DAS HAAGER TRIBUNAL (ICTY)

 

Recht, Verfassung, Völkerrecht

Angesichts dessen, daß wir zweifelsohne in einem Rechtsstaat leben und das für jedermann der natürlichste Zustand von der Welt ist, wollen wir einmal ein paar einleitende Worte darüber verlieren, was Recht eigentlich ist.
Recht wird von einer Staatsgewalt eingerichtet. Das erste und wichtigste Requisit einer Rechtsordnung ist ein Gewaltmonopol. Ich kann dir kein Recht geben oder nehmen, weil wir beide gleichermaßen ohnmächtig sind. Soviel nur zu dem im Privaten leider weitverbreiteten Unsinn, wenn Leute einander traktieren mit so Phrasen wie: Dazu hast du kein Recht! Wer gibt dir das Recht?! usw.
Voraussetzung einer geltenden Rechtsordnung ist also totale Unterwerfung der Staatsbürger unter das Recht.
Wenn diese Grundvoraussetzung einmal gegeben ist, so werden Prinzipien in Anschlag gebracht, nach denen in Zukunft regiert werden soll: Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, und so weiter. Diese Prinzipien sind zwar für sich willkürlich, weil sie wurden ja einmal von jemandem festgesetzt und sind nicht vom Himmel gefallen. Wenn sie aber einmal in die Verfassung hineingeschrieben wurden, so sind sie gleichsam objektiv, und zwar erstens in dem Sinne, daß ihnen jeder unterworfen ist und die auf ihnen gründenden Gesetze zwingend sind. Objektiv aber auch zweitens in dem Sinne, daß es in der parlamentarischen Demokratie gleichgültig ist, wer jetzt gerade die Kommandohöhen der Macht innehat. Die gewählten Repräsentanten des Staates sind in den jeweiligen Legislaturperioden verpflichtet, diesen Prinzipien Geltung zu verschaffen, gegebenenfalls dafür Gesetze zu modifizieren und gegebenenfalls neue zu erlassen. Der demokratische Rechtsstaat macht sich so unabhängig, sowohl von der Subjektivität seiner jeweiligen Vollstrecker als auch von Wissensstand und Gemütsverfassung derer, die diesem Recht unterworfen sind: Die Begründung, man habe nicht gewußt, daß man etwas Verbotenes tut, wird vor Gericht nicht anerkannt.

Anders verhält es sich beim internationalen Recht. Dort gibt es dieses Gewaltmonopol nicht. Das wäre nur dann möglich, wenn es einen einzigen Weltstaat gäbe. Das hätten manche Politiker von Großmächten vielleicht gerne, aber die Realität sieht anders aus: Auf der internationalen Bühne treffen Souveräne aufeinander, und würden gerne die anderen auf ihre Prinzipien verpflichten, nach ihrer eigenen Rechtsauslegung. Diese anderen bringen dagegen ihre Rechtsauslegung in Anschlag und verwehren sich gegen diese „Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten“. Und so fristen jede Menge internationale Abkommen ein Schattendasein, da kein Staat der Welt sich an sie gebunden fühlt, sobald es seinen Interessen widerspricht.
Ein schönes Beispiel dafür sind die Menschenrechte. Die UNO hat seit ihrem Bestehen eine Menge Menschenrechtsresolutionen erlassen, die aber von keinem in der Weltpolitik tonangebenden Staat unterzeichnet sind. Die EU bezieht sich auf die europäische Menschenrechtskonvention von 1950, nach der auch das Straßburger Gericht Recht spricht. Die USA auf ihre Verfassung aus dem 18. Jahrhundert, und so weiter. Die einzigen, die diese UNO-Resolutionen ernst nehmen, sind NGOs wie Human Rights Watch und dergleichen. Sie klagen immer wieder an, wie wenig die Menschenrechte eingehalten werden, vorzugsweise natürlich in Staaten, die bereits aus anderen Gründen bei den wichtigen Mächten und damit auch der öffentlichen Meinung der demokratischen Staaten unangenehm aufgefallen ist.
Diese Schattengewächse der internationalen Konventionen dienen also als Berufungsinstanz und sind auch Gegenstand vieler Abhandlungen – in Kraft treten, sich Gültigkeit verschaffen tun sie nur dann, wenn eine außerordentliche Konstellation eintritt, wo sich mächtige Staaten zusammentun, sich gegen einen Staat verbünden, ihn seiner Souveränität berauben und sich diesen Akt auch noch rechtlich absegnen lassen wollen.

So war es beim Zustandekommen des Haager Tribunals.

 

Kriegsführung. Zivilbevölkerung. Der Begriff des „Kriegsverbrechens“

Bevor wir jetzt auf das Tribunal und seine Entstehungsgeschichte zu sprechen kommen, noch ein paar Bemerkungen zu Krieg und Kriegsverbrechen.
Kriege gibt es dauernd, und man ist auch dank der Medien immer hautnah dabei. Und eines ist der Kriegsberichterstattung seit eh und je gemeinsam: Sie werden als Verstöße gegen einen angeblich normalen Zustand des Weltfriedens behandelt. Also: es kracht irgendwo und die Fragerei geht los: Wie konnte es dazu kommen? Wer ist schuld? Welche friedensstiftende Instanz hat versagt? Dürfen die das? und in der folgenden Berichterstattung über den Verlauf der Auseinandersetzung geht es ähnlich weiter: Über die Gründe des Krieges erfährt man nichts, dafür über schnöde Eigeninteressen irgendwelcher Oberhäupter, „Hintermänner“, die bösartig ethnische Spannungen für sich ausnützen, – gegebenenfalls, wenn es sich z.B. um Palästinenser oder Afghanen handelt, so erfährt man beiläufig, die Opfer seien eigentlich selber schuld gewesen, dann wieder wird der unverhältnismäßige Waffengebrauch bemängelt, und nie fehlen darf die Bemerkung, es hätte wieder einmal völlig unschuldige Opfer unter der Zivilbevölkerung gegeben.

Kriege werden geführt, um einen fremden politischen Willen zu brechen. Darum geht es in Afghanistan – den der Taliban, in Sri Lanka – den der Tamilentiger, im Irak – erst den Saddam Husseins, denn den jeder anderen Bewegung, die sich der Besatzung durch die USA widersetzt. Darum ging es auch in Jugoslawien – die eine Seite wollte den Separatismus der Teilrepubliken niederringen, die Interventionen des Auslands dienten dann dazu, diesen Selbstbehauptungswillen des Gesamtstaates zunichte zu machen.
Bei all diesen Auseinandersetzungen ist die Zivilbevölkerung selbstverständlich Ziel der Angriffe, und jede Menge „unschuldige“ Opfer, um die dann mediale Krokodilstränen vergossen werden können, sind einkalkuliert und gewollt. Damit wird der einen Seite von der anderen mitgeteilt: Ich richt dir deine Bevölkerung zugrunde, und dann stehst du da und hast gar nix mehr! Die gesamte Bevölkerung eines mit Krieg überzogenen Staates ist selbstverständlich Ziel von Angriffen, damit soll die Staatsmacht ja erpreßt werden.
Das Gejammer über die zivilen Opfer ist also erstens sehr dumm und tut so, als wäre ein Krieg sowas wie ein mittelalterliches Turnier, wo die Kämpfer mit eingelegter Lanze aufeinander losgehen und der Rest schaut gespannt zu und applaudiert, und hin und wieder läßt ein holdes Mägdelein ein Taschentuch oder einen Handschuh fallen. Zweitens ist es verlogen und parteilich, weil es die Sichtweise beinhaltet und verbreitet, als wäre Krieg an und für sich eine ehrenwerte Sache, wenn nur die Spielregeln eingehalten würden.

Ja, wenn ... !

Aus dieser Mischung aus Propaganda, Lüge und Parteilichkeit entsteht dann der Begriff des Kriegsverbrechens. Dabei wird – notwendigerweise sehr willkürlich – festgelegt, welche Kriegshandlungen unter allen möglichen Gesichtspunkt rechtmäßig und welche unrechtmäßig sind. Es werden also genaugenommen Regeln für richtiges Töten entworfen, ähnlich wie auf einem Schlachthof. Und so etwas Ähnliches ist ein Kriegsschauplatz ja auch.
Richtlinien für das sachgerechte und anständige Umbringen von Menschen im Krieg sind in der Haager Landkriegsordnung von 1907 – das internationale Gremium, das sie erließ, hieß übrigens „Friedenskonferenz“ – festgelegt. Die Haager Landkriegsordnung bezieht sich ausdrücklich nur auf zwischenstaatliche Konflikte. Erst durch die Anerkennungspolitik des Auslandes wurden die Kampfhandlungen in Jugoslawien von inneren zu internationalen Konflikten, und deshalb kann die Haager Landkriegsordnung als Grundlage für die Rechtsprechung des Gerichtshofes herangezogen werden.

 

Die Entstehung und die Vorgangsweise des Haager Tribunals

In Wikipedia steht:

„Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien mit Sitz in Den Haag ist ein durch Resolution 827 des UNO-Sicherheitsrats vom 25. Mai 1993 geschaffener Ad-hoc-Strafgerichtshof.“

Diese letztere Formulierung (Ad-Hoc)weist darauf hin, daß dieses Tribunal aus Anlaßfall ins Leben gerufen wurde und im Nachhinein Dinge zu Straftaten erklärt. Dazu noch später einiges, zu den Besonderheiten dieses Gerichtshofes.
Diese Resolution wurde auch von China und Rußland gebilligt, die eigentlich kein Interesse am Zerfall Jugoslawiens hatten, aber damals sehr an Kooperation mit Europa und den USA interessiert waren. Es war vermutlich den meisten Unterzeichnern nicht bewußt, welche Maßnahmen sie damit gebilligt hatten und wie sich das Tribunal entwickeln würde.
Rußland war außerdem ein relativ neues Mitglied des Sicherheitsrates, das erst eineinhalb Jahre vor Verabschiedung dieser Resolution die Rechtsnachfolge der Sowjetunion angetreten hatte. Es wollte, das war überhaupt die Außenpolitik Rußlands in der Era Jelzin, keineswegs als Störenfried der Weltordnung auftreten und sagte daher gerne Ja und Amen zu allem möglichen.

Grundlage für das Tribunal ist das Kapitel 7 über zu ergreifende Maßnahmen zur Sicherung des Weltfriedens. Das Haager Tribunal ist der erste Gerichtshof dieser Art seit den Nürnberger Prozessen gegen Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten.

Im Abkommen von Dayton, das 1995 den Bosnienkrieg beendete, verpflichteten sich die Unterzeichner Tudjman für Kroatien, Milošević für Restjugoslawien und Izetbegović für Bosnien, das Tribunal anzuerkennen und mit ihm zusammenzuarbeiten, also sowohl vom Tribunal zur Verhaftung ausgeschriebene Personen zu verhaften und nach Den Haag auszuliefern als auch alle Dokumente zur Verfügung zu stellen, die das Gericht für die jeweiligen Prozesse anfordert. Damit erhielt das Haager Tribunal, von dem man bis dahin noch nicht viel vernommen hatte, erst eine politisch-rechtliche Grundlage.

Dieses Gericht weist einige Besonderheiten auf, die sich eben aus dem widersprüchlichen Charakter des Völkerrechts ergeben. Darüberhinaus ist es jedoch nach angelsächsischem Recht eingerichtet, das keine Gewaltenteilung und Unschuldsvermutung kennt. Im angelsächsischem Recht gilt die Schuldumkehr: der Angeklagte muß seine Unschuld beweisen.

Da die UNO-Charter das Einrichten von Gerichtshöfen nicht vorsieht, so hat das Haager Tribunal die Aufgabe, sich seine eigenen Statuten zu geben, seine Prozeßordnung zu schaffen, die Tatbestände selbst festzusetzen, die Gegenstand von Verfolgung sein sollen. Das widerspricht dem in der kontinentalen Rechtsprechung üblichen Prinzip der Gewaltenteilung. Legislative und Judikative fallen in eins.

Die Unschuldsvermutung gilt nicht. Der Grundsatz, daß jeder Angeklagte bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig zu gelten hat, wird fortwährend gebrochen, wenn z.B. vom „flüchtigen Kriegsverbrecher Ratko Mladić“ die Rede ist. Als Milošević gestorben ist, hat es geheißen, er habe sich durch seinen Tod der Verurteilung entzogen. Sein Ableben wurde ihm sozusagen auch noch als Verbrechen angelastet.
Bei vielen prominenteren serbischen Angeklagten gilt also die Anklage bereits als Schuldspruch, und der Prozeß nur als das – leider notwendige – Prozedere zur Vollstreckung dieses Schuldspruchs. Es findet also ständig und öffentlich eine Vorverurteilung statt.

Auch der Grundsatz, daß eine Handlung zum Zeitpunkt ihrer Begehung und den damals geltenden Landesgesetzen strafbar gewesen sein muß, um strafrechtlich verfolgt werden zu können, gilt bei dem Haager Tribunal nicht und es werden immer wieder rückwirkend Tatbestände gegen einzelne Angeklagte in Anschlag gebracht.

Man muß übrigens verstehen, was das für die betroffenen Personen und Staaten bedeutet, wenn gegen jemanden vom Haager Tribunal ein Haftbefehl ausgestellt wird, und das gilt für alle Nationalitäten und Nachfolgestaaten Jugoslawiens: Da werden Leute, die in ihrem eigenen Selbstverständnis – das oft von großen Teilen der Bevölkerung geteilt wird – alles für ihre Volksgruppe, ihr wie immer begriffenes Vaterland getan haben, echte Patrioten also, ein ansonsten ja hochgeschätzter Typus Mensch – diese Leute werden als Verbrecher gesucht, und das eigene Vaterland, das ihnen ja viel verdankt, muß sich zum Erfüllungsgehilfen des Tribunals machen und diese Patrioten an einen internationalen Gerichtshof ausliefern, dem diese Verdienste um ihre Volksgemeinschaft gleichgültig sind.

Ein serbischer Politiker, der zur Verhaftung ausgeschrieben war, hat sich auf den Stufen der Skupschtina, des Parlaments in Belgrad, erschossen. Dieser Vlajko Stojilković wird übrigens auf der offiziellen Website vornehm als: „Beschuldigter starb vor Überstellung an den Gerichtshof“ geführt.

Den Mann, der verantwortlich war für die Auslieferung Miloševićs, hat das das Leben gekostet. Zoran Djindjić wurde weniger als 2 Jahre später erschossen.

Über das Auslieferungsbegehr für den kroatischen Ex-General Ante Gotovina ist fast die kroatische Regierung gestürzt. Seine Festnahme erfolgte dann in Spanien, da sich auch die nächste kroatische Regierung ihrer Behörden gar nicht sicher genug war, um diese Verhaftung in Kroatien über die Bühne zu bringen. An den nachfolgenden Protesten und Ausschreitungen gegen seine Auslieferung sollen in Kroatien mehr als 50.000 Personen teilgenommen haben.

 

Einige Fälle

Die Eigenarten der Rechtsprechung des Haager Tribunals und den politischen Charakter seiner Anklagen und Urteile wollen wir jetzt anhand einiger Fälle darstellen.

 
1. Serbische Politiker als Vertreter einer Staatsraison, die bekämpft gehört:

Da ist einmal Slobodan Milošević, der dafür vor Gericht gestellt worden ist, daß er als Staatsmann seinen Staat so gut es ging zusammenhalten wollte. Louise Arbour, die damalige oberste Anklägerin – bei normalen Gerichten heißt so jemand Staatsanwalt, aber da dieses Gericht ja keinen Staat repräsentiert, so mußte man da einen neuen Titel erfinden –, diese Louise Arbour also hat die Anklage gegen ihn und einige andere serbische Politiker während des Bombardements gegen Jugoslawien erstellt. Sie hat ohne weiteres zugegeben, daß sie den Auftrag dazu von der amerikanischen Regierung erhalten hat, und diese Richterin aus Kanada war sehr stolz darauf, ihn auch gewissenhaft ausgeführt zu haben, größtenteils mit Material, das ihr von US-Behörden zur Verfügung gestellt worden ist, wie sie in Interviews  erzählt hat. Es war eine echte Premiere: Erstmals wurde ein amtierendes Staatsoberhaupt vor einem UN-Gerichtshof angeklagt. Eine echte Herausforderung für einen Juristen!
Es war dem Gericht gar nicht recht, daß Milošević seine Verteidigung selbst in die Hand genommen hat. Entgegen den Meldungen, die nach seinem Tod zirkuliert sind, war seine Verurteilung keine ausgemachte Sache, und es war den Juristen bei Tribunal gar nicht unangenehm, daß er ihnen durch sein Ableben vielleicht eine Blamage erspart hat. Das wär was gewesen! Erst ihn zum Bösewicht stilisieren, dann vor Gericht stellen und am Ende freisprechen müssen!        

Interessant waren beim Prozeß Miloševićs die Auftritte von Zeugen der Anklage, wie der des inzwischen verstorbenen kosovarischen Politikers Ibrahim Rugova. Rugova hat ausgesagt, daß Milošević die Kosovo-Albaner immer unterdrückt und verfolgt hat. Da hat Milošević ihn gefragt: Na, als das Bombardement Kosovos 1999 losgegangen bist, hast du mich, den schlimmen Unterdrücker aber angerufen und gesagt: Hilfe! Die Leute von der UÇK wollen mich und meine Familie umbringen, um sich für den folgenden Machtkampf Rivalen aus dem Weg zu schaffen. (Rugova wäre nicht der erste LDK-Politiker gewesen, der von der UÇK eliminiert wurde.) Und da habe ich meine Leute, Spezialtruppen nämlich, zu dir hingeschickt und dich und deine ganze Familie nach Belgrad evakuiert! Kein Wort wahr! hat Rugova in Den Haag protestiert. Aha, ich lüge also, hat Milošević geantwortet. Warum bist du dann damals mit mir im Belgrader Fernsehen aufgetreten?
Rugova beantwortete diese Frage nicht.

Ein weiterer Zeuge der Anklage war der ehemalige slowenische Staatschef Milan Kučan. Auch Kučan bezeichnete Milošević als Unterdrücker. Daraufhin wies Milošević das Tribunal und dadurch auch die Öffentlichkeit darauf hin, daß das unabhängige Slowenien seit über einem Jahrzehnt verschiedenen seiner Bewohner, die aus anderen Teilen Jugoslawiens stammten, mit fadenscheinigen Gründen die Staatsbürgerschaft verweigerte. Diese sich auf mehrere Tausend Personen belaufenden „Unsichtbaren“ oder „Nicht-Existenten“ aus Bosnien, Serbien, Kroatien usw. konnten ihre Kinder nicht in die Schule schicken, das Gesundheitswesen offiziell nicht in Anspruch nehmen, sie erhielten keine Arbeitsgenehmigung und sollten offensichtlich aus Slowenien hinausgegrausigt werden.
Nach diesem Auftritt Kučans in Den Haag änderte Slowenien rasch die Gesetzeslage und bürgerte die Betroffenen ein, da es sonst nicht in die EU aufgenommen worden wäre. Der EU-Kommission waren solche Zustände dann doch etwas zu stark. Selber nachschauen gegangen wären ihre Repräsentanten aber nicht ...

Eine Zeitlang betrieb das Tribunal eine Kronzeugenregelung. Das heißt, es wurden Angeklagten mildere Strafen und Haftbedingungen zugesagt, wenn sie andere Angeklagte belasten. Diese offensichtliche Anstiftung zur Unwahrheit, um seine eigene Haut zu retten, wurde der Öffentlichkeit präsentiert als Menschlichkeit gegenüber reumütigen Tätern, die die Unrechtmäßigkeit ihres eigenen Handelns eingesehen hätten.
Eine Person, die sich auf diesen Kuhhandel mit dem Gericht eingelassen hat, ist Biljana Plavšić, ehemalige Präsidentin erst Bosniens, dann der Republika Srpska. Während des Bosnien-Krieges galt sie als extremistisch-nationalistischer als Radovan Karadzić. Sie pflegte gute Beziehungen zu Željko Raznjatović, „Arkan“, dem berüchtigten Tschetnik-Anführer. Sie hat Milošević dahingehend belastet, für die ethnischen Säuberungen in Bosnien verantwortlich zu sein – klarerweise, um ihre eigene Verantwortung auf ihn abzuwälzen. Sie saß lange in einem Gefängnis in Schweden. Ihr Antrag auf vorzeitige Haftentlassung (sie ist inzwischen 79) wurde 2008 von den schwedischen Behörden zurückgewiesen. Sie wurde schließlich im Oktober 2009 entlassen.
Ein weiterer Kronzeuge im Prozeß gegen Milošević war Milan Babić, der ehemalige Präsident der Krajina. Er hat in seiner Zeugenaussage gegen Milošević behauptet, dieser habe die Politik in der Krajina von Belgrad aus gesteuert – auch ein offensichtlich eigennütziger Versuch, Verantwortung von sich auf Slobo zu übertragen. Babić wurde 2004 zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. In Serbien wurde er allgemein als Verräter angesehen. 2006 wurde er aus einem ausländischen Gefängnis wieder nach Den Haag geholt, um im Prozeß gegen Milan Martić auszusagen. Er wurde am 5. März tot in seiner Zelle gefunden. Angeblich hat er sich erhängt.
Spätestens mit dem Selbstmord vom Milan Babić war die Kronzeugenregelung irgendwie auf Grund gelaufen. Es war abzusehen, daß sich kein weiterer Angeklagter dafür zur Verfügung stellen würde.
Milošević starb 6 Tage später. Die Frage, ob da nachgeholfen wurde, gehört ins Reich der Spekulation. Tatsache ist jedenfalls, daß sein Tod dem Gericht nicht ungelegen kam.

Milan Martić ist ein Separatist, der auf der falschen Seite stand. Vor den kriegerischen Auseinandersetzungen war er Polizeichef von Knin, von 1991 bis 1995 hatte er verschiedene politische und militärische Funktionen in der Krajina inne.
Der Versuch von Babić, Martić und anderen, die Krajina zu einem autonomen Gebiet zu erklären und von Kroatien loszulösen, hat im Ausland nie Sympathien gefunden. Spätestens mit der Anerkennung Kroatiens war klar, daß die Politiker der Krajina unrechtmäßige Machthaber waren, „selbsternannt“! – lies: nicht in Berlin oder Washington, Usurpatoren eben. Auch die Vertreibung der serbischen Bevölkerung der Krajina 1995 lief nicht unter „ethnische Säuberung“ durch die Weltpresse, es wurden auch keine Huchs! und Hachs! wegen der Schädigung der Zivilbevölkerung laut. Dabei war es die größte Vertreibung in Europa seit 1945 – 200.000 Menschen verließen im Zuge der „Operation Sturm“ die Krajina, und die kroatischen Regierungen taten in Folge alles, um ihre Rückkehr zu verhindern.
Milan Martić wurde 2007 zu 35 Jahren Haft verurteilt. Er habe sich an einem „verbrecherischen Unternehmen“ beteiligt, mit dem Ziel, eine ethnisch gesäuberte serbische Provinz in Teilen Kroatiens und auch Bosniens zu errichten.

Es gibt auch bei Serben Freisprüche. So wurde im Februar dieses Jahres Milan Milutinović, der ehemalige Präsident Serbiens, von allen gegen ihn gemachten Anschuldigungen bezüglich Vertreibungen und Morden im Kosovo freigesprochen. Die ursprüngliche Anklage gegen ihn wurde 1999 während des NATO-Krieges gegen ihn erhoben, seither wurden noch weitere Anklagepunkte hinzugefügt. Im Jänner 2003 stellte er sich dem Tribunal freiwillig.
Es ist nicht so recht möglich, herauszufinden, was gegen ihn vorlag und wie der Prozeß abgelaufen ist. Es wurde schließlich festgestellt, daß sein Amt eher aus protokollarischen Funktionen bestand und er keinerlei Entscheidungsgewalt hatte. Um das herauszufinden, mußte er 6 Jahre im Gefängnis verbringen. Das hat man davon, wenn man im falschen Staat in eine falsche Regierung eintritt!

Schließlich gibt es noch den Vojislav Šešelj, bekennender Tschetnik und Gründer und immer noch Vorsitzender der Radikalen Partei Serbiens. Šešelj hat sich 2003 freiwillig gestellt. Ihm wird die Gründung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen, die systematisch Vertreibungen und Morde gegen nicht-serbische Minderheiten durchgeführt haben soll. Der Vorwurf der„ Volksverhetzung“ wird gegen ihn in Anschlag gebracht, ein im Nachhinein eingeführter Tatbestand, den es in Jugoslawien nicht gab. Wenn ihm also auch keine unmittelbaren Gewalttaten nachgewiesen werden können, soll er aufgrund „geistiger Urheberschaft“ dennoch verurteilt werden können.
Šešelj ist Jurist, er verteidigt sich selbst. Um diese Selbstverteidigung durchzusetzen, ging er in Hungerstreik. Das Gericht hätte es natürlich lieber gesehen – vor allem nach den Erfahrungen im Milošević-Prozeß –, wenn Šešelj ein Pflichtverteidiger zugeteilt worden wäre, der pro forma Verteidigungsaufgaben wahrnimmt, in Wirklichkeit aber den Standpunkt des Gerichtes vertritt.
Das Anliegen Šešeljs, den Prozeß im serbischen Fernsehen zu übertragen, wurde von Seiten des Gerichts durch technische Hindernisse verunmöglicht, da sich die Weigerung juristisch nicht begründen ließ.
Šešelj hat alle Anklagepunkte gegen ihn entkräftet. Der Prozeß wurde kurz vor seinem geplanten Ende abgebrochen, und auf unbestimmte Zeit vertagt. Begründung: Šešelj hätte in einem kürzlich veröffentlichten Buch gegen ihn aufgetretene Zeugen schlecht gemacht, gefährdet und damit sich des Vergehens der Zeugeneinschüchterung schuldig gemacht, sowie der damit einhergehenden „Mißachtung des Gerichts“. Ein scharfer Vorwurf gegen einen Menschen, der seine Verachtung gegenüber dem Gericht öfter so ausgesprochen hat, daß er gesagt hat, sie können ihm alle den Schwanz abschlecken ...
Man hat den Eindruck, bei Šešelj wartet das Gericht auch drauf, daß er wie Milošević einen natürlichen Abgang macht. Eine Verurteilung kriegt das Haager Tribunal anscheinend nicht hin, aber ihn freisprechen geht natürlich auf keinen Fall.

Im Juli 2008 ist – endlich, endlich! – der lange gesuchte Radovan Karadžić von der serbischen Regierung an Den Haag ausgeliefert worden. Karadžić wurde über Jahre hinweg derart dämonisiert, daß es vielleicht angebracht ist, einmal darauf hinzuweisen, wie die politische Karriere dieses Mannes verlaufen ist.
Karadžić stammt aus Montenegro und kam als Halbwüchsiger nach Bosnien. Als erster Vorsitzender der 1990 gegründeten Serbischen Demokratischen Partei sah er seine Aufgabe darin, die Serben Bosniens und ganz Jugoslawiens vor einer in seinen Augen drohenden Re-Islamisierung des Balkans zu bewahren, mit allen Mitteln.
Da dieses Anliegen heute als wahnsinnig und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt, wollen wir einmal zur Sprache bringen, wie er auf das kam:
Alija Izetbegović, der Präsident Bosniens, war in seiner Jugend, als Bosnien zum kroatischen Ustascha-Staat gehörte, Mitglied der „Jungen Muslime“, der Jugendorganisation der 1928 in Ägypten gegründeten Moslembrüderschaft. Das ist auch kein Geheimnis, heute heißt eine Straße in Sarajewo die „Straße der jungen Muslime“, und Izetbegović hat sich nie davon distanziert. Später, in Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten, gab er eine illegale Schrift mit dem Namen „Islamische Deklaration“ heraus, in der die Trennung von Staat und Religion aufgehoben, eine muslimische Großmacht auf dem Balkan ins Leben gerufen und die Scharia eingeführt werden sollte. Die „Islamische Deklaration“ war durch Khomeinis „Islamischen Staat“ inspiriert, und erschien im gleichen Jahr oder ein Jahr darauf. Diese Schrift, die ihm in den 80-er Jahren politische Verfolgung in Jugoslawien einbrachte, wurde Anfang der 90-er Jahre in Sarajewo erneut, diesmal legal, publiziert.
Diesbezügliche Vorstellungen wurden ihm nach dem Eingreifen des Auslands in den bosnischen Konflikt verboten, daran mußte er sich notgedrungen halten, wenn er nicht auf die Unterstützung des Westens verzichten wollte. Seither galt Izetbegović in den Medien als „gemäßigt“, man fragt sich nur, im Vergleich zu wem?
Unbestritten ist jedenfalls, daß während des Bosnienkrieges ein Zustrom an Mudjaheddin nach Bosnien stattfand und daß Izetbegović sogar mit Bin Laden verhandelte – lauter Dinge, die erst nach 9-11 ins Licht der medialen Öffentlichkeit rückten.

Karadžić gründete die Republika Srpska als eigene Entität Bosniens. Dieses Lebenswerk besteht noch heute, zum Ärger der westlichen Ordnungsmächte. 1996, nach Dayton, zog er sich aus der Politik zurück, angeblich nach dem Ehrenwort Richard Holbrookes, daß er dann keiner politischen Verfolgung ausgesetzt würde.
Schon 1995 wurde Anklage gegen ihn erhoben, 1996 ein öffentlicher Haftbefehl gegen ihn ausgestellt.
In den Versuchen, Karadžić zu finden, gingen die SFOR-Truppen in Bosnien nicht gerade mit Samthandschuhen vor. Auch in Montenegro versuchten sie seine Verwandten einzuschüchtern. Sein Sohn wurde einmal verhaftet und verprügelt, um ihm Informationen zu entlocken oder einfach Terror zu machen. Seine Frau hat schon einmal einen öffentlichen Aufruf an ihn gerichtet, sich doch zu stellen, damit die Familie endlich eine Ruhe hat.
Karadžić ist im Grunde ein Mann ohne Freunde. In Bosnien hat er kaum mehr Anhänger, nach 13 Jahren Abwesenheit. In Serbien hatte er nie besonders viele, vor allem, nachdem die bosnischen Serben den Vance-Owen-Plan zur Teilung Bosniens abgelehnt hatten, was für Jugoslawien ein Aufrechtbleiben der Sanktionen bedeutete.
Ihn an das Haager Tribunal auszuliefern, stellte daher für die serbische Regierung kein innenpolitisches Risiko dar, und sollte ihre pro-europäische Linie beweisen und unterstreichen.
Es ist möglich, daß der kommende Prozeß gegen ihn dazu verwendet werden wird, gegen die Republika Srpska Stimmung zu machen, um ihre Politiker zur Selbstaufgabe zu nötigen. Sofern es überhaupt zu einem Verfahren gegen ihn kommt. Wie man an Milutinović und Šešelj erkennen kann, können Leute beliebig lange in Den Haag eingesperrt werden, wenn es dem Tribunal so beliebt, und müssen nicht vor Gericht gestellt oder verurteilt werden.

Eine Person größeren politischen Gewichts ist der ehemalige Militärchef Bosniens Ratko Mladić, der zur Entrüstung der medialen Öffentlichkeit noch immer nicht in Den Haag gelandet ist.
Er wird, so unsere These, dort auch nicht hingelangen.
Mladić wird für fast alle Kriegshandlungen im Bosnien-Krieg verantwortlich gemacht, vor allem für die Massenerschießungen von Srebrenica.

Angesichts dessen, wofür „Srebrenica“ in der Besprechung des Bosnienkrieges steht, – eine „unfaßbare Greueltat“ „der Serben“ –, ist es angebracht, einmal darauf einzugehen, was dort eigentlich los war.

Es ging um Territorialgewinne in Ostbosnien. Der inzwischen zu einer serbischen Truppe gewordenen Ex-Bundesarmee war  spätestens Anfang 1995 klar geworden, dass eine Wiedereroberung Bosniens nicht mehr möglich war, sondern eine Teilung Bosniens das einzig realistische Ziel war. (Es gab wiederholte Verhandlungen zwischen Kroatien und Serbien, Bosnien unter sich aufzuteilen, die jeweils Kroatien durch EU und USA verboten wurden.) Sie wollte daher möglichst viel Territorium unter ihre Kontrolle bringen. Die letzten 3 von muslimischer Seite gehaltenen Ortschaften waren Srebrenica, Žepa und Goražde. Im mit muslimischen Flüchtlingen überfüllten Srebrenica hatte 1993 eine Evakuierung begonnen. Diese wurde von der bosnischen Führung in Sarajevo gestoppt, da Izetbegović und seine Berater einen Präzedenzfall, ähnlich dem kroatischen Vukovar, schaffen wollten, der das Ausland zur direkten militärischen Intervention veranlassen sollte – ein Plan, der aufgegangen ist, wie man heute sagen kann. Unter den in Srebrenica Gestrandeten, aber auch den militärischen Verteidigern fand dieses Ansinnen keineswegs ungeteilte Zustimmung: es war ihnen klar, dass sie damit als Bauernopfer in einem größeren Schachspiel eingesetzt wurden.
Schließlich, als Srebrenica 1995 eingeschlossen war, stellten die serbischen Belagerer ein Ultimatum: Ergeben, bei freiem Geleit, oder ... die Drohung blieb offen. Bei den anschließenden gewalttätigen Auseinandersetzungen in Srebrenica, zwischen Befürwortern einer Kapitulation und Anhängern eines Endkampfes soll es auch einiges an Toten gegeben haben – dieser Umstand ist bis heute ein Tabuthema. Srebrenica wurde eingenommen. An den Tausenden von Männern, die danach von den Eroberern hingerichtet wurden, sollten ihrerseits ein Exempel statuiert werden: Die Eroberer wollten zeigen, wie es Leuten ging, die sich nicht freiwillig ergaben. Unmittelbar ging die Rechnung auf: Žepa ergab sich einige Tage später. Dann jedoch wurde der Vormarsch der serbischen Truppen durch das  Eingreifen der NATO und des kroatischen Militärs gestoppt.
Die Entscheidung, durch die Erschießung einiger Tausend Menschen das Kriegsglück auf die Seite der serbischen Armee zu zwingen, wurde sicher nicht von einem Mann alleine getroffen. Es ist übrigens gar nicht sicher, sondern wird immer nur behauptet, daß sie von Mladić getroffen worden sei. Auf Beweise wartet man bis heute vergeblich.

Ratko Mladić wird aller Wahrscheinlichkeit nie nach Den Haag ausgeliefert: Er ist nämlich Geheimnisträger. Er kennt die verschiedenen Militärdoktrinen: Diejenige Ex-Jugoslawiens, die Modifikationen durch die Separationskriege, und wahrscheinlich auch diejenige des heutigen Serbien. Seine Auslieferung käme einer militärischen Selbstaufgabe gleich.*1

 

2. Gute Gewalttäter

Kommen wir zur anderen Seite der Angeklagten des Haager Tribunals, denjenigen Gewalttätern, die auf der richtigen Seite gestanden sind, der der Separatisten nämlich.
Da ist einmal der Bosnier Kommandeur Nazer Orić, der von 1992 bis 1995 Oberkommandierender der muslimischen Truppen in Srebrenica und Umgebung war. Vor der Eroberung Srebrenicas wurde er im Hubschrauber evakuiert. Ihm wurden ethnische Säuberungen serbischer Dörfer sowie Misshandlungen und Ermordung serbischer Zivilisten in den Jahren 1992 und 93 vorgeworfen.  Er wurde zu 2 Jahren Haft für Unterlassungen verurteilt, die von den mehr 3 Jahren Untersuchungshaft abgezogen wurden und sofort nach der Urteilsverkündung auf freien Fuß gesetzt. Von jeder weiteren Verantwortung wurde er freigesprochen, da seine Stellung als militärischer Kommandant  ihm keine de facto Kontrolle über die Handlungen der diversen irregulären Einheiten gab, die die inkriminierten Morde, Plünderungen, Vertreibungen usw. verübten.
Für diejenigen, die jetzt erst eingeschaltet haben, möchten wir noch einmal erklären, dass es nicht darum geht, dass Orić strenger bestraft hätte werden sollen oder wir die Rechtspraxis des Haager Tribunals für ungerecht halten. Sondern es geht darum, aufzuzeigen, wie das politische Urteil, das die Grundlage dieses Tribunals ist, in Rechtsprechung umgesetzt wird.

Ein weiterer Fall, an dem sich das zeigen lässt, ist der Fall des aus Bosnien stammenden kroatischen Generals Tihomir Blaškić. Am Falle Blaškićs ist interessant, dass die Ausschreitungen, die ihm zur Last gelegt wurden, nicht gegen Serben, sondern gegen Muslime verübt wurden.
Blaškić war Oberkommandierender der kroatisch-bosnischen Armee in einem Teil der Herzegovina, im Lašva-Tal. Als der Vance-Owen-Plan  zur Teilung Bosniens in 3 verschiedene Einheiten – dessen Umsetzung an der Weigerung der bosnischen Serben scheiterte  – in Ausarbeitung war, bemühte sich die kroatische militärische Leitung Bosniens, möglichst viel Territorium unter ihre Kontrolle zu bringen und von der muslimischen Bevölkerung zu säubern. Dies hatte großflächige Vertreibungen und Morde im Lašva-Tal zur Folge.
Blaškić stellte sich 1996 dem Tribunal und wurde 2000 zu 45 Jahren verurteilt, eines der höchsten vom Haager Tribunal ausgesprochenen Strafmaßes. Seiner dagegen eingelegten Berufung wurde 2004 stattgegeben und das Strafmaß auf 9 Jahre reduziert. Begründung (Zitat aus Wikipedia) „Er habe teilweise legitime militärische Ziele verfolgt, teilweise Befehle von anderen hochrangigen Personen entgegengenommen und ausgeführt. Außerdem könne man zahlreiche Sachverhalte nicht unzweifelhaft aufklären. 16 von 19 Anklagepunkten wurden für nichtig erklärt.“ Er wurde im August 2004 entlassen. Zitat aus einer Website: „Die Berufungsrichter erinnerten daran, dass das Verfahren im Fall Blaškić unter anderem so lange dauerte, weil das nationalistische Regime unter Präsident Franjo Tudjman wenig kooperativ war. Nach dem Tod Tudjmans im Frühling 2000 erlangten die Anwälte von Tihomir Blaškić Zugang zu Dokumenten des kroatischen Nachrichtendienstes, welche bis zu dahin geheim gehalten worden waren. Aufgrund dieser Dokumente konnten einige Anklagepunkte gegen Blaškić entkräftet werden. Die Anwälte waren der Überzeugung, dass die Dokumente absichtlich geheim gehalten wurden, um jede Verbindung Zagrebs zum Konflikt in Zentralbosnien zu verwischen.“
Blaškić wurde in Zagreb ein triumphaler Empfang bereitet. Es ist nicht klar, wo er heute lebt und was er macht.
Der politische Hintergrund zu diesem Hin und Her von Verurteilung und Rehabilitation ist folgender:
In Dayton wurden die Kroaten Bosniens in die Föderation mit der muslimischen Führung gezwungen. Der Traum eines Groß-Kroatiens musste – zumindest auf dem Papier – aufgegeben werden. Das erklärte Ziel der bosnischen Kroaten zur Vereinigung der Herzegovina und anderer Teile Bosniens mit Kroatien wurde von den maßgebenden imperialistischen Mächten verboten. Beide Seiten – sowohl die kroatische Führung als auch die bosnischen Kroaten – hielten aber eine Zeitlang weiterhin an diesem Ziel fest. In den 90-er Jahren ermöglichte die Regierung Tudjman problemlos die kroatische Staatsbürgerschaft für alle außerhalb der Grenzen Kroatiens lebenden Kroaten. Diese Maßnahme galt in erster Linie den Kroaten Bosniens, es machten aber auch kroatische Minderheiten in Rumänien davon Gebrauch, sowie Auslandskroaten der zweiten und dritten Generation in Australien, den USA, Kanada, Argentinien usw. Die kroatischen Mitglieder der föderativen Regierung hintertrieben die Idee eines einheitlichen Bosniens jahrelang. Ein schönes Beispiel dafür war Mostar, wo die Kroaten lange die Teilnahme der Muslime im Stadtrat behinderten. (Die Serben Mostars waren bereits zu Beginn des Konfliktes, 1992, vertrieben worden.)
Heute ist dieses Groß-Kroatien Geschichte. Die Mehrheit der Kroaten Bosniens ist aus Bosnien verschwunden,  nach Kroatien oder ins fernere Ausland. Viele von ihnen haben sich in der ziemlich serbenfreien kroatischen Krajina angesiedelt.
In diesem Kontext ist der Prozeß gegen Blaškić zu verstehen. Mit dem Tod Tudjmans wurde das Ziel Großkroatiens begraben und damit konnte Blaškić rehabilitiert werden: Die in der Herzegovina begangenen Morde und Vertreibungen sollten ihm nicht angelastet werden. Anderen übrigens, aus Mangel an betreffenden Daten, auch nicht. Sie sind Geschichte.

Schließlich zeigt sich auch der politische Ausrichtung des Haager Tribunals in der Behandlung von Kosovo-Albanern: Gegen Hashim Thaçi, einen der Anführer der UÇK (Befreiungsarmee des Kosovo) wurde gar nicht erst Anklage erhoben, trotz der Materialien, die serbische Gerichte dem Tribunal zur Verfügung stellten. Er hat zu viele mächtige Fürsprecher in den USA und der EU. Er war einer der Unterhändler der kosovo-albanischen Delegation in Rambouillet und später einer der führenden Politiker im Kosovo. Ramush Haradinaj wurde wegen Mangels an Beweisen 2008 freigesprochen, nachdem 9 der 10 gegen ihn aussagenden Zeugen umgebracht worden waren und der zehnte – begreiflicherweise – zurücktrat.  Der Prozeß gegen Fatmir Limaj und andere endete 2005 mit einem Freispruch für Limaj: Von den ihm zur Last gelegten Mißhandlungen in einem Gefangenenlager wurde er entbunden, da ihm keine direkte Teilnahme an selbigen nachgewiesen werden konnte. In dem Prozeß wurde ein einziger Untergebener von ihm schuldig gesprochen.
Die Prozesse gegen Mitglieder der UÇK laufen alle nach dem gleichen Muster ab: Vorgelegte Beweise von serbischer Seite werden als nicht genügend untermauert zurückgewiesen, sie werden jedoch auch nicht durch Untersuchungen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Ermordete Zeugen sprechen nicht gegen die Angeklagten. (Man vergleiche die Argumentation gegen Šešelj: Angebliche Einschüchterung von Zeugen führt zur vorläufigen Einstellung des Verfahrens, und seiner Verschiebung auf unbestimmte Zeit.) Die Verantwortlichkeit für nachgewiesene Morde wird an – meist nicht mehr lebende oder unbekannte – Unterläufeln delegiert. Eine mangelnde Beweislage spricht nicht für weitere Untersuchungen, sondern ist Grundlage von Freisprüchen.

Wir wollen jetzt am Ende noch einige Überlegungen dazu anstellen, was die bei dem Tribunal beschäftigten Richter und sonstigen Juristen eigentlich bewegt. Weil aus dem, was wir bisher gesagt haben, könnte man ja sagen: Na, das sind bezahlte Lakaien der Weltmächte, Vollstrecker der imperialistischen Gewalt. Und was das betrifft, was sie tun, so stimmt das ja auch. In ihrem Bewußtsein hingegen stellt sich das ganz umgekehrt dar: Sie meinen, daß das Recht über der Gewalt steht. Sie sind also überzeugt, daß sie sozusagen übergeordneten Gesichtspunkten folgen, moralischen Geboten bzw. höheren Werten, die leider allzu selten Geltung finden in der Welt, aber manchmal siegt doch die Gerechtigkeit, und diese vermeintlich höheren Prinzipien finden Anwendung in der Welt. Und es erfüllt diese Juristen mit Stolz, diese höheren Prinzipien einmal vollstrecken zu dürfen. Sie erfüllen sich damit einen Wunsch, der auch bei Nicht-Juristen oft anzutreffen ist: Nämlich Gericht zu halten. Viele ganz gewöhnliche Mitbürger, die im realen Leben nicht viel zu melden haben, weder im Beruf noch im Privatleben, aber ganz genau wissen, wie es eigentlich zugehen sollte auf der Welt, die würden gerne einmal in eine Position kommen, wo sie anderen ihre Verfehlungen vorhalten und sie dafür bestrafen könnten. Richter zu sein über andere, und zwar nach den eigenen subjektiven Wertvorstellungen, sich damit über andere zu erheben – das täten viele gern. Die Juristen des Haager Tribunals können sich diesen Wunsch erfüllen, ob Ankläger, Richter oder Pflichtverteidiger.

Zum Abschluß soll noch einmal daran erinnert werden, daß das Recht nicht entschädigt, sondern bestraft, daß Tote nicht wieder auferstehen, weil ihre Mörder ins Gefängnis kommen; daß traumatische Erlebnisse nicht ungeschehen gemacht oder vergessen werden, weil sie Gegenstand juristischer Untersuchung werden  – daß bei Prozeß und Verurteilung gebrochenes Recht wiederhergestellt wird und eine übergeordnete Gewalt ihren Standpunkt geltend macht. Opfer mögen sich damit trösten, daß Täter bestraft werden, aber sogar dieses unschöne Moment der Rache ist eine Selbsttäuschung, denn sie sind weder die Vollstrecker solcher Entscheidungen, noch werden sie ihretwegen gefällt.

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*1 Unsere Einschätzung von 2009 hat sich als falsch erwiesen. Vermutlich wurde Mladić schließlich verhaftet und ausgeliefert, weil der Machtkampf in Serbien zugunsten der von Tadić angestrebten EU-Integration entschieden worden ist, und das Militär an Einfluß verloren hat.

Es ist aber auch möglich, daß die „Internationale Staatengemeinschaft“, also die Mächte, die den Regierungen der Nachfolgestaaten Jugoslawiens vorschreiben wollen, was sie zu tun und zu lassen haben, gar nicht unzufrieden waren, daß Mladić so lange nicht gefaßt worden ist. Denn ein Gerichtsverfahren gegen ihn könnte Details über die Ereignisse von Srebrenica zutage fördern, die die Rolle der UNO, der USA und der EU in einem unvorteilhaften Licht erscheinen lassen – als Akteure, die Opfer zulassen, sogar schaffen wollten, um sich als Schiedsrichter und Protektoren dieser Weltgegend zu etablieren.

Für diese These spricht, daß das Verfahren gegen Karadžić und Mladić nicht so recht weiterkommt und man seit geraumer Zeit nichts davon hört.

Die militärische Selbstaufgabe Serbiens hat größtenteils stattgefunden: das Militär wurde innenpolitisch entmachtet, die Geräte sind veraltet, und vor allem ist nicht klar, was die Aufgabe einer serbischen Armee wäre – angesichts ihrer völligen Einkesselung durch die NATO.

 

leicht modifiziertes Konzept einer Sendung im Radio Orange vom 1. 7. 2009

Die Sendung als Audio-Datei

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