Protokoll 20
11.3. 2012

 

8. KAPITEL: Der Arbeitstag

1. Die Grenzen des Arbeitstags

Die Arbeitszeit teilt sich, wie bisher erläutert, in notwendige und Mehrarbeit. Die notwendige Arbeit wird auf dem derzeitigen Stand der Analyse mit dem Arbeitslohn gleichgesetzt. (Halten wir fest, daß das nicht unbedingt das Gleiche ist und Genaueres zu Deckung und Auseinanderklaffen dieser beiden Summen noch folgt.)

Also arbeitet der Arbeiter x Stunden „für sich“ (stimmt natürlich auch nicht, weil er hat sich den Job ja nicht in dieser Form gestaltet) und den Rest für den Unternehmer. Also z.B. 5 Stunden n. A. und 5 Stunden Ma. Der Arbeitstag muß dann immer über diesen 5 Stunden liegen, die in Form von Arbeitlohn an den Arbeiter ausgezahlt werden, er ist also 5+x. Wie klein dieses x werden kann, läßt sich nicht angeben:

„Obgleich nun der Arbeitstag keine feste, sondern eine fließende Größe ist, kann er andrerseits nur innerhalb gewisser Schranken variieren. Seine Minimalschranke ist jedoch unbestimmbar.“(S 246, 3. Absatz)

Es muß aber ein mehr über die notwendige Arbeitszeit hinaus sein, weil sonst gäbe es den Arbeitsplatz nicht.

Die obere Schranke sind alle 24 Stunden des Tages, aber es ist einsichtig, daß das auch nicht ganz sein kann, weil Essen und Schlafen muß der Mensch auch.
Interessant hier der Unterschied zwischen Tier und Mensch:

„So kann ein Pferd tagaus, tagein nur 8 Stunden arbeiten. … Der Arbeiter braucht Zeit zur Befriedigung geistiger und sozialer Bedürfnisse … Die Variation des Arbeitstags bewegt sich daher innerhalb physischer und sozialer Schranken. Beide Schranken sind aber sehr elastischer Natur und erlauben den größten Spielraum. So finden wir Arbeitstage von 8, 10, 12, 14, 16, 18 Stunden, also von der verschiedensten Länge.“ (S 246/247)

Die „sozialen Schranken“ (kulturelle Bedürfnisse übers Essen und Wohnen hinaus) der Reproduktion werden derzeit mit Hartz IV-Bestimmungen und verwandten Regelungen hierzulande neu definiert und nach unten gedrückt.

Es zeigt sich jedoch, und dafür bietet dieses Kapitel sehr viele Anschauungsbeispiele, wie die Unternehmer ihren Arbeitern sogar gewisse Grundbedürfnisse gar nicht zugestehen wollen:

„Als Kapitalist ist er nur personifiziertes Kapital. Seine Seele ist die Kapitalseele. Das Kapital hat aber einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb, sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, mit seinem konstanten Teil, den Produktionsmitteln, die größtmögliche Masse Mehrarbeit einzusaugen. Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt. Die Zeit, während deren der Arbeiter arbeitet, ist die Zeit, während deren der Kapitalist die von ihm gekaufte Arbeitskraft konsumiert. Konsumiert der Arbeiter seine disponible Zeit für sich selbst, so bestiehlt er den Kapitalisten.“ (S 247, 2. Absatz)

Der Ausdruck „disponible Zeit“ bezieht sich offenbar auf Arbeitszeit, die nicht durch eine Maschine vorgegeben ist, weshalb der Arbeiter einmal faulenzen/ausschnaufen kann, wenn die Aufsicht gerade wegschaut.
Die aus dieser schrankenlosen Benutzung der Arbeitskraft folgende kurze Lebenserwartung und das baldige Ableben ihres Arbeitsviehs kratzt die Unternehmer nicht besonders, solange sie leicht Ersatz finden. Dagegen regt sich Widerstand bei den Arbeitern:

„Durch maßlose Verlängrung des Arbeitstags kannst du in einem Tage ein größres Quantum meiner Arbeitskraft flüssig machen, als ich in drei Tagen ersetzen kann. Was du so an Arbeit gewinnst, verliere ich an Arbeitssubstanz. Die Benutzung meiner Arbeitskraft und die Beraubung derselben sind ganz verschiedne Dinge. … Ich verlange also einen Arbeitstag von normaler Länge, weil ich den Wert meiner Ware verlange, wie jeder andre Verkäufer. …“ (S 248, 2. Absatz)

Fragt sich nur, was diese „normale Länge“ ist ... Es scheint dem hier Auftretenden ein Zustand vorzuschweben, wo es einen Ausgleich zwischen seinem und dem Interesse der Gegenseite gibt. Das wäre dann ein „normaler“ Arbeitstag. Was ist gemeint mit „Beraubung“? Offenbar nicht die Einsaugung von unbezahlter Mehrarbeit.
Bei der Länge dieses angestrebten Normalarbeitstages orientiert sich der diese Forderungen erhebende Arbeiter anscheinend an Arbeitszeiten außerhalb des Ausbeutungsverhältnisses, bei selbständigen Handwerkern, Landwirten oder Beamten. Und bei der Lebenserwartung auch an der Differenz zwischen Arbeiter- und Unternehmer-Lebenserwartung.

Die Argumentation geht hier ein bißchen hin und her. Es findet sich jedoch die klassische Verwandlung eines Interesses in ein Recht, das man doch habe, und zwar nach den Gesetzen des Warentausches. Diese letzteren werden also auch vom Verkäufer der Ware Arbeitskraft anerkannt.

(In diesem Absatz auf S. 248 finden sich alle möglichen Gedanken, die man von ÖGB und Arbeiterkammer kennt … Es ist aber hier nicht zielführend, eine national orientierte Staatsgewerkschaft und Standortsorgen mit diesen Anfängen des Klassenkampfes in einen Topf zu werfen.)
Da der Käufer auf seinem Recht auf unbeschränkte Benutzung der Arbeitskraft, der Arbeiter auf dessen Beschränkung, so tritt, wie bei allen Rechtsstreitigkeiten, der Staat auf den Plan.
Marx’ Formulierung gibt zumindest zu Mißverständnissen Ausdruck, die natürlich auch stattgefunden haben:

„Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar - ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten(*1), d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.“ (S 249, 2. Absatz)

Obwohl im Fortgang dieses Kapitels der Eingriff des Staates durch die Fabrikgesetzgebung und der Kampf der Inspektoren gegen ihre Umgehung durch die Fabrikherren detailliert geschildert wird, streicht Marx hier den Streitschlichter weg, stellt also damit implizit alles, was den Unternehmern entrissen werden konnte, als ein Ergebnis des Kampfes der Arbeiterklasse dar.

 

2. Der Heißhunger nach Mehrarbeit. Fabrikant und Bojar

Das nächster Unterkapitel stellt nur dar, daß es das unsittliche Begehr, sich die Früchte der unbezahlten Arbeit anderer anzueignen, auch in anderen Produktionsweisen gibt, wo es einer Klasse gelingt, sich der Produktionsmittel, in erster Linie des Bodens, zu bemächtigen. Ansonsten kommt nichts Wesentliches hinzu.

Wieder einmal der Vergleich mit der Sklavenarbeit – es macht eben einen Unterschied, wofür diese Sklavenarbeit eingesetzt wird, ob sie gemütlicher oder noch schlimmer ist als die Lohnarbeit (die ja auch hierzulande anders ausschaut als z.B. in Bangla Desh).

Der Unterschied bei der Jagd nach Mehrarbeit zwischen Fabrikant und Bojar besteht darin, daß in letzterem Falle die Mehrarbeit offen bezeichnet ist. Da gibts keine Tricks à la Senior, eine andere Mehrwertrate herbeizurechnen.

Hier gibt es eine schöne Ausführung, warum erstens der Staat sich zu einer die Willkür der Unternehmer beschneidenden Fabriksgesetzgebung entschloß, als auch, warum es später viele kapitalistische Staaten Europas für zielführend hielten, einen Sozialstaat einzurichten:

„Diese Gesetze zügeln den Drang des Kapitals nach maßloser Aussaugung der Arbeitskraft durch gewaltsame Beschränkung des Arbeitstags von Staats wegen, und zwar von seiten eines Staats, den Kapitalist und Landlord beherrschen. Von einer täglich bedrohlicher anschwellenden Arbeiterbewegung abgesehn, war die Beschränkung der Fabrikarbeit diktiert durch dieselbe Notwendigkeit, welche den Guano auf die englischen Felder ausgoß. Dieselbe blinde Raubgier, die in dem einen Fall die Erde erschöpft, hatte in dem andren die Lebenskraft der Nation an der Wurzel ergriffen. Periodische Epidemien sprachen hier ebenso deutlich als das abnehmende Soldatenmaß in Deutschland und Frankreich.“ (S 253, 2. Absatz)

Um die Arbeiterklasse, hier „Lebenskraft der Nation“ funktional zu erhalten, gehören gewisse Freiheiten des Kapitals eingeschränkt und umgekehrt gesellschaftliche Kosten von Staats wegen übernommen. Allerdings steht das in Zeiten der Krise wieder alles zur Disposition ...

Das Knibbeln und Knabbern an Essenspausen der Fabrikarbeiter, das im Weiteren beschrieben wird, findet sich heute bei Handelsketten im Verbot von Rauchpausen oder „zu häufigen“ WC-Besuchen, und einer Einteilung der Arbeitszeit, die die Angestellten zwingt, über die vertragliche Zeit zum Zusammenräumen dazubleiben.
In der Industrie zeigt sich das an der Flexibilisierung der Durchrechnungszeiträume, die die Möglichkeit gibt, extralange Arbeitstage einzulegen, wenn die Auftragslage es nötig macht, ohne daß diese als Überstunden abgegolten werden müssen. Oder bei Lehrlingsarbeit.

Die Überarbeitung der in Arbeit stehenden während der Krise, die um so mehr ins Auge sticht, als die Arbeitslosigkeit daneben wächst (S 255-57), ist genauso wie heute Ergebnis der erhöhten Erpreßbarkeit der Lohnarbeiter in Zeiten der knappen Arbeitplätze.

Zu Punkt 3 finde ich nichts hinzuzufügen. Es ist einfach Anschauungsmaterial zur Gnadenlosigkeit der Ausbeutung, wenn ihr keine Schranken gesetzt werden.

 

4. Tag- und Nachtarbeit. Das Ablösungssystem

Zur ständigen Auslastung der Maschinen und da der Arbeitstag eben nicht auf 24 Stunden ausgedehnt werden kann, wird Schichtarbeit eingeführt. Die Kinderarbeit war eine Methode, sich Kosten zu sparen, weil die Kinder bzw. deren Eltern sich mit einem geringeren Lohn zufriedengeben mußten. All das hat sich im Grunde nicht geändert, nur teilweise in andere Weltgegenden verschoben. Wer sich heute über Kinderarbeit in Haití, Afrika oder sonstwo aufregt und zu Boykott aufruft, zeigt damit nur, daß er den Grund für den Hunger des Kapitals nach billigen Arbeitskräften nicht kennt oder wissen will. 

 

5 & 6: Der Kampf um den Normalarbeitstag

illustriert einerseits sehr ausführlich die Zustände, die als „Manchesterkapitalismus“ das abschreckende Zerrbild zur wohlfrisierten Marktwirtschaft von heute darstellen. Dabei müßte jedem aufmerksamen Leser auffallen, daß Unterschiede wohl in Handhabung und Verlaufsform des Klassengegensatzes staatgefunden haben, der Zweck der Produktion und auch der Hunger der Unternehmer nach Mehrarbeit gleich geblieben ist.

Zweitens zeigt Marx im 2. Teil dieses Punkt 5, daß es keinesfalls selbstverständlich ist, daß es eine gefügige Arbeiterklasse gibt, mit der die Unternehmer alles machen können. Es wird hier ein Teil dessen abgehandelt, was später im 24. Kapitel ausführlich dargestellt wird: Man muß nicht nur den Leuten alles wegnehmen, sondern sie auch dazu zwingen, mit grausamen Strafen, alle Arbeit anzunehmen, auch wenn sie damit gar nicht überleben können – das langsame Zu-Tode-Schinden muß immer noch die bessere Alternative zu Zwangsarbeit und Hinrichtung darstellen.
Hier zeigt sich die Rolle der Staatsgewalt bei der Herstellung des Kapitalverhältnisses, worauf dann, wenn dieses durchgesetzt ist, der zweite Teil folgt: die Regulierung desselben, worin sich der Punkt 6 erschöpft.

Die Fußnote 98 birgt den Keim einer Erklärung des Verbots der Kinderarbeit und der Einführung der Schulpflicht in sich: Abgesehen davon, daß die Bevölkerung zugrundegeht, wenn die Kinder an ihrer körperlichen Entwicklung gehindert werden, läßt sich auch mit einer Arbeiterklasse, die nicht weiß, wer im Land regiert und was der Unterschied zwischen Punkt- und Strichrechnung ist, kein Staat machen.  Die Akzeptanz der Unterwerfung ist erst vollkommen, wenn sie aus Überzeugung geschieht, und die Grundrechnungsarten sind die Voraussetzung, daß ein Proletarier mit Geld umgehen kann und mit seinem mickrigen Lohn bis zum Monatsende auskommen kann.

Weitere Erkenntnisse aus den 8. Kapitel:

Sklaverei und Lohnarbeit widersprechen sich vom Standpunkt des entwickelten Kapitalverhältnisses, aber die Sklaverei in Nordamerika war eine wichtige Bedingung zur Heranbildung des dortigen Proletariats – die Einwanderer waren mit einer Konkurrenz um Niedrigkeit des Lohns und und Ausdehnung des Arbeitstags konfrontiert, die jede Möglichkeit der Gegenwehr verunmöglichte:

„In den Vereinigten Staaten von Nordamerika blieb jede selbständige Arbeiterbewegung gelähmt, solange die Sklaverei einen Teil der Republik verunstaltete. Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird. Aber aus dem Tod der Sklaverei entsproß sofort ein neu verjüngtes Leben. Die erste Frucht des Bürgerkriegs war die Achtstundenagitation … (318, 2. Absatz)

Einiges wird hier auch noch angedeutet zu den Anfängen der Arbeiterbewegung, an der Marx und Engels durch die Gründung der Internationale einen entscheidenden Anteil hatten. Sie war in ihren Anfängen ein absolutes Notprogramm, auf bloßen Selbsterhalt, Überleben ausgerichtet:

„Man muß gestehn, daß unser Arbeiter anders aus dem Produktionsprozeß herauskommt als er in ihn eintrat. Auf dem Markt trat er als Besitzer der Ware »Arbeitskraft« andren Warenbesitzern gegenüber, Warenbesitzer dem Warenbesitzer. Der Kontrakt, wodurch er dem Kapitalisten seine Arbeitskraft verkaufte, bewies sozusagen schwarz auf weiß, daß er frei über sich selbst verfügt. Nach geschlossenem Handel wird entdeckt, daß er »kein freier Agent« war, daß die Zeit, wofür es ihm freisteht, seine Arbeitskraft zu verkaufen, die Zeit ist, wofür er gezwungen ist, sie zu verkaufen, daß in der Tat sein Sauger nicht losläßt, »solange noch ein Muskel, eine Sehne, ein Tropfen Bluts auszubeuten« Zum »Schutz« gegen die Schlange ihrer Qualen müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen. An die Stelle des prunkvollen Katalogs der »unveräußerlichen Menschenrechte« tritt die bescheidne Magna Charta eines gesetzlich beschränkten Arbeitstags, die »endlich klarmacht, wann die Zeit, die der Arbeiter verkauft, endet und wann die ihm selbst gehörige Zeit beginnt« “ (S 319/320)

 

Man kann diesem Zitat auch entnehmen, daß alle Freiheit, Bürger- und Menschenrechte nichts taugen, wenn man nix hat. Sie sind nichts als der schöne Schein der Konkurrenz, in die die verschiedenen Subjekte mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen hineingezwungen werden.

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*(1) Marx bezeichnet mit Gesamtkapitalist hier explizit die „Klasse der Kapitalisten“. Engels im Anti-Dühring (1878) bezeichnet damit den Staat: „Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist.“(3. Abschnitt, II. Theoretisches)

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