Protokoll 34
14.4.  2013

15. KAPITEL: Größenwechsel von Preis der Arbeitskraft und Mehrwert

Um diese Untersuchung zu machen, schließt Marx verschiedene Momente von der Berechnung aus: Die Masse der Lebensmittel wird konstant gesetzt, Alter, Geschlecht und Ausbildungskosten (das ist wohl mit „Entwicklungskosten“ gemeint) werden nicht untersucht. (Da war ja das 13. Kapitel ausführlich genug ...)

Auch sonst setzt er weitere Fixpunkte:

„Wir unterstellen, 1. daß die Waren zu ihrem Wert verkauft werden, 2. daß der Preis der Arbeitskraft wohl gelegentlich über ihren Wert steigt, aber nie unter ihn sinkt.“ (S 542, 2. Absatz)

So wird also die Versuchsanordnung eingerichtet. Jetzt geht es um Variationen von
Länge des Arbeitstags (extensive Größe)
Intensität
Produktivkraft

Rekapitulation: Zu dem, was „Intensivierung“ heißt, sei auf das 13. Kapitel verwiesen, Punkt 3. c) Intensifikation der Arbeit. Dort wird allerdings nicht getrennt zwischen Produktivkraftsteigerung und bloßer Arbeitshetze. Hier in diesem Kapitel jedoch schon. Unter Intensivierung wird hiermit jede Beschleunigung des Arbeitsprozesses verstanden, die nicht der Anwendung neuer Maschinerie geschuldet ist. Z.B. durch andere Einteilung des Arbeitsprozesses – dezentral oder zentral, Beschleunigung des Fließbandes, verschärfte Kontrolle, weniger Pausen, Mitarbeitergespräche usw.

 

I. Größe des Arbeitstags und Intensität der Arbeit konstant (gegeben), Produktivkraft der Arbeit variabel

Wenn der Arbeitstag konstant ist, so kann sich nur die Mehrwertrate verändern, nicht aber die Wertmasse. Die ist bei gegebenem Arbeitstag konstant, ganz gleich, wie das Verhältnis von notwendiger zu Mehrarbeit aussieht, und auf wieviele einzelne Produkte sie sich auch verteilt.

Warum ist der Hinweis auf die unterschiedlichen Proportionen, der gegen Ricardo festgehalten wird (S 544), von Bedeutung? Weil sich Produktivkraftsteigerungen mit zunehmendem Exploitationsgrad der Arbeit immer weniger rentieren. (Fallende Profitrate, usw.)

„Zu- oder Abnahme des Mehrwerts ist stets Folge und nie Grund der entsprechenden Ab- und Zunahme des Werts der Arbeitskraft.“ (S 544, 3. Absatz)

Die Produktivkraftsteigerung muß allgemein gesellschaftlich durchgesetzt sein, damit der Wert der Ware Arbeitskraft sinkt. Individuelle Produktivkraftsteigerung senkt zwar den Stückkostenpreis, erhöht aber nicht die Mehrwertrate.

Was ist von dem zu halten? –

„Die Masse (der Lebensmittel) selbst kann, bei steigender Produktivkraft der Arbeit, für Arbeiter und Kapitalist gleichzeitig und in demselben Verhältnis wachsen“ (S 545, 3. Absatz)

Heißt Produktivkraftsteigerung nicht, daß in der gleichen Zeit mehr hergestellt wird? Und sich dadurch die einzelne Ware verbilligt? Also muß die Masse der Lebensmittel bei Produktivkraftsteigerung wachsen.
Wie ist „für Arbeiter und Kapitalist gleichzeitig“ zu verstehen?

„Der Preis der Arbeitskraft könnte so bei steigender Produktivkraft der Arbeit beständig fallen mit gleichzeitigem, fortwährendem Wachstum der Lebensmittelmasse des Arbeiters. Relativ aber, d.h. verglichen mit dem Mehrwert, sänke der Wert der Arbeitskraft beständig und erweiterte sich also die Kluft zwischen den Lebenslagen von Arbeiter und Kapitalist.“ (S 546, 1. Absatz)

Der Arbeiter kann sich zwar mehr Lebensmittel leisten als vorher, kommt jedoch dennoch den Unternehmer billiger, weil diese gesteigerte Gebrauchswert-Masse an Lebensmitteln einer geringeren Wertmenge entspricht, so daß sich der gesellschaftliche Reichtum ständig zugunsten der Kapitalisten verschiebt, während gleichzeitig alle trompeten: „Es geht den Arbeitern so gut wie nie zuvor!“
Eine der Formen, wie diese Verbilligung der Arbeiterklasse durchgesetzt wird, ist die Inflation – so kommt es bei nominaler Lohnsteigerung zu Reallohn-Verlusten.

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Lange Diskussion über Armut, Armutsberichte und Einkommensverteilung. Angeblich ist trotz allen Gejammers über die ungleiche Einkommensverteilung „als Folge des Neoliberalismus“ die Verteilung des gesellschaftlichen Vermögens in Mitteleuropa relativ konstant: 10% der Gesellschaft besitzen 2/3 des gesamten nationalen Vermögens. Nur jetzt, angesichts der Krise, Arbeitslosigkeit und Existenzbedrohung fällt das wieder mehr auf.
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Diese 3 Gesetze übernimmt Marx von Ricardo, weist aber auf deren Mangel hin: Arbeitstag und Intensität sind für Ricardo fixe Größen, er nimmt also den Streit um die Länge des Arbeitstages und den sich darin ausdrückenden Klassengegensatz gar nicht zur Kenntnis. Zweitens unterscheidet er nicht zwischen Mehrwert- und Profitrate, und erkennt deshalb nicht, daß die Quelle des Reichtums der einen die unbezahlte Arbeit der anderen ist. Da er den Mehrwert nicht untersucht, kennt er auch keine Mehrwertrate und kann die weiter oben erwähnten Proportionen zu notwendiger Arbeit und Mehrarbeit gar nicht errechnen.

 

II. Konstanter Arbeitstag, konstante Produktivkraft der Arbeit, Intensität der Arbeit variabel

Mit dieser gesteigerten Intensität bei gleichbleibender Produktivität hatten alle Beteiligten ihre Schwierigkeiten. Es wird also die Peitsche häufiger geschwungen, man darf nicht mehr aufs Klo gehen und es gibt öfter Mitarbeitergespräche?
Also wird in der gleichen Zeit mehr erzeugt, aber die Stückkosten nicht gesenkt, und dadurch erhöht sich das Wertprodukt. Das heißt auch, daß eine Arbeitsstunde jetzt mehr Wert erzeugt.
Steigt dadurch der Wert der Ware Arbeitskraft? Wird also mehr Lohn bezahlt?

Das Rätsel ist: Warum erhöht sich beim Einsatz einer Maschine, also Produktivkraftsteigerung das Wertprodukt des gesamten Arbeitstages nicht, bei Intensivierung jedoch schon?
Die Klärung der Frage wird auch dadurch behindert, daß ständig der Wert, der den Waren zugesetzt wird, also der Wert, der durch lebendige Arbeit geschaffen wird, mit dem Wert der Ware Arbeitskraft verwechselt wird.

Wertprodukt, rekapitulieren wir, ist der Gesamtwert der Waren, die innerhalb einer bestimmten Zeit, z.B. eines Arbeitstages, erzeugt werden.

(Vielleicht sollten wir doch das Erklärungsangebot von M. erwähnen, daß von Produktivkraftsteigerung erst dann geredet werden soll, wenn diese gesamtgesellschaftlich zu einer Verbilligung der Lebensmittel geführt hat.)

Bei Intensivierung, so die Behauptung von Marx, ändert sich die Arbeit, die in einer Stunde verrichtet wird, vom Standpunkt der Maßeinheit. In ihr wird die Wertschöpfung konzentriert, und eine Arbeitsstunde ist jetzt eineinhalb mal soviel wert, wie eine andere.
Das zeigt sich in der Konkurrenz der Industriezweige und in der der Nationen. Eine Arbeitsstunde in einem Zweig/einer Nation schafft mehr Wert als eine Stunde im / in der anderen:

„Steigerte sich die Intensität in allen Industriezweigen gleichzeitig und gleichmäßig, so würde der neue höhere Intensitätsgrad zum gewöhnlichen gesellschaftlichen Normalgrad und hörte damit auf, als extensive Größe zu zählen.“ (S 548, 2. Absatz)

Das Rätsel, was Intensivierung von Produktivkraftsteigerung unterscheidet, konnten wir nicht ganz klären.

 

III. Produktivkraft und Intensität der Arbeit konstant, Arbeitstag variabel

Wird der Arbeitstag verkürzt, ohne daß der Unternehmer Veränderungen in der Produktion vornimmt, so verliert er. Die notwendige Arbeit bleibt gleich, die Mehrarbeit wird weniger. Nur durch Lohnsenkung, also Einkauf der Arbeitskraft unter ihren Wert, könnte er sich schadlos halten. (Das geschieht zwar dauernd, wurde jedoch am Anfang dieses Kapitels für die hier vorgenommene Analyse ausgeschlossen.)

In der Wirklichkeit, so Marx, tritt das so nicht ein. Der Arbeitstag wird entweder als Folge von Produktivitätssteigerung verkürzt, oder diese Verkürzung hat sofort Umwälzung der Produktion zur Folge. (S 548/549)

Wird der Arbeitstag verlängert, so wächst der Mehrwert absolut, und relativ zum Lohn, d.h. die Mehrarbeit im Verhältnis zur notwendigen Arbeit.
Es kann auch sein, daß der Lohn erhöht wird, aber gleichzeitig der Verschleiß der Arbeitskraft steigt und deshalb trotz gesteigertem Lohn die Arbeitskraft unter Wert bezahlt wird, weil sich der Wert der Ware Arbeitskraft aus ihren Reproduktionsbedingungen ergibt, die sich bei erhöhter Inanspruchnahme derselben erhöhen können, ohne daß sich der Lohn in entsprechendem Ausmaß erhöht. Der Arbeiter braucht durch vermehrte Inanspruchnahme mehr für seine Reproduktion, erhält aber nicht genug.

 

IV. Gleichzeitige Variationen in Dauer, Produktivkraft und Intensität der Arbeit

Die ganze Debatte um sinkende Produktivität kann sich nur auf Landwirtschaft und Bergbau beziehen, weil in der Industrie kann die Produktivität nicht so einfach sinken.

Lohnerhöhung heißt nicht, daß der Wert der Ware Arbeitskraft steigt, sondern kann durchaus auch Entlohnung unter Wert bedeuten, wenn der Preis der Lebensmittel gleichzeitig noch mehr steigt. Hierher gehört die Debatte über die Corn Laws. bzw. englisch (die englische Wikipedia ist etwas begrifflicher als die deutsche).

Die gesteigerten Lebensmittelpreise waren damals den Unternehmern Anlaß dafür, die Verlängerung des Arbeitstages zu fordern, um ihre Mehrwertrate zu halten.

Noch einmal ein Hinweis auf die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise:

„Während die kapitalistische Produktionsweise in jedem individuellen Geschäft Ökonomie erzwingt, erzeugt ihr anarchisches System der Konkurrenz die maßloseste Verschwendung der gesellschaftlichen Produktionsmittel und Arbeitskräfte, neben einer Unzahl jetzt unentbehrlicher, aber an und für sich überflüssiger Funktionen.“ (S 552, 2. Absatz)

Innerhalb eines Betriebes wird alles effizient gemacht, solange es den Verwertungsinteressen des Kapitals dient. Gesamtgesellschaftlich (heute: global) jedoch wird verschwendet und zerstört, um die Gewinne der Unternehmer zu sichern und zu steigern.

Fazit:

„Die absolute Grenze für die Verkürzung des Arbeitstags ist nach dieser Seite hin die Allgemeinheit der Arbeit. In der kapitalistischen Gesellschaft wird freie Zeit für eine Klasse produziert durch Verwandlung aller Lebenszeit der Massen in Arbeitszeit.“ (S 552, 3. Absatz)

Es mag anachronistisch sein, weil es sich auf einen vorkapitalistischen Zustand bezieht, aber dennoch kommt mir angesichts der Verteilung der Arbeit der Hessische Landbote in den Sinn:

„Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. ... Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen.“

 

Was ist die Botschaft dieses Kapitels?

Einerseits ist es eine Wiederholung von allem möglichem, das bisher bereits abgehandelt wurde. Eine Art Prüfung, ob man auch alle bisherigen Erkenntnisse begriffen hat.

Worauf Marx jedoch hinweisen will:

Lohnhöhe oder Länge des Arbeitstages sagen nichts über die Rate des Mehrwerts, d.h. den Exploitationsgrad der Arbeit aus.

Die Konkurrenz der Kapitalisten, ihre Fähigkeit, Wert zu produzieren, steht und fällt mit der Frage, wieviel Wert in einer Arbeitsstunde produziert werden kann. Daran entscheidet sich die Konkurrenz der Kapitale, der Industriezweige, und der Nationen.

Auf die aktuelle Situation bezogen: Die „Wettbewerbsfähigkeit“, wie diese Konkurrenzfähigkeit heute genannt wird, entscheidet sich am Exploitationsgrad der Arbeit, der Rate des Mehrwerts. Alles andere, wie Währung, Wechselkurse, Kredit usw. ist nachrangig bzw. ein Ergebnis derselben.

Aus all dem, was in diesem Kapitel abgehandelt wurde, ergibt sich die Frage: Woraus bestimmt sich die Rate des Mehrwerts?

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Corn Laws:

The political issue was a dispute between landowners (a long-established class, who were heavily represented in Parliament) and the new class of manufacturers and industrialists (who were not): the former desired to maximise their profits from agriculture, by keeping the price at which they could sell their grain high; the latter wished to maximise their profits from manufacture, by reducing the wages they paid to their factory workers – the difficulty being that men could not work in the factories if a factory wage was not enough to feed them and their families; hence, in practice, high grain prices kept factory wages high also.

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