Avitizität allerdings die gesellschaftlichen Umwälzungen nicht: Nach dem Inkrafttreten des Wechselgesetzes, aber in geringerem Umfang auch schon vorher, verhinderte sie eben die Verpfändung des Besitzes nicht, brachte den nominellen Besitzer um die Erträge seines Landes und damit um seine Einkommensquelle. Der feudale Grundbesitz bestand zwar in Gesetzesform bis zur Revolution, war aber nur mehr die leere Hülle dessen, was er einst bedeutet hatte.

 

2. Der Schuldbrief.

Es gab in Ungarn 3 Arten von Schuldbriefen: Die Alba oder Charta Biancha, auf der nur Summe und Zinsfuß, manchmal nicht einmal das, weiters das Datum und Ort der Ausstellung angeführt waren, sowie die Unterschrift des Schuldners. Oft kam es vor, daß der Kreditbedürftige einem Agenten nur mit seinem Namen versehene Albas übergab mit dem Auftrag, ihm dafür einen Kreditgeber zu suchen. Bei den Albas konnte der Schuldner – zum Unterschied von der Obligation – von der „exceptio non numeratae pecuniae“ (= Behauptung, er habe das Geld nicht aufgenommen bzw. nicht erhalten) Gebrauch machen. Der Gläubiger hingegen setzte die Bedingungen ein, zu denen er den Kredit vergab, sein Name mußte nicht draufstehen. Ungeachtet ihres Namens enthält die Charta Biancha meist mehr Informationen und Bestimmungen als die Obligation, z.B. die Mitgift der Frau des Schuldners, um sie im Falle der Pfändung zu schützen, die Art der Rückzahlung – in Arbeitsleistung, Pfand, Bargeld, – in zweiterem Falle das Pfand selbst, Bestimmungen, wie das Pfand zu behandeln sei, um Wertverlust zu vermeiden, usw …

Die zweite Form des Schuldbriefes, die Obligation, enthält hingegen die gesetzlichen Bestimmungen, zu denen der Kredit vergeben wurde. Diese Form des Schuldbriefes hat beinahe die Qualität eines Formulars, ihr Inhalt ist strenger formalisiert.
Im Vormärz nimmt die Obligation gegenüber der Charta Biancha überhand.
Mit beiden Formen des Schuldbriefes wurde reger Handel getrieben, sie wurden als Wechsel, als Pfand usw. verwendet – erstklassige Schuldner wurden zum oder über dem Nennwert, zweifelhafte zu einem Bruchteil desselben gehandelt. Die Alba war leichter zu diesem Zweck verwendbar, weil sie auf keinen Gläubiger ausgestellt war, um die Obligation in Umlauf zu bringen, bedurfte eines zusätzlichen „Cessionsbriefes“. Die Obligationen, deren Form wegen der Standardisierung der eines Formulars ähnelte, konnten zu den Bedingungen des niederösterreichischen Wechselrechtes eingeklagt werden, mit ihnen unterwarf sich der Schuldner automatisch der niederösterreichischen Gerichtsbarkeit. Die Obligation enthielt häufig auch Bestimmungen darüber – vor allem zur Zeit der Inflation – in welcher Form die Schuld zurückzuzahlen war, in Metall- oder Papiergeld.
Wieviel eine solche Bestimmung im Streitfall wert war, zeigt eine Entscheidung der Septemviraltafel (der obersten Berufungsinstanz in solchen Fragen) aus den 30-er Jahren, die auf dem Reichstag von 1839/40 vom Abgeordneten des Komitats Zala zur Sprache gebracht wurde: Obwohl in einem Schuldbrief aus dem Jahr 1790 klar festgelegt worden war, daß die Rückzahlung in Gold- oder Silbermünzen, nicht aber in Kupfer- oder Papiergeld zu erfolgen habe, und obwohl sämtliche Gerichte einschließlich der königlichen Tafel die Rückzahlung in Silbermünzen verfügt hatte, hob die Septemviraltafel diesen Beschluß auf mit der Begründung, daß die Art der Münze, also der Münzfuß, in dem die Begleichung der Schuld stattzufinden habe, nicht bestimmt worden sei.(3)
Die Obligationen wurden häufiger intabuliert als die Albas.
Beide Arten des Schuldbriefes enthielten den vereinbarten Zinsfuß, meist zwischen 5 und 6% jährlich. Strittig war die Frage der Zinseszinsen, die manchmal für den Fall der Nichtbezahlung der Zinsen vereinbart wurde. Diese Praxis wurde jedoch wiederholtermaßen verboten. Mit der wachsenden Geldnot und dem Überhandnehmen des Wuchers verbreitete sich die Praxis, in den Schuldbrief höhere Summen einzuschreiben als die tatsächlich verborgten, sowie einen Geldkredit als Warenkredit zu deklarieren, indem die Summe als nicht bezahlter Warenposten in einem fiktiven Verkauf bezeichnet wird. Dies war deswegen vorteilhaft, weil die damalige Rechtspraxis, um den adeligen Grundbesitz zu schützen, die Begleichnung der Schuld in Form von Land (siehe weiter unten) nur dann anerkannte, wenn es um einen geschäftlichen Kredit ging.
Damit tritt die dritte Form des Schuldbriefes, der sogenannte Auszugalien-Wechsel, auf. Er war eine typische Erscheinung des Vormärz’, und eigentlich eine geduldete betrügerische Form des Schuldbriefes. In ihm wird der Geldverleih als Kauf getarnt, bei dem der Käufer die angeblich erstandene Ware erst zu einem späteren Zeitpunkt zu bezahlen hat. Die auf dieser Art von Schuldbrief verzeichnete Summe hatte meist mit der tatsächlich erhaltenen wenig zu tun. Der Gläubiger hatte seine (vor Gericht als Beweis anerkannten) Auszüge (daher die Bezeichnung des Schuldbriefes) aus dem Verkaufsbuch als Beweis, eine Klage des Schuldners hatte meist keinen Erfolg. Mit den Auszugalien-Wechseln wurde also Wucher betrieben und ihre Form diente dazu, den Wucher gegen etwaige gerichtliche Verfolgung zu schützen.

3. Die Intabulation

von Schuldbriefen wurde auf dem Reichstag von 1723 mit dem Artikel 107 in Gesetzesrang erhoben, war aber bereits vorher in der Praxis verbreitet. Sie erfolgte auf Wunsch des Gläubigers, in einzelnen Fällen auch auf Ansuchen des Schuldners. Der Gläubiger und der Schuldner konnten sich bereits bei der Kreditaufnahme bzw. -vergabe darauf einigen, welches Grundstück oder Gebäude im Falle der Nicht-Zahlung an den Gläubiger zu fallen habe. Diese Vereinbarung wurde dann vor einer Komitatsbehörde schriftlich niedergelegt, in den Intabulationsbüchern. Auf einer der Komitatsversammlungen (Generalversammlung, Kleine Kongregation, Sedria, büntetőszéki), wurde der Schuldbrief verlesen, dem Schuldner stand die Möglichkeit der protestacio offen, von der selten Gebrauch gemacht wurde. Der Schuldbrief wurde mit einem Vermerk über die erfolgte Intabulation versehen, danach zurückgegeben. Die Intabulation wurde im Sitzungsprotokoll vermerkt. Der Schuldner konnte nach Begleichnung der Schuld mit dem an ihn zurückgegebenen Schuldbrief die Extabulation verlangen.
Die Intabulation schützte zwar nicht vor der Avitizität und deren Risiken. Sie hatte aber andere Vorteile. So wurden im Falle eines Konkursprozesses die intabulierten Gläubiger den anderen vorgezogen, sie hatten sogar Vorrang vor den sogenannten „privilegierten Forderungen“ – onera natura sua privilegata, wie Arzt- und Begräbniskosten, Mitgift, Steuern und Forderungen des Ehepartners.
Das Intabulieren kostete etwas und wurde deswegen oft unterlassen. Wenn aber ein Schuldner in den Ruf geriet, er stünde vor dem Konkurs, so ließen viele Gläubiger ihre Forderungen nachträglich intabulieren. Auch wenn der Schuldner starb, hielt es der Gläubiger oft für geraten, seine Forderungen in dieser Form abzusichern.

Der Artikel XXIII/1840 regelte die Intabulation neu, gewährte aber eine dreijährige Frist bis zum endgültigen Inkrafttreten der neuen Bestimmungen:

– Der gesamte Text des Schuldbriefes mußte intabuliert werden.

– Während vor 1840 die Schuld auch auf Mobilien intabuliert werden durfte, so gilt dies ab 1840 ausschließlich für Immobilien. Die Intabulation durfte nur auf Güter erfolgen, die sich in demjenigen Komitat befanden, in dem die Intabulation vorgenommen wurde. Dies diente zur Beschleunigung des etwaigen Schuldprozesses, stieß aber wegen der nicht existierenden Grundbücher auf Schwierigkeiten. Daher wurde der Schuldner verpflichtet, eine Aufstellung seiner Güter aufzunehmen, diese wurde mit dem Forderungen zusammen intabuliert. Dies stellte gleichzeitig einen Versuch dar, das Führen bzw. Anlegen von Grundbüchern zu verordnen.

– Nur in Geld aufgenommene Schuld durfte intabuliert werden, zum Unterschied von der früheren Praxis des Warenkredites. Damit sollte diversen Mißbräuchen, von denen zahlreiche Schuldprozesse Zeugnis ablegen, ein Riegel vorgeschoben werden.

– Die Intabulationsbücher mußten öffentlich zugänglich sein und von jedermann eingesehen werden können.

 

4. Der Schuldprozeß

Wollte ein Gläubiger seine Forderungen eintreiben, so stand ihm das Mittel des Prozesses liquidi debiti oder öffentlichen Schuldprozesses (in älterer Bezeichnung Fundamentalprozesses) zur Verfügung. Der Verlauf dieses Prozesses war allerdings so geregelt, daß er dem Schuldner alle Möglichkeiten eröffnete, seine Schuld nicht begleichen zu müssen.
Die Verurteilung des Schuldners war – vom rechtlichen Standpunkt – relativ einfach: Wenn es ihm nicht gelang, zu beweisen, daß er die in Frage stehende Summe nicht geborgt hatte (= exeptio non numeratae pecuniae), wenn er zum Zeitpunkt der Aufnahme der Schuld volljährig war – so wurde zur Zahlung der Schuld, der bis Prozeßende anfallenden Zinsen (zum damals gesetzlichen Zinsfuß von 6%) und der Prozeßkosten verurteilt. Damit stand die Exekution des Urteils an. Die Kosten für die Prozeßführung hatte vorläufig der Gläubiger zu tragen. Das ganze Verfahren – der sogenannte „gyökérper“ („Wurzel“-prozeß) – dauerte im allgemeinen 2 bis 5 Jahre, aber auch 7 oder 10 Jahre waren nichts Ungewöhnliches.
Der Exekutionsbeschluß mußte dem Beklagten persönlich zugestellt werden. Die erste Möglichkeit, die Exekution zu verzögern, bestand also darin, die Zustellung zu verhindern. Falls der Schuldner mehrere Wohnsitze hatte oder rechtzeitig gewarnt wurde, konnte er die Zustellung lange Zeit hinausschieben.
War der Schuldner ordnungsgemäß benachrichtigt und konnte die verlangte Summe nicht bezahlen, so mußte er ein Objekt nennen, dessen Wert geeignet war, die Forderungen des Gläubigers zu befriedigen (jus denominando). Dabei galt, daß Mobilien – also vom Standpunkt des Gläubigers weitaus geeignetere Objekte – erst dann in Betracht kamen, wenn die Immobilien zu geringen Wert hatten, um damit die geforderte Summe zu begleichen.
Wenn der Schuldner dem nicht nachkam oder ein ungeeignetes Objekt auswählte, so fiel das Recht der Wahl an den Kläger. Dieser konnte dann aus dem Besitz des Beklagten ein Grundstück oder ein Gebäude aussuchen, dessen Schätzwert der geforderten Gesamtsumme entsprechen mußte. Dieses Grundstück wurde dem Gläubiger zugesprochen. Gegen diesen Beschluß konnte der Schuldner vom Recht der oppositio Gebrauch machen: Er konnte Einspruch erheben – mündlich, an Ort und Stelle, und bei gleichzeitigem Ergreifen eines Stockes!(4) –, was eine Wiederaufnahme des Verfahrens bedingte und natürlich die Prozeßkosten weiter erhöhte.
Außerdem konnte der Schuldner ein moratorium, eine Verlängerung der Zahlungsfrist beantragen, was ein Ruhen des Prozesses zur Folge hatte.

Ein weiteres Moment des Schuldprozesses war das sequestrum oder die Streitverwahrung. Dieses sequestrum konnte einerseits vom Gläubiger für die Zeit des Prozesses beantragt werden, um den Schulder an der Veräußerung von Gegenständen zu hindern, die zur Begleichung der Schuld dienen könnten. Es gab jedoch auch für den Schuldner die Möglichkeit, selbst das sequestrum zu beantragen. Diese „freiwillige“ Streitverwahrung oder sequestrum benevolum war eine gefürchtete und wirkungsvolle Waffe in der Hand des säumigen Schuldners. War sie einmal verhängt, so wurde für das Vermögen ein Masseverwalter (den bei der freiwilligen Streitverwahrung der Schuldner ernennen durfte!) ernannt und die Gläubiger konnten nur mehr aus den etwaig anfallenden Einnahmen aus dem Vermögen befriedigt werden. Der auf dem Schuldbrief formulierte Verzicht auf dieses sequestrum benevolum hatte wenig Rechtskraft, wenn der Schuldner sich seiner im Laufe des Schuldprozesses bedienen wollte.
Eine weitere Möglichkeit der Verzögerung des Prozesses war die Inanspruchnahme der sogenannten mandata oder Befehle von oben, Weisungen des Statthaltereirates oder der Septemviraltafel, die im laufenden Prozeß an die Gerichte ergingen, wenn der Schuldner ein entsprechendes Ansuchen gestellt hatte. Angeblich gab es kaum einen Schuldprozeß in den 20-er und 30-er Jahren, in dem nicht ein solches mandatum vorgekommen wäre.
War das Grundstück tatsächlich übergeben, so ging es deswegen nicht in das Eigentum des Gläubigers über, sondern wurde ihm als richterliches Pfand übergeben, welches jederzeit vom Beklagten oder dessen Erben gegen Begleichung der Schuld zurückverlangt werden konnte. Falls der Beklagte auch bei anderen Gläubigern verschuldet war und nicht über genug Besitz verfügte, um alle zu befriedigen, so konnte ein leer ausgegangener Gläubiger das richterliche Pfand eines anderen beklagen mit dem Argument, es sei unter seinem Wert geschätzt worden und könnte höher, also auch mit den Forderungen beider Gläubiger, belastet werden. In diesem Falle war der erste, im Besitz des Grundes befindliche Gläubiger verpflichtet, den zweiten, zu kurz gekommenen auszuzahlen, oder aber nach Erwirtschaftung der Schuldsumme den Grund dem zweiten Gläubiger zur Verwendung zu überlassen.
War der Gläubiger ein Jude, der keinen Grund besitzen durfte, so wurde – im für den Gläubiger vorteilhaftesten Fall – verfügt, daß der Grund oder das Gut einem Christen zu verpachten und der Gläubiger aus den Einnahmen zu befriedigen sei. Eine Verfügung des Statthaltereirates aus dem Jahr 1818 verbietet eindeutig, Adelsland in jüdische Hand zu geben und ergänzte diese Verfügung 1819 durch die obige Bestimmung.
Der Konkursprozeß, bis zu diesem Zeitpunkt nur eine Unterabteilung des Schuldprozesses, war mit noch mehr Formalitäten belastet und dauerte daher im allgemeinen um einiges länger als der gewöhnliche „öffentliche Schuldprozeß“. Der Konkurs mußte von der ungarischen Hofkanzlei erklärt und damit formell eröffnet werden. Daraufhin wurden landesweit mittels behördlicher Verlautbarung die Gläubiger zum Erheben ihrer Forderungen aufgerufen, und zwar bei bestimmten, genau festgelegten Gerichten. Bereits laufende Gerichtsverfahren wurden für nichtig erklärt, wenn sie bei einem nicht zuständigen Gericht eingereicht worden waren, und mußten neu begonnen werden.

Selbst wenn der Gläubiger trotz all der geschilderten Umstände den Grund übergeben bekam und bis auf weiteres nach Gutdünken damit schalten und walten konnte, so war der Nutzen, den er daraus ziehen konnte, sehr begrenzt. Der Grund fiel als Adelsbesitz unter die Bestimmung der Avitizität und war damit praktisch unveräußerlich. Wer wollte einen Grund kaufen, der ihm jederzeit – und mit guter Aussicht auf Erfolg des Klägers – wieder streitig gemacht werden konnte? Wollte er den Grund im bisherigen Sinne landwirtschaftlich nutzen, so mußte er erst den Ertrag verkaufen, um endlich zu Geld zu kommen – dem also, wofür er den ganzen Prozeß angestrengt hatte. Und auch das war noch keineswegs gesichert: Da der Schuldner das Recht der Wahl des Grundstückes hatte, so konnte dem Gläubiger ein Grundstück zufallen, mit dem er wenig anfangen konnte.

Die ganze Form der Begleichung der Schuld in der Form von Grund und Boden war auf eine Art von Gläubiger berechnet, der der gleichen Klasse angehörte wie der Schuldner – dem Adelsstand – ein Umstand, der für das Kreditwesen des 18. Jahrhunderts tatsächlich kennzeichnend war, sich aber mit der Kapitalisierung der Landwirtschaft und dem Auftreten neuer Kreditbedürfnisse und Gläubiger zur einem fühlbaren Hindernis des Kreditwesens entwickelte.

Um die beinahe uneingeschränkten Rechtsmittel des Schuldners gegenüber dem Gläubiger etwas abzuschwächen, wurde die Möglichkeit der Intabulation eingeführt. Die Intabulation hatte nicht die Rechtskraft einer Hypothek, da die Grundbücher fehlten, die Komitatsbehörden nicht verpflichtet waren, die Angaben des Schuldners oder Gläubigers zu überprüfen, und die Avitizität im Streitfall auf jeden Fall mehr Gewicht besaß. Auch andere im Schuldbrief festgelegte Momente konnten im Streitfall von den Gerichten anerkannt werden – oder auch nicht. Das waren der Verzicht auf Rechtsmittel und die Wahl des Gerichtes, vor dem der etwaig anfallende Schuldprozeß verhandelt werden sollte. Auf dem Reichstag von 1792 wurde deshalb der Artikel XVII/1793 erlassen, demzufolge sich die Vertragspartner der niederösterreichischen Gerichtsbarkeit unterwerfen konnten. (Unter das Adelsrecht ebenso wie unter das Handels- und Wechselrecht.) Dieses Gesetz verpflichtete gleichzeitig die Komitatsbehörden dazu, das von dem im Schuldbrief genannten Gericht gefällte Urteil zu vollstrecken. Dieses Gesetz stellte einen Versuch dar, auch außerhalb Ungarns Kreditquellen zu erschließen. Die Komitatsbehörden jedoch, vor allem von Pest, waren durchaus nicht immer bereit, sich dem zu unterwerfen.

 

5. Reformen und Reformversuche durch den ungarischen Reichstag.
Die das Kreditwesen betreffenden Gesetze des Vormärz.

Der Reichstag von 1832-36 griff an folgenden Punkten in die Schuldprozeßordnung ein:

– Er veränderte mit dem Artikel XV/1836 das Vollstreckungsverfahren dahingehend, daß nicht Übergabe des Besitzes zum Schätzpreis erfolgt, sondern Versteigerung und Begleichung der Schuld in Bargeld. Die adligen, weiterhin durch die Avitizität geschützten Besitzungen sollten dem Meistbietenden als richterliches Pfand mit dem Recht der jederzeitigen Rückeinlösung überlassen werden.
Dieser Artikel brachte keinen nennenswerten Fortschritt in der Frage des adeligen Grundbesitzes. Der Vorschlag, daß der solchermaßen in Pfand genommene Grund wenigstens drei Jahre nicht rückforderbar sein solle, wurde ebensowenig angenommen wie der Vorschlag Ferenc Deáks, umgekehrt nur 3 Jahre für die sofortige Rückeinlösung zuzulassen, wonach der Besitzer 32 Jahre des Rechts auf Rückforderung verlustig gehen sollte. Deák forderte also die Befristung des richterlichen Pfandes auf 3 Jahre, danach sollte der Grund als auf gewöhnliche Weise verpfändetes Grundstück angesehen werden.

– Der Artikel XVIII/1836 bemühte sich um eine Beschleunigung des Schuldprozesses, indem er auch Adlige vor das Marktgericht zitierte.

– Der Artikel XX/1836 gebot ein mündliches Summarverfahren, um Eingaben und deren Behandlung, die das Verfahren verzögerten, möglichst auf ein Minimum zu beschränken. Er schloß auch die Möglichkeit der oppositio aus.
Die Bedeutung dieses Artikels wurde dadurch eingeschränkt, daß er sich verpflichtend nur auf Schuldforderungen bis zu einer Höhe von 60 Gulden bezog. Er wurde jedoch in der Folge in viele Schuldbriefe aufgenommen, wo sich die Schuldner auch bei höheren Summen freiwillig dem mündlichen Summarverfahren unterwarfen. Dieser Rechtsmittelverzicht wurde auch von den Gerichten anerkannt und fand seinen Niederschlag in der Gerichtspraxis.

Der Reichstag von 1839/40 dehnte die Höchstsumme für das mündliche Summarverfahren auf 200 fl. aus.

– Er beschloß mit dem Artikel XV/1839 erstmals ein Wechselrecht. Darin wurde gleichzeitig die Bestellung eigener Wechselgerichte beschlossen. Die Exekution des von einem Wechselgericht im Schnellverfahren gefällten Urteils hatte binnen 4 Tagen zu erfolgen. Bei der Vollstreckung konnte der Beklagte vom Recht der oppositio keinen Gebrauch machen.

– Der Artikel XVIII/1840 regelte die Gründung von Aktiengesellschaften und verwies sie in den Zuständigkeitsbereich des Wechselgerichtes. Dem waren die Statuten vorzulegen und der Zweck der Gesellschaft, die angestrebte Höhe des Grundkapitals sowie die Anzahl der Aktien und die Zeichnungsfrist bekanntzugeben. Für den Fall, daß es sich um keine reine Handelsgesellschaft handelte bzw. die zu gründende AG eine Unternehmung gemäß Artikel XXV/1836 (Unternehmungen zur Hebung des öffentlichen Wohls und des Handels, d.h., infrastrukturelle Unternehmen) fiel, hatte sie die oben erwähnten Dokumente nicht dem Wechselgericht, sondern dem Statthaltereirat vorzulegen.
Über die Organisation der Aktiengesellschaft ist in diesem Gesetzesartikel nichts vorgeschrieben, nur die formellen Schritte der Registrierung sind darin festgehalten. Über den Inhalt der Statuten wird in diesem Artikel lediglich verfügt, daß sie nicht im Widerspruch zu den bestehenden Gesetzen stehen durften.

– Im Artikel XXVII/1840 wurde das benevolum sequestrum aufgehoben und die Möglichkeit des moratoriums dahingehend eingeschränkt, daß sämtliche Gläubiger dessen Verhängung zuzustimmen hatten.

– Mit dem Artikel XXII/1840 wurde erstmals ein eigenes Konkursgesetz beschlossen, das das Konkursverfahren beschleunigte.

Der Reichstag von 1843/44 hatte für das Kreditwesen wenig Bedeutung.

– Mit dem Artikel IV/1844 wurde beschlossen, daß fortan auch Nicht-Adelige adeligen Grund besitzen durften.
Die Ausdehnung dieser Bestimmung auf die Juden scheiterte am Einspruch der Magnatentafel. Der Versuch, ein Gesetz über die Errichtung einer Hypothekenbank zu beschließen, wurde von der Ständetafel vereitelt.

 

(1) Dieses Abschnitt stützt sich hauptsächlich auf die Ausführungen Béla Iványi-Grünwalds in: Széchenyi magánhitelügyi koncepciójának szellemi és gazdasági előzményei és következményei a rendi Magyarországon. (Die geistigen und wirtschaftlichen Voraussetzungen und Folgen von Széchenyis Privatkredit-Konzeption im ständischen Ungarn.)

(2) O.L., Jntl, N 22, 95. csomó, (Praesidialia), LXXXIII/1842

(3) Országgyűlési Napló IV.h.58.l., zitiert nach: Iványi-Grünwald 1, S. 56

(4) Der Stock mußte gehobelt sein und eine gewisse Größe haben, sonst wurde die Opposition nicht anerkannt. Wer mit einer Rute auf den Tisch haute, wie eine gewisse Frau Zsuzsanna Hólyag 1828 in Kecskemét, hatte das Recht auf Opposition verwirkt, obwohl die Dame in einer Beschwerde richtig feststellte, daß das Gesetz selbst keine zwingenden Bestimmungen über die Größe des Stockes enthalte. Bei der Abweisung der Beschwerde wurden jedoch die obigen Merkmale einer gültigen Opposition benannt  ... (Iványi-Grünwald 1, S31)

Peter Lang Verlag 1995

 

weiter zu: Teil III: Die wirtschaftliche Entwicklung bis 1848

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