Protokoll 39
22. 9. 2013

 

23. KAPITEL: Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation

 

1. Wachsende Nachfrage nach Arbeitskraft mit der Akkumulation, bei gleichbleibender Zusammensetzung des Kapitals

„Wir behandeln in diesem Kapitel den Einfluß, den das Wachstum des Kapitals auf das Geschick der Arbeiterklasse ausübt. Der wichtigste Faktor bei dieser Untersuchung ist die Zusammensetzung des Kapitals und die Veränderungen, die sie im Verlauf des Akkumulationsprozesses durchmacht.“ (S. 640, Absatz 1)

Es geht also darum, was die Akkumulation des Kapitals – heute „Wachstum“  genannt – für die Attraktion und Repulsion der arbeitenden Bevölkerung bedeutet. Wann werden Leute eingestellt, wann entlassen, und in welchem Maße schaffen sie den Mehrwert, der ihnen dann in Form von Produktionsmitteln als Lebensbedingung und feindliche Größe gegenübertritt.
Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, daß Marx in diesem Kapitel diesen Punkt zum Thema machen wollte. Es ging ihm nicht darum, Prophezeiungen zu machen für die Entwicklung der Produktivkräfte oder etwaige Zusammenbrüche und Krisen.

Im Folgenden führt er zwei neue Kategorien ein: die technische und organische Zusammensetzung des Kapitals. Sie verhalten sich wie Gebrauchs- und Tauschwert. Die technische Zusammensetzung bezieht sich auf die Notwendigkeiten der Produktion: Wieviele Arbeiter sind für die Bedienung einer Maschine, eines Produktionsprozesses nötig, mit welcher Ausbildung, wieviel Zeit ist für einen Produktionsgang nötig, usw. Diese Planung von Produktion ist in allen Produktionsweisen notwendig, auch in der feudalen Landwirtschaft oder in einer kommunistischen Planwirtschaft. Im Kapitalismus wird sie zu einer Funktion des Kapitals, und daraus entsteht die irrige Auffassung, nur das Kapital sei imstande, Produktion zu planen.
Die Wertzusammensetzung oder organische Zusammensetzung des Kapitals faßt diese Zusammensetzung als lebendige und vergegenständlichte Arbeit, als konstantes und variables Kapital auf, und innerhalb von ersterem als fixes und zirkulierendes Kapital. Die einzelnen Elemente des Produktionsprozesses werden somit zu Wert- bzw. Geldmengen, und als solche zu Posten in der Kalkulation der Kapitalisten. Sie sind dadurch in ein quantitatives Verhältnis gesetzt, rein vom Standpunkt des abstrakten Werts, des Geldes: Wieviel muß der Kapitalist in c und v investieren, um möglichst viel Mehrwert herauszuholen? Die Erfordernisse der Produktion werden somit zu Elementen der Mehrwertproduktion.

„Die zahlreichen in einem bestimmten Produktionszweig angelegten Einzelkapitale haben unter sich mehr oder weniger verschiedne Zusammensetzung. Der Durchschnitt ihrer Einzelzusammensetzungen ergibt uns die Zusammensetzung des Gesamtkapitals dieses Produktionszweigs. Endlich ergibt uns der Gesamtdurchschnitt der Durchschnittszusammensetzungen sämtlicher Produktionszweige die Zusammensetzung des gesellschaftlichen Kapitals eines Landes, und von dieser allein in letzter Instanz ist im folgenden die Rede.“ (S. 640/641)

Marx will also einen gesamtgesellschaftlichen Überblick darüber geben, wie sich das Verhältnis von konstantem zu variablem Kapital verhält, zunächst innerhalb einer Nation. Das ist ein sehr ehrgeiziges Projekt: es geht um nicht weniger, als die verschiedenen organischen Zusammensetzungen der Einzelkapitale in ein Verhältnis zu setzen, aus deren Zusammensetzungen diejenige einzelner Produktionszweige und daraus den gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt zu ermitteln, um festzustellen, wieviele Arbeiter durchschnittlich wieviel Mehrwert erzeugen.

Was ist gemeint mit:

„d.h. eine bestimmte Masse Produktionsmittel oder konstantes Kapital stets dieselbe Masse Arbeitskraft erheischt, um in Bewegung gesetzt zu werden, so wächst offenbar die Nachfrage nach Arbeit und der Subsistenzfonds der Arbeiter verhältnismäßig mit dem Kapital und um so rascher, je rascher das Kapital wächst.“ (S. 641, Absatz 2)

Unter der Bedingung der gleichbleibenden Zusammensetzung von c und v wächst die Nachfrage nach Arbeitskraft, wenn das Kapital akkumuliert, in gleichem Maße, wie Mehrwert in die Produktion reinvestiert wird.
Das heißt natürlich, daß das Kapital auch eine entsprechende Anzahl von zusätzlichen Arbeitern vorfinden muß, um diese Erweiterung der Produktion durchführen zu können.
Damit ergibt sich eine Notwendigkeit der Akkumulation: es müssen stets genug, womöglich auch ausreichend qualifizierte Arbeitskräfte da sein, um für Produktion auf erweiterter Stufenleiter zur Verfügung zu stehen. Das alles, wohlbemerkt, unter der Bedingung der gleichbleibenden organischen Zusammensetzung des Kapitals. Ein hinreichendes Reservoir von Arbeitskräften ist also eine Forderung der kapitalistischen Akkumulation. Das heißt jedoch nicht, daß dieselben auch wirklich eingesetzt werden.
Gibt es zuwenig Arbeitskräfte für die Bedürfnisse des Kapitals, so haben die Arbeiter auf einmal eine bessere Stellung bei ihren Lohnforderungen und das beeinflußt das Verhältnis von Kapital und Arbeit und die Mehrwertrate zugunsten der Arbeiter. Deswegen ist hier der Staat aufgerufen, für Nachschub zu sorgen, in der Zur-Verfügung-Stellung von Arbeitern. So kam es zu der Anwerbung von „Gastarbeitern“.

„Wie die einfache Reproduktion fortwährend das Kapitalverhältnis selbst reproduziert, Kapitalisten auf der einen Seite, Lohnarbeiter auf der andren, so reproduziert die Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter oder die Akkumulation das Kapitalverhältnis auf erweiterter Stufenleiter, mehr Kapitalisten oder größere Kapitalisten auf diesem Pol, mehr Lohnarbeiter auf jenem.“ (S. 641, Absatz 2)

Hier wird eine Tendenz vorgestellt, die sich aus der Akkumulation des Kapitals ergibt: Immer mehr Teile der Bevölkerung eines Landes werden entweder Kapitalisten oder Lohnarbeiter. Ein Teil des Bedarfs des Kapitals kann also aus gescheiterten Bauern oder Kleingewerbetreibenden rekrutiert werden, während andere es schaffen, sich auf die andere Seite zu schlagen und zu Unternehmern und Agrarkapitalisten zu werden.
Man muß nur richtig verstehen, was „Tendenz“ hier heißt: Diese Entwicklung ergibt sich aus der Akkumulation  des Kapitals. Es gibt aber auch andere Tendenzen, die dem entgegenwirken, und später abgehandelt werden.

Das Zitat de Mandevilles ((S. 642/643) sagt Falsches und Richtiges: Arme Leute braucht die kapitalistische Akkumulation, aber sie müssen hinreichend bezahlt werden, um ihren Dienst am Kapital zu leisten. Aber es verbreitet die falsche Vorstellung: gäbe es genug arbeitsame Arme, so würden die auch eingesetzt für die Kapitalakkumulation. (Damals, als dieser Typ das schrieb, gab es vermutlich wirklich Arbeitskräftemangel, keine Maschinen, und das Problem der Überakkumulation war unbekannt.)

Was das Zitat von Eden (S. 643/44) und die folgenden Ausführungen auf S. 645-647 aussagen, ist, daß es sowohl dem Kapitalisten wie dem Arbeiter angenehmer ist, wenn der Lohn die Lebensbedürfnisse des Arbeiters abdeckt. Das setzt allerdings eine gute Mehrwertrate und einen hinreichenden Umsatz, also auch große Mehrwertmasse voraus. Es muß also eine gewisse Produktivität der Arbeit gegeben sein, damit sich auch ein ordentliches Lohnniveau einpendeln kann. Das ist für den Unternehmer angenehm, weil dann lauft alles wie geschmiert und er muß sich um die Loyalität seiner Arbeiter keine Sorgen machen. Es ist also nicht so, daß die Unternehmer immer nur Lohndrückerei betreiben wollen.
Man sieht hier auch, wie Marx nicht das schreibt, was ihm Verelendungstheorie-Anhänger immer unterstellen: Die Reichen würden immer reicher, die Armen immer ärmer, bis es dann endgültig kracht und das System kippt. Es ist, als ob Marx hier die ganze Revisionismusdebatte vorhergesehen hätte und gegen sie aufgetreten wäre. Das Abhängigkeitsverhältnis ist nicht aufgehoben, und wie man sieht: sobald Umstände eintreten, die die Gewinne der Unternehmer sinken lassen – durch Rückgang des Umsatzes – so wird genau dieses Abhängigkeitsverhältnis von den Kalkulationen derer, die das „Kommando über die Arbeit“ innehaben, wieder schlagend: Hungerlöhne und Arbeitslosigkeit.

Marx streift auch die offenbar zu seiner Zeit recht populären Bevölkerungstheorien und seinen Lieblingsfeind Malthus. (Die Fußnote 75 auf Seite 644 ist lesenswert, sie enthält sehr viel Böses über protestantische Geistliche). Malthus meinte, die arbeitende Menschheit sei deshalb arm, weil sie zu viele Kinder hätte. Die durch kaninchenhaftes Vermehren entstandene Überbevölkerung verhindere Wohlstand und führe irgendwann zum ernährungstechnischen Kollaps.(1)
Dagegen weist Marx darauf hin, daß „Überbevölkerung“ immer ein Zuviel für die Akkumulationsbedürfnisse des Kapitals ist, nicht ein Zuviel in Bezug auf Ressourcen, die knapp sind. Leute, die kein Geld haben, um Waren zu kaufen, und potentielle Arbeitskräfte, die das Kapital nicht einsetzt, sind einfach überflüssig – heutzutage ein großer und wachsender Teil der Weltbevölkerung.
Das Mißverhältnis zwischen vorhandenen Armen und nachgefragten Arbeitskräften wird in der bürgerlichen Ideologie immer den Proletariern angelastet, obwohl sie gar nicht das Subjekt ihrer eigenen Überflüssigmachung sind: Entweder sie kriegen zu viele Kinder (Afrika!) oder „keiner will mehr arbeiten!!“, weswegen das solchermaßen bedrängte Kapital Gastarbeiter anwerben muß. Thilo Sarrazin hat es geschafft, in Zeiten der Krise beide Beschimpfungen zu vereinigen: Die armen Leute machen zu viele Kinder und dann leben sie noch allesamt von der Sozialhilfe, weil sie arbeiten auch nicht wollen!

Zum Verhältnis von Lohnhöhe, Mehrwertrate und Akkumulation weist Marx darauf hin, daß 1. eine höhere Mehrwertrate auch höher Löhne zuläßt, 2. auch eine niedrigere Mehrwertrate bei größerem Kapital und höheren Löhnen noch gut Gewinn abwirft, weil die Masse des Mehrwerts groß ist, aber 3. ab einem gewissen Mißverhältnis von Löhnhöhe und Mehrwertmasse die Gewinne und damit auch die Akkumulation in solchem Maße zurückgehen, daß durch geringere Beschäftigung wieder mehr Arbeiter zur Verfügung stehen, was auf den Preis der Arbeit drückt.

Zu dem von Seiten der Gewerkschaft hin und wieder strapaziertem Argument, man solle den Leuten doch höhere Löhne zahlen, damit sie mehr Waren kaufen könnten (was auch manchmal von Linken als besonders gefinkelte Strategie des Kapitals besprochen wird, Stichwort „Fordismus“), ist damit auch alles nötige gesagt: Bedroht die Höhe des Lohns die Höhe des Gewinns, so ist die ganze Warenproduktion in Frage gestellt, und damit auch die Bedingung, warum der Kapitalist überhaupt Arbeitskräfte anstellt:

„Wächst die Menge der von der Arbeiterklasse gelieferten und von der Kapitalistenklasse akkumulierten, unbezahlten Arbeit rasch genug, um nur durch einen außergewöhnlichen Zuschuß bezahlter Arbeit sich in Kapital verwandeln zu können, so steigt der Lohn, und alles andre gleichgesetzt, nimmt die unbezahlte Arbeit im Verhältnis ab. Sobald aber diese Abnahme den Punkt berührt, wo die das Kapital ernährende Mehrarbeit nicht mehr in normaler Menge angeboten wird, so tritt eine Reaktion ein: ein geringerer Teil der Revenue wird kapitalisiert, die Akkumulation erlahmt, und die steigende Lohnbewegung empfängt einen Gegenschlag. Die Erhöhung des Arbeitspreises bleibt also eingebannt in Grenzen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems nicht nur unangetastet lassen, sondern auch seine Reproduktion auf wachsender Stufenleiter sichern.“ (S. 649, Absatz 1)

Der Klassenkampf ist also nie über die Lohnhöhe zu entscheiden. Im Gegenteil, die Gewerkschaft ist gleichzeitig immer bereit, Lohnforderungen am Gedeihen des Unternehmens zu relativieren …

 

2. Relative Abnahme des variablen Kapitalteils im Fortgang der Akkumulation und der sie begleitenden Konzentration

„Bisher haben wir nur eine besondre Phase dieses Prozesses betrachtet, diejenige, in der der Kapitalzuwachs stattfindet bei gleichbleibender technischer Zusammensetzung des Kapitals. Aber der Prozeß schreitet über diese Phase hinaus.“ (S. 650, Absatz 1)

Bisher wurde also eine sozusagen lineare Entwicklung unterstellt, das Kapital akkumuliert in gleicher Proportion c und v. Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist das eher die Ausnahme der Entwicklung der Akkumulation, des Wachstums. Für die Nationalökonomie ist es – übrigens bis heute – die einzige Form der gesamtgesellschaftlichen Akkumulation. Die Wirklichkeit schaut anders aus:

„Die allgemeinen Grundlagen des kapitalistischen Systems einmal gegeben, tritt im Verlauf der Akkumulation jedesmal ein Punkt ein, wo die Entwicklung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit der mächtigste Hebel der Akkumulation wird.“ (S. 650, Absatz 2)

Das heißt, die technische und damit auch die organische Zusammensetzung des Kapitals verändern sich durch Produktivkraftsteigerungen. Das drückt sich aus in einem vermehrten Anteil von konstantem gegenüber einem verringerten Anteil von v. Mehr vergegenständlichte Arbeit – in Form von Maschinen – steht weniger lebendiger Arbeit gegenüber (2):

„Die Abnahme des variablen Kapitalteils gegenüber dem konstanten oder die veränderte Zusammensetzung des Kapitalwerts zeigt jedoch nur annähernd den Wechsel in der Zusammensetzung seiner stofflichen Bestandteile an.“ (S 651, Absatz 3)

Weniger Arbeitskraft verarbeitet und erzeugt mehr Waren. Die Menge der verarbeiteten Rohstoffe oder Halbfertigprodukte wächst jedoch viel schneller im Vergleich zur angewandten Arbeitskraft, als dies im Verhältnis von c und v oder auch nur im Verhältnis von zirkulierendem zu variablen Kapital ausgedrückt wird. Der Exploitationsgrad der Arbeit wächst also auch viel schneller, als irgendwelche Lohnerhöhungen. D.h., er muß schneller wachsen, weil sonst würden die Lohnerhöhungen gar nicht gewährt.
Eigentlich ist das nach dem bisher Gesagten logisch. Es muß nur immer wieder betont werden, weil man davon in den nationalökonomischen Ergüssen nichts hört oder liest.

(Einschub: Die Benya-Formel seinerzeit, die Gewinnbeteiligung vorsah, war mehr eine Absichtserklärung, als ein Befehl an das Kapital, und wurde von Seite der Unternehmer keineswegs als bindend angesehen, nicht einmal in der Verstaatlichten Industrie.

Bei der Veränderung der Quantitäten zwischen verarbeitetem Material und eingesetzter Arbeitskraft ist auch noch der Umstand zu beachten, daß die Waren durch gesteigerte Produktivität billiger werden, also Garn um XX Pfund Sterling kann Y Jahre später die doppelte Menge enthalten, obwohl es als konstantes Kapital gleich viel Wert darstellt.

„Der Boden der Warenproduktion kann die Produktion auf großer Stufenleiter nur in kapitalistischer Form tragen. Eine gewisse Akkumulation von Kapital in den Händen individueller Warenproduzenten bildet daher die Voraussetzung der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise. Wir mußten sie deshalb unterstellen bei dem Übergang aus dem Handwerk in den kapitalistischen Betrieb. Sie mag die ursprüngliche Akkumulation heißen … “ (S. 652, Absatz 3)

Auch das ist eine Wiederholung, soll aber offenbar noch einmal betont werden: Warenproduktion findet überall statt, wo für den Markt produziert wird, aber wirklich geschäftsmäßig und in großem Maßstab kann das erst vonstatten gehen, wenn auch die Arbeitskraft selbst zur Ware geworden ist. Nur dann wird die Konzentration der Produktionsmittel in wenigen Händen zur Grundlage der Nationalökonomie. Das ist dann so eine Art Selbstläufer, oder Sachzwang:

„Mit der Akkumulation des Kapitals entwickelt sich daher die spezifisch kapitalistische Produktionsweise und mit der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise die Akkumulation des Kapitals. Diese beiden ökonomischen Faktoren erzeugen, nach dem zusammengesetzten Verhältnis des Anstoßes, den sie sich gegenseitig erteilen, den Wechsel in der technischen Zusammensetzung des Kapitals, durch welchen der variable Bestandteil immer kleiner und kleiner wird, verglichen mit dem konstanten.“ (S. 653, Absatz 1)

Die Akkumulation führt zwar einerseits zu Konzentration des Kapitals in einer Hand, aber auch zur Entstehung neuer Kapitale, was die Konkurrenz ungeheuer belebt:

„Die Akkumulation und die sie begleitende Konzentration sind also nicht nur auf viele Punkte zersplittert, sondern das Wachstum der funktionierenden Kapitale ist durchkreuzt durch die Bildung neuer und die Spaltung alter Kapitale. Stellt sich die Akkumulation daher einerseits dar als wachsende Konzentration der Produktionsmittel und des Kommandos über Arbeit, so andrerseits als Repulsion vieler individueller Kapitale voneinander.“ (S. 654, Absatz 1)

Der Ptozeß der Zentralisation des Kapitals, den Marx auf den Seiten 654 und 655 beschreibt, stellt zwar eine Tendenz des Kapitals dar, aber keine ausschließliche. Das muß hier nicht gegen Marx, sondern gegen seine Interpreten gesagt werden, die diese Tendenz als die beherrschende betrachteten und dann immer ratlos waren, warum der Big Bang der Kernfusion nicht eintrat. Entgegenwirkende und gleichzeitig beschleunigende Faktoren sind: Kriege, das Entstehen neuer Produktionszweige und der wundersame Zauberstab des Kredits, also das Wirken des Finanzkapitals.

Die hier behandelten Entwicklungen sind teils Wiederholungen, teils Vorgriffe auf Ausführungen, die erst viel später, in den Folgebänden des Kapital, Gegenstand der Analyse sind. Gerade weil an dieser Stelle so ein Gemischtwarenladen vorliegt, sind diese Stellen sehr beliebt, wenn es darum geht, mit Berufung auf Marx entweder den „Raubtierkapitalismus“ zu geisseln oder Weltuntergangszenarios auszumalen. Dieser Abschnitt wurde auch herangezogen zur Entwicklung der Stamokap-Theorie.

Multis werden beschrieben:

„… Dies … unterscheidet die Zentralisation von der Konzentration, die nur ein andrer Ausdruck für die Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter ist. … Die Zentralisation ergänzt das Werk der Akkumulation, indem sie die industriellen Kapitalisten instand setzt, die Stufenleiter ihrer Operationen auszudehnen. Sei dies letztre Resultat nun Folge der Akkumulation oder der Zentralisation; vollziehe sich die Zentralisation auf dem gewaltsamen Weg der Annexion … oder geschehe die Verschmelzung einer Menge bereits gebildeter, resp. in der Bildung begriffner Kapitale vermittelst des glatteren Verfahrens der Bildung von Aktiengesellschaften - die ökonomische Wirkung bleibt dieselbe. Die gewachsne Ausdehnung der industriellen Etablissements bildet überall den Ausgangspunkt für eine umfassendere Organisation der Gesamtarbeit …“ (S. 655-656)

Dieser Prozeß hat auch seine Vorteile, meint Marx, vom Standpunkt des gesellschaftlichen bzw. technischen Fortschritts her:

„Die Welt wäre noch ohne Eisenbahnen, hätte sie solange warten müssen, bis die Akkumulation einige Einzelkapitale dahin gebracht hätte, dem Bau einer Eisenbahn gewachsen zu sein.“ (S. 656, Absatz 3)

Marx stellte dieses Unterkapitel erstens deshalb zusammen, um die wirkliche Bewegung des Kapitals der statischen Auffassung der nationalökonomischen Theorie gegenüberzustellen. Zweitens wollte er darlegen, daß Akkumulation des Kapitals – im Gegensatz zur Auffassung der Nationalökonomen – Überflüssigmachung von Arbeitern, also Bevölkerung überhaupt, bedeutet.
Drittens ist es als eine Lobeshymne auf den technischen Fortschritt gelungen. Ohne Kapital, ohne seine Konzentration und Zentralisation müßten wir heute noch mit der Postkutsche fahren! Das mag ja alles sein, hat aber auch zu Mißverständnissen und Ideologien geführt bezüglich Fort- und Rückschrittlichkeit, und des progressiven Charakters des Kapitals.

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(1)Aus diesen Bevölkerungstheorien, vor allem dem von Malthus angedrohten Untergang durch unkontrollierte Vermehrung entwickelte sich übrigens die Empfängnisverhütung.

(2) Der später in der marxistischen Debatte zu Ehren gelangte „tendenzielle Fall der Profitrate“ wird hier angedeutet.

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