Protokoll 37
11. 8. 2013

 

In der Einleitung stellt Marx den Aufbau des Kapitals – also aller 3 Bände – vor und was er alles noch vorhat. (Daraus sieht man übrigens, daß Engels bei der Zusammenstellung des K II und K III Richtlinien hatte, an die er sich gehalten hat. D.h., der Aufbau des Buches war von Marx bereits inhaltlich geplant, wenngleich nicht fertig ausgeführt.)

Auch die Bemerkung:

„Der Kapitalist, der den Mehrwert produziert, d.h. unbezahlte Arbeit unmittelbar aus den Arbeitern auspumpt und in Waren fixiert, ist zwar der erste Aneigner, aber keineswegs der letzte Eigentümer dieses Mehrwerts.“ (S 589, 3. Absatz)

weist darauf hin, daß Marx die Aufteilung des Mehrwerts auf andere Unternehmerfraktionen absichtlich einer eigenen Untersuchung zuführen wollte und deshalb aus dem ersten Band ausgespart hat. In diesem Abschnitt wird von allen Mitbewerbern um den Mehrwert abgesehen und so getan, als gäbe es nur produktive, also Waren produzierende Kapitalisten.

Das Wichtige ist: Auf der Mehrwertproduktion des warenproduzierenden Kapitals beruht die gesamte kapitalistische Akkumulation. Auch heute noch, wo sich die Sphäre des Finanzkapitals weitgehend von jeglicher Produktion abgekoppelt zu haben scheint, ist dennoch die Unterwerfung aller Sphären der Produktion unter den Zwang zur Profitmacherei die Grundlage auch noch der luftigsten Geschäfte der Derivatenbörsen. Damit man auf zukünftige Geschäfte spekulieren kann, muß einmal klar sein, daß kein Huhn ein müdes Ei legt, ohne daß dabei G–G’ im Spiel ist.

Warum schreibt Marx diese Einleitung zum 7. Abschnitt, erläutert den Aufbau des ganzen Buches und betont noch einmal, daß man sich erst einmal um das produktive (= warenproduzierende) Kapital kümmern muß, unter Absehung von den anderen Kapitalfraktionen?

„Andrerseits verdunkeln die Zerspaltung des Mehrwerts und die vermittelnde Bewegung der Zirkulation die einfache Grundform des Akkumulationsprozesses. Seine reine Analyse erheischt daher vorläufiges Wegsehn von allen Phänomenen, welche das innere Spiel seines Mechanismus verstecken.“ (S 590, 2. Absatz)

Marx wollte sich bei dieser Einleitung zur Untersuchung des gesamtgesellschaftlichen Akkumulationsprozesses offenbar gegen andere nationalökonomische Ansätze abgrenzen, die – eben genau aus Gründen der Bestreitung des Mehrwerts aus Aneignung unbezahlter Arbeit – sämtliche Revenuequellen zunächst gleichsetzten und damit natürlich auch nie auf ein Moment wie den Wert als Bestimmung aller Waren kamen. Damit ist schon der Boden bereitet für die trinitarische Formel und die subjektive Wertlehre(1), die von Ausbeutung nichts wissen wollen.

 

21. KAPITEL: Einfache Reproduktion

Jede Gesellschaft muß sich reproduzieren, also einen Teil ihres Gesamtproduktes wieder in die Produktion zurückschleusen, um von neuem zu produzieren. Ist die Produktion kapitalistisch, so bedeutet „Reproduktion“ diejenige des Kapitals.

Wenn eine vorgeschossene Summe von 100 £ einen Mehrwert von 20 £ abwirft, so müssen mindestens diese 100 wieder reinvestiert werden, damit Reproduktion des Kapitals stattgefunden hat. Eine andere Sache ist, was mit den 20 £ geschieht. Selbst wenn der Kapitalist sie aufißt, so ist dennoch das Kapitalverhältnis als ganzes reproduziert worden.

Irrige Auffassungen entstehen daraus, daß hier beide Seiten etwas vorschießen: Der Arbeiter liefert eine Woche (bzw. einen Monat, je nachdem, wie er bezahlt wird) lang Arbeit ab, bevor er sein Geld kriegt, bevorschußt also den Unternehmer mit seiner Arbeitleistung und dem in dieser Zeit geschaffenen Produkt. Der Kapitalist jedoch zahlt ihm seinen Lohn, noch bevor er das Produkt verkauft, dessen Wert also realisiert hat. Wenn man also nur die Geld-Transaktion anschaut, erscheint es so, daß der Kapitalist etwas vorgibt („Anweisungen“, S. 593), obwohl es in Wirklichkeit der Arbeiter ist.
Erst wenn man die gesamte Klasse und den kontinuierlichen Produktionsprozeß betrachtet, begreift man, daß der vermeintliche Lohn aus dem Wert bezahlt wird, den andere Arbeiter geschaffen haben und der bereits in klingende Münze verwandelt worden ist.

„Das variable Kapital ist also nur eine besondre historische Erscheinungsform des Fonds von Lebensmitteln oder des Arbeitsfonds, den der Arbeiter zu seiner Selbsterhaltung und Reproduktion bedarf und den er in allen Systemen der gesellschaftlichen Produktion stets selbst produzieren und reproduzieren muß.“ (S. 593, Absatz 2)

Rekapitulieren wir: was ist eigentlich der „Arbeitsfonds“? Das ist diejenige Menge an Produkten, die wieder in die Produktion eingehen muß, damit die gesellschaftliche Reproduktion gewährleistet ist. Dazu gehören Saatgut, Werkzeuge, Rohmaterialien; aber auch die Lebensmittel, die die tatsächlichen Produzenten benötigen, um weiter arbeiten zu können. Dieser letztere Teil nimmt im Kapitalismus die Gestalt des variablen Kapitals an. Am Beispiel des Fronbauern, der sich in einen Landarbeiter verwandelt, wird dieser Übergang offensichtlich.
Marx wendet sich hier offenbar gegen die damals bereits gängige Vorstellung, der Unternehmer sei ein Wohltäter, der „Arbeiter in Brot setzen“ und „Arbeitsplätze schaffen“, indem er dem Arbeiter seine Arbeitsmittel zur Verfügung stellt. Dieses ist allerdings deswegen notwendig, weil der Arbeiter durch das Privateigentum bereits von allen Produktionsmitteln getrennt ist.

„Der vorgeschoßne Kapitalwert, dividiert durch den jährlich verzehrten Mehrwert, ergibt die Jahresanzahl oder die Anzahl von Reproduktionsperioden, nach deren Ablauf das ursprünglich vorgeschoßne Kapital vom Kapitalisten aufgezehrt und daher verschwunden ist. Die Vorstellung des Kapitalisten, daß er das Produkt der fremden unbezahlten Arbeit, den Mehrwert, verzehrt und den ursprünglichen Kapitalwert erhält, kann absolut nichts an der Tatsache ändern. … Wenn jemand sein ganzes Besitztum aufzehrt dadurch, daß er Schulden aufnimmt, die dem Wert dieses Besitztums gleichkommen, so repräsentiert eben das ganze Besitztum nur die Gesamtsumme seiner Schulden. … Kein Wertatom seines alten Kapitals existiert fort.“ (S. 594/595)

Mit diesen und anderen Ausführungen will Marx offenbar darauf hinweisen, daß sich das Kapital nur erhalten hat, weil lebendige Arbeit zugesetzt wurde, und sich nur reproduzieren konnte, weil Mehrwert erzeugt wurde, an dem sich der Unternehmer schadlos halten konnte, anstatt sein Kapital aufzuzehren.
Damit soll sich anscheinend gegen die Sichtweise verwehrt werden, daß der Unternehmer „gut gewirtschaftet“ und „sein Kapital erhalten“ habe.
Was die Erwähnung der Schulden betrifft, so geht es vermutlich um den Hinweis: selbst wenn die ganze Fabrik der Bank gehört, streift den Mehrwert immer noch der Kapitalist ein.

„War es selbst bei seinem Eintritt in den Produktionsprozeß persönlich erarbeitetes Eigentum seines Anwenders, früher oder später wird es ohne äquivalent angeeigneter Wert oder Materiatur, ob in Geldform oder anders, unbezahlter fremder Arbeit.“ (S. 595, Absatz 2)

Durch das „Arbeiten-Lassen“ des Geldes ist das ursprüngliche Kapital mehr oder weniger längst verschwunden und alles, was noch da steht und hereinkommt, ist immer kapitalisierter Mehrwert, insofern, als sich Kapital nur erhalten kann durch Akkumulation, also Mehrwertproduktion und -aneignung.

Man halte sich stets vor Augen: irgendetwas muß einmal passiert sein, damit die einen die Produktionsmittel haben und die anderen nicht.

„Was aber anfangs nur Ausgangspunkt war, wird vermittelst der bloßen Kontinuität des Prozesses, der einfachen Reproduktion, stets aufs neue produziert und verewigt als eignes Resultat der kapitalistischen Produktion.“ (S. 595, Absatz 4)

Der Arbeiter reproduziert also – auch unter den Bedingungen der einfachen Reproduktion, wo der Mehrwert abgeschöpft und nicht re-investiert wird – stets seine eigene Armut, also Mittellosigkeit, ebenso wie den abstrakten Reichtum, der ihm stets wieder als Bedingung seiner Existenz gegenübertritt. Der kapitalistische Produktionsprozeß reproduziert also ständig die Klassengesellschaft.
Objektiv–subjektiv (S 596, Absatz 1): „objektiv“ heißt hier: gegenständlich, vom Produzenten getrennt; während „subjektiv“ heißt: im Lohnarbeiter vorhanden, an das Subjekt gebunden, von ihm nicht zu trennen.

„Die produktive und die individuelle Konsumtion des Arbeiters sind also total verschieden. In der ersten handelt er als bewegende Kraft des Kapitals und gehört dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet Lebensfunktionen außerhalb des Produktionsprozesses. Das Resultat der einen ist das Leben des Kapitalisten, das der andern ist das Leben des Arbeiters selbst.“ (S. 596/597)

Wenn man die Abhängigkeit des Lohnarbeiters von seinem Anwender in Betracht zieht, so ist die individuelle Konsumtion letztlich auch eine Funktion des Kapitals, weil sie die Arbeitskraft reproduziert:

„Bei Betrachtung des »Arbeitstags« usw. zeigte sich gelegentlich, daß der Arbeiter oft gezwungen ist, seine individuelle Konsumtion zu einem bloßen Inzident des Produktionsprozesses zu machen. In diesem Fall setzt er sich Lebensmittel zu, um seine Arbeitskraft im Gang zu halten, wie der Dampfmaschine Kohle und Wasser, dem Rad Öl zugesetzt wird. Seine Konsumtionsmittel sind dann bloß Konsumtionsmittel eines Produktionsmittels, seine individuelle Konsumtion direkt produktive Konsumtion.“ (S. 597, Absatz 1)

Den Nationalökonomen entgeht dieser Umstand jedoch:

„Dies erscheint jedoch als ein dem kapitalistischen Produktionsprozeß unwesentlicher Mißbrauch.“ (ebd.)

– weil sie aufgrund ihres Kniefalls vor dem Eigentum bereits die produktive Konsumption nicht richtig erkennen. (S. 597, Fußnote 7)
D.h., wenn dem Arbeiter vom Unternehmer nur soviel an Freizeit und Konsumption zugestanden wird, wie unbedingt notwendig ist, so wird das als „Gier“ oder „Unverschämtheit“ des einzelnen Unternehmers angeprangert („das ist ja Ausbeutung!“) – aber nicht als Folge kapitalistischer Kalkulation.
(Zur Geschichte der Bohnen – sie stammen doch aus Südamerika!)

Konsumkritik gabs offenbar auch damals schon:

„Daher betrachtet auch der Kapitalist und sein Ideolog, der politische Ökonom, nur den Teil der individuellen Konsumtion des Arbeiters als produktiv, der zur Verewigung der Arbeiterklasse erheischt ist, also in der Tat verzehrt werden muß, damit das Kapital die Arbeitskraft verzehre; was der Arbeiter außerdem zu seinem Vergnügen verzehren mag, ist unproduktive Konsumtion. Würde die Akkumulation des Kapitals eine Erhöhung des Arbeitslohns und daher Vermehrung der Konsumtionsmittel des Arbeiters verursachen ohne Konsum von mehr Arbeitskraft durch das Kapital, so wäre das zuschüssige Kapital unproduktiv konsumiert.“ (S. 598, Absatz 2)

„Unproduktiv“ ist es natürlich nur vom Standpunkt des anwendenden Kapitalisten, der möglichst wenig Lohn zahlen will – vom Standpunkt des Warenproduzenten ist natürlich der Arbeitslohn als „Kaufkraft“ bereits eingeplant.

Der Kapitalist macht jedenfalls sein Recht auf sein Arbeitermaterial geltend – erstens dadurch, daß er sie benützt und dadurch von ihm abhängig macht, sodaß sie jede Woche wieder von neuem antreten, um von ihm in Brot gesetzt zu werden, nachdem sich der Kapitalist ihr Produkt angeeignet hat.

„Der Schein seiner Unabhängigkeit wird durch den beständigen Wechsel der individuellen Lohnherrn und die fictio juris des Kontrakts aufrechterhalten.“ (S. 599, Absatz 2)

Was ist gemeint mit „fictio juris“? Das Wesen jedes Vertrages, daß sich zwei gleichberechtigte Vertragspartner gegenüberstehen. Damit ist der Schein gegeben – und auch die Wahrheit ausgesprochen! – daß der Lohnarbeiter seinen Job freiwillig macht.

Die Fabrikanten wollen auch dann nicht auf ihre Arbeitskräfte verzichten, wenn sie sie einmal gerade nicht anwenden – aber sozusagen „auf Lager“ sollen sie ihnen dennoch zur Verfügung stehen. (S. 599-603) Man sieht hier auch wieder einen Grund für das Entstehen des Sozialstaats, namentlich der Arbeitslosenunterstützung: Die Arbeiterklasse soll den einheimischen Unternehmern zur Verfügung stehen und nicht emigrieren und womöglich fremden Kapitalisten zu Gewinn verhelfen. Die „Times“ hingegen weist darauf hin, daß Arbeiter im Gegensatz zur Maschinerie zu Rebellion neigen können, wenn man sie brachliegen läßt, macht also einen staatlichen Ordnungsgesichtspunkt geltend. Außerdem verweist sie auf die Kaufkraft, die solchermaßen – falls die Überflüssigen emigrieren – anderen besitzenden Klassen, wie Hausherren, entginge.

So ist die Schlußfolgerung aus diesem Kapitel:

„Der kapitalistische Produktionsprozeß, im Zusammenhang betrachtet oder als Reproduktionsprozeß, produziert also nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der andren den Lohnarbeiter.“ (S 604)

Bisher wurde unterstellt, daß der geschaffene Mehrwert zu Konsumtionszwecken des Kapitalisten aufgebraucht, also dem Kreislauf des Kapitals entzogen würde. Nun wird untersucht, was mit dem Mehrwert tatsächlich geschieht.

 

22. KAPITEL: Verwandlung von Mehrwert in Kapital

1. Kapitalistischer Produktionsprozeß auf erweiterter Stufenleiter. Umschlag der Eigentumsgesetze der Warenproduktion in Gesetze der kapitalistischen Aneignung

Während das vorgeschossene Kapital den Kreislauf durchlaufen hat, sobald die Ware verkauft worden ist und das Kapital wieder in Geldform vorliegt, entsteht der Mehrwert erst in der Produktion und muß sich beim Verkauf der Ware sozusagen beweisen, bzw. sichtbar werden.

Wenn der Kapitalist den Mehrwert investiert, erhöht er damit das Kapital. Gesamtgesellschaftlich erhöht sich somit die Produktion, wenn der Mehrwert re-investiert wird, und mehr Waren kommen auf den Markt:

„Die Vorgänge auf dem Markt bewerkstelligen nur den Umsatz der einzelnen Bestandteile der Jahresproduktion, schicken sie von einer Hand in die andre, aber sie können weder die Gesamt-Jahresproduktion vergrößern noch die Natur der produzierten Gegenstände ändern. Welcher Gebrauch also von dem jährlichen Gesamtprodukt gemacht werden kann, das hängt ab von seiner eignen Zusammensetzung, keineswegs aber von der Zirkulation.“ (S. 602, Absatz 3)

Dieser Zusamensetzung widmet sich Marx im Folgenden. Hier kommt erstmals der Umstand zur Sprache, daß es zwei Arten von Produktion gibt: eine für Produktionsgüter, und eine für Konsumgüter. Um gesamtgesellschaftlich akkumulieren zu können, muß ein Teil des Mehrwerts in Produktionsgüter investiert werden. Weil bestünde das Mehrprodukt bloß

„in Dingen, bestimmt zur Befriedigung der Bedürfnisse und Gelüste der Kapitalistenklasse, die also in ihren Konsumtionsfonds eingehn …  so würde der Mehrwert verjubelt bis auf die Hefen(2), und es fände bloß einfache Reproduktion statt.“ (S. 602, Absatz 3)

Diese Dinge müssen bereits hergestellt sein, wenn der Mehrwert nach ihnen sucht.
Zu den zusätzlich hergestellten Produktionsmitteln = der Vergrößerung des Arbeitsfonds – muß sich auch eine größere Menge an Arbeitskräften gesellen. Und eine größere Menge an Konsumgütern/Lebensmitteln, von denen sie sich ernähren können.
„Wachstum“ ist also eine immanente Notwendigkeit der kapitalistischen Produktion, weil der Mehrwert investiert werden muß. Wenn das aus irgendwelchen Gründen nicht klappt, so ist Krise da.

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DISKUSSION:

Und wenn der Unternehmer einen Teil spart?

Wenn der Kapitalist von vorgestellten 200 € Mehrwert (auf ein Kapital von 1000) 100 € verfuttern und 100 € auf die hohe Kante legen bzw. in die Matratze stopfen würde, so würde er diese zweiten 100 € der Zirkulation zwecks Schatzbildung entziehen. Sie wären dann totes Kapital. Es fände also auch keine Akkumulation statt. Diese Variante gehört ins vorige Kapitel.

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„Das ursprüngliche Kapital bildete sich durch den Vorschuß von 10.000 Pfd.St. Woher hat sie ihr Besitzer? Durch seine eigne Arbeit und die seiner Vorfahren! antworten uns einstimmig die Wortführer der politischen Ökonomie, und ihre Annahme scheint in der Tat die einzige, die zu den Gesetzen der Warenproduktion stimmt.“ (S. 608, Absatz 2)

Daß Kapital durch eigene Arbeit entsteht, widerspricht irgendwie der Anschauung. Warum erscheint es als eine Erklärung, die mit den „Gesetzen der Warenproduktion“ übereinstimmt?
Gemeint ist offenbar, daß sich die Waren zu ihren Werten am Markt austauschen und daher jeder ein Äquivalent dafür enthält, was er dafür investiert hat. Nach diesen Gesetzen kann es keine creatio ex nihilo, Schöpfung aus dem Nichts, geben. Aber es scheint auch so zu sein, daß die Menschheitsgeschichte nicht immer von den Gesetzen des Warentausches beherrscht wurde, und auch heute nicht wird ...

„Ganz anders verhält es sich mit dem Zusatzkapital von 2.000 Pfd.St. Seinen Entstehungsprozeß kennen wir ganz genau. Es ist kapitalisierter Mehrwert. Von Ursprung an enthält er nicht ein einziges Wertatom, das nicht aus unbezahlter fremder Arbeit herstammt. “ (S. 608, Absatz 3)

Der Ursprung des ersten Vermögens ist schon lange her, aber das Kapitalverhältnis reproduziert sich eben ständig neu, und auf Grundlage unbezahlter, durch das Kapital angeeigneter Arbeit. Die frage nach dem Ursprung ist daher zum Begreifen des Kapitalverhältnisses relativ belanglos. Es ist nur für diejenigen von Bedeutung, die an der gewöhnlichen alltäglichen Ausbeutung nichts auszusetzen haben.

„Wenigstens mußte diese Annahme gelten, da sich nur gleichberechtigte Warenbesitzer gegenüberstehn, das Mittel zur Aneignung fremder Ware aber nur die Veräußerung der eignen Ware, und letztere nur durch Arbeit herstellbar ist. Eigentum erscheint jetzt auf Seite des Kapitalisten als das Recht, fremde unbezahlte Arbeit oder ihr Produkt, auf Seite des Arbeiters als Unmöglichkeit, sich sein eignes Produkt anzueignen. Die Scheidung zwischen Eigentum und Arbeit wird zur notwendigen Konsequenz eines Gesetzes, das scheinbar von ihrer Identität ausging.“ (S. 609/610)

Hier wird noch einmal der Bogen zum Anfang des Buches geschlagen und daß sich aus der Behandlung aller Rechtssubjekte, also Staatsbürger als Eigentümer ergibt, daß das stoffliche Eigentum sich bei einem Teil sammelt, der Rest aber gar nichts hat als seine Arbeitskraft, und die eben dann als sein Eigentum behandeln und veräußern muß.

Warum hält es Marx hier für notwendig, auf diesen Umstand erneut hinzuweisen? Offenbar deshalb, um auf die ständig verarmende Wirkung der kapitalistischen Akkumulation hinzuweisen, darauf, daß der normale Prozeß des kapitalistischen Produzierens die produktive Armut und den abstrakten Reichtum hervorbringt, und nicht ein ursprünglicher Akt der Aneignung:

„Sosehr die kapitalistische Aneignungsweise also den ursprünglichen Gesetzen der Warenproduktion ins Gesicht zu schlagen scheint, so entspringt sie doch keineswegs aus der Verletzung, sondern im Gegenteil aus der Anwendung dieser Gesetze.“ (S. 610, Absatz 2)

(Es ist vielleicht ganz gut, an das hier noch einmal zu erinnern, weil bei der ursprünglichen Besprechung des Themas – Kap. 4 – ging es etwas drunter und drüber ...)

„Die ursprüngliche Verwandlung des Geldes in Kapital vollzieht sich also im genauesten Einklang mit den ökonomischen Gesetzen der Warenproduktion und mit dem daraus sich ableitenden Eigentumsrecht.“ (S. 611, Absatz 3)

Ist das so? Leitet sich das Eigentum aus der Warenproduktion ab oder liegt es ihr nicht vielmehr zugrunde?
Eigentum ohne Warenproduktion würde ja keinen Sinn machen. Aber das heißt nur, daß Eigentum nach Warenproduktion verlangt, und nicht, daß Warenproduktion Eigentum schafft. (Außerdem war das ja auch nicht so klar in der realsozialistischen Staats- und Ökonomie-Lehre, mit dem Eigentum, der Ware und dem Wert ...)
Ohne gewaltsame Absicherung gibts kein Eigentum. Also aus dem bloßen Nebeneinander-Hinwerkeln entsteht noch kein Eigentum. Eine Eigentumsordnung kann nur von einem Gewaltmonopol eingerichtet werden.

„Allerdings sieht die Sache ganz anders aus, wenn wir die kapitalistische Produktion im ununterbrochnen Fluß ihrer Erneuerung betrachten und statt des einzelnen Kapitalisten und des einzelnen Arbeiters die Gesamtheit, die Kapitalistenklasse und ihr gegenüber die Arbeiterklasse ins Auge fassen. Damit aber würden wir einen Maßstab anlegen, der der Warenproduktion total fremd ist. In der Warenproduktion stehn sich nur, voneinander unabhängig, Verkäufer und Käufer gegenüber.“ (S. 612, Absatz 5-6)

Was ist hier eigentlich über „Warenproduktion“ ausgesagt? Ist Kapitalismus keine „Warenproduktion“? Widersprechen die Klassen der Warenproduktion? Ist „Warenproduktion“ eine rein theoretische Abstraktion, die sich nicht in der Wirklichkeit wiederfindet? Ist „Warenproduktion“ etwas Individuelles, nichts Gesellschaftliches? Wird „Warenproduktion“ hier für „Markt“ eingesetzt? Oder bezeichnet der Begriff ein reines Rechtsverhältnis der Gleichen vor dem Gesetz? Die oben erwähnte „fictio juris“?
Irgendwie kommen hier die Begrifflichkeiten durcheinander.

Vermutlich reitet Marx hier auf diesem Begriff so herum, weil er sich gegen die Vorstellung wenden will, daß Kapitalismus auf Betrug und unfairem Tausch beruht und man nur eine „gerechte“ Entlohung durchsetzen müsse. Er will also hier noch einmal darauf dringen,
– daß der Kapitalismus nicht über Rechtskategorien zu bekämpfen geht, und
– daß die Akkumulation, – also daß die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden – rechtmäßig ist.

Dennoch geben verschiedene Formulierungen hier Anlaß zu Mißverständnissen:

„Soll also die Warenproduktion oder ein ihr angehöriger Vorgang nach ihren eignen ökonomischen Gesetzen beurteilt werden, so müssen wir jeden Austauschakt für sich betrachten, außerhalb alles Zusammenhangs mit dem Austauschakt, der ihm vorherging, wie mit dem, der ihm nachfolgt. Und da Käufe und Verkäufe nur zwischen einzelnen Individuen abgeschlossen werden, so ist es unzulässig, Beziehungen zwischen ganzen Gesellschaftsklassen darin zu suchen.“ (S. 613, Absatz 1)

Warum eigentlich? Was sind die „eigenen ökonomischen Gesetze“? Das Vertragsrecht? Ist das ein „ökonomisches Gesetz“?
Es scheint, als ob hier wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten – auf die ja Marx viel gibt – an juristischen Gesetzen, also staatlichen Gewaltakten gemessen, also Äpfel mit Birnen verglichen werden. Das ganze Vertragsrecht gibt es doch nur, weil das Gewaltmonopol es einrichtet und garantiert.

Was ist mit diesem Satz gemeint? –

„Solange bei jedem Austauschakt – einzeln genommen – die Gesetze des Austausches eingehalten werden, kann die Aneignungsweise eine totale Umwälzung erfahren, ohne das, der Warenproduktion gemäße, Eigentumsrecht irgendwie zu berühren.“

Man kann sich dazu den heutigen Sektor der Dienstleistungen, des Wertpapierhandels und der Derivatenbörsen denken – es findet Äquivalententausch statt, jemand macht Gewinne, ohne daß irgendeine Arbeit zugesetzt, ein stofflich faßbarer Gebrauchsgegenstand geschaffen wurde. Das Privateigentum und der Aquivalententausch, einmal rechtsförmlich eingerichtet, bieten unerschöpfliche Quellen der Bereicherung.

Schließlich gab der letzte Absatz dieses Unterkapitels noch Rätsel auf:

„Die politische Ökonomie stellt das Kapital daher überhaupt dar als »akkumulierten Reichtum« (verwandelten Mehrwert oder Revenue), »der von neuem zur Produktion von Mehrwert verwandt wird«, oder auch den Kapitalisten als »Besitzer des Mehrprodukts«. Dieselbe Anschauungsweise besitzt nur andre Form in dem Ausdruck, daß alles vorhandne Kapital akkumulierter oder kapitalisierter Zins sei, denn der Zins ist ein bloßes Bruchstück des Mehrwerts.“

Man muß sich offenbar unter „Zins“ nicht nur Kreditzinsen vorstellen, sondern auch Mietzins, Pachtzins usw., also alle Form von Einkommen, aus dem ersichtlich ist, daß es nicht aus eigener Arbeit, sondern aus zu Verfügung gestelltem Eigentum herrührt. Damit gestehen also sogar so ansonsten geschmähte Nationalökonomen wie Malthus zumindest ein, daß Kapital aus Verwertung von Eigentum beruht und nicht auf eigener Arbeit.

Anläßlich dessen, daß jetzt einmal dargestellt wurde, daß Akkumulation auf Aneignung fremder Arbeit, bezahlter und unbezahlter, beruht, und eine Lebensbedingung der kapitalistischen Produktion ist, knöpft Marx sich im Folgenden die nationalökonomischen Ideologien vor.

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(1) Eugen Böhm-Bawerk setzt bei seiner Marx-Kritik 1896 genau da an:

„Das Untersuchungsfeld, das Marx zu durchforschen unternimmt, um dem »Wert auf die Spur zu kommen« (I. 23) [MEW 23, S. 62], beschränkt er von Haus auf die Waren, worunter wir in seinem Sinn wohl nicht alle wirtschaftlichen Güter, sondern nur die für den Markt erzeugten Arbeitsprodukte zu verstehen haben.“
    
Dazu äußerte sich später Hilferding in einer umfassenden Kritik.

 

(2) Das kommt vom Bier (offenbar Hefeweizen), wo die Hefe am Grund des Krügels übrigbleibt.

 

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