Zu
den neueren Nietzsche-Übersetzungen in Ungarn
Der vorliegenden Übersetzungskritik muß vorangestellt
werden, daß die Verfasserin die ungarische Sprache für sehr
geeignet hält, abstrakteste Gedanken und Feinheiten aller Art auszudrücken.
Es mag andere Sprachen geben, wo der Übersetzer an der Enge des Vokabulars,
an grammatikalischen Besonderheiten scheitert bzw. wo er oft zu Umschreibungen
greifen muß das Ungarische gehört jedenfalls nicht dazu.
Es bietet unter anderem die Möglichkeit, durch Infixe und Suffixe
Wörter zu bilden, die jedem Einheimischen sofort verständlich
sind, ohne daß er sie jemals vorher gehört hätte. So ist
bei der Übersetzung Hegels z.B. der Begriff des Sollens
durch ein neu gebildetes Wort (a kellés hauptwörtlicher
Gebrauch von kell müssen) übersetzt
worden.
Wenn also bei den Übersetzungen Unzulänglichkeiten bemängelt
werden, so bin ich hierbei von der Überzeugung geleitet, daß
diese sich nicht notwendig aus dem Charakter der Sprache ergeben und daher
im mangelnden sprachlichen oder inhaltlichen Verständnis des Übersetzers
begrründet sind.
Im Jahre 1990 ist ein Buch mit dem Titel A vándor és
árnyéka Der Wanderer und sein Schatten
beim Verlag Göncöl erschienen. Dieses Buch enthält die
Dritte Unzeitgemäße Betrachtung Schopenhauer als
Erzieher, und einen Teil von Menschliches, Allzumenschliches
I & II. Das Buch gelangte mit der Schleife Erschienen
zum 90. Todestag des Verfassers in den Buchhandel. Das ist insofern
von Bedeutung, als damit klar ist: Es gab eine Frist, bis dahin sollte
offenbar die Übersetzung fertig sein. Das ist eine Erklärungsmöglichkeit
dafür, warum sie unvollständig ist. Davon später.
1. Schopenhauer als Erzieher
Die Übersetzung ist ungenau, und zwar von einer
gewissen Schwatzhaftigkeit geleitet, die dann eben haarscharf an dem,
was Nietzsche meint, vorbeigeht.
Ansonsten ist bei diesem Übersetzer ein gewisser Hang festzustellen,
Nietzsche dort zu verharmlosen, wo er ihm zu sehr gegen bürgerliche
Konventionen zu verstoßen scheint, und ein süßliches
Anstandsdeckchen darüber zu breiten. Ein Beispiel dafür bereits
auf der ersten Seite der Satz: die Menschen
fürchten
gerade am meisten die Beschwerden, welche ihnen eine unbedingte Ehrlichkeit
und Nacktheit aufbürden würde. (KSA 1, S 337) Hier wurde
Ehrlichkeit mit Anständigkeit(1) übersetzt,
unnötigerweise, denn es gäbe ein entsprechendes Wort;
Nacktheit hingegen mit Offenheit(2) hätte
Nietzsche Offenheit gemeint, so hätte er es auch so hingeschrieben.
Das Wort aufbürden ist durch von ihnen fordern(3)
übersetzt.
Bereits im nächsten Satz gibt es wieder Grund zur Beanstandung: Nietzsche
schreibt übergehängte Meinungen, der Übersetzer
macht zusammengeworfene Gemeinplätze(4) daraus
kann das daran liegen, daß im Ungarn des Jahres 1990 niemand etwas
gegen eine Meinung sagen mag?
Da die Schrift eher zu den schwärmerischen Werken Nietzsches gehört,
ist die Übersetzung im weiteren etwas besser gelungen es gibt
nicht allzuviel kritische Bemerkungen, gegen die der Übersetzer seine
anscheinend vorliegenden inneren Widerstände überwinden mußte.
Aber auch so hat man unbefriedigende Erlebnisse, wenn man eine Seite genau
durchliest. So z.B. die Seite 86, im letzten, achten Abschnitt des Buches,
sie entspricht ungefähr der Seite 424 der KSA. Um nicht prinzipiell
die Ausscheidung von Disziplinen wünschen zu müssen ist
übersetzt: von der Ausscheidung der erwähnten Disziplinen
abgesehen,(5) die Nicht-Akademiker haben gute Gründe
ist bei Török um Rechte(6) ergänzt worden,
als ob Gründe allein ihm zu wenig wären. Schließlich wird
nicht vorangehen im gleichen Satz übersetzt mit nicht
fortschreiten,(7) das ist verkehrt, denn Nietzsche meint, daß
sie nicht vorne gehen, nicht, daß sie überhaupt nicht gehen.
Schließlich wird das Wort Anzeichen (hinter: Lehrstühle
für Goethe und Schiller, KSA S 425 oben) mit Kriterien(8)
wiedergegeben.
2. Menschliches, Allzumenschliches
Der erste Mangel dieser Übersetzung ist einer der
Vollständigkeit. Von den 638 Aphorismen des ersten Bandes sind 296
übersetzt. Dem zweiten Teil ist es prozentuell noch schlechter ergangen:
Von den 408 Aphorismen der Vermischten Meinungen und Sprüche
sind 107 auf den ungarischen Leser gekommen, von Der Wanderer und
sein Schatten, der Titelgeschichte sozusagen, ganze 138 von 349.
(Der nicht numerierte Schluß fehlt ebenfalls.) Und zwar sind die
Aphorismen mit ihrer Originalnummer angeführt, und dann folgt der
nächste übersetzte Aphorismus, dazwischen fehlen zwischen einem
und 7 andere.
Bei dem Abschnitt Das religiöse Leben sind von 33 Aphorismen
8 übersetzt, die religionskritischeren oder gar spottenden, wie 108,
110, 113, 115-117, 133, 134 fehlen. Zensur eines Anstandshüters?
Das Buch verfügt zwar über ein Nachwort des Übersetzers,
in dem der unterschiedliche Aufbau und teilweise die Umstände der
Entstehung der Unzeitgemäßen Betrachtungen und
von Menschliches, Allzumenschliches besprochen werden und
in dem immerhin drei Seiten der Behandlung des Aphorismus als Ausdrucksform
gewidmet sind. Aber in diesem Nachwort findet sich kein Hinweis darauf,
warum die Übersetzung so lückenhaft ausgefallen ist. Und zwar
wird weder der Grund der Auslassungen, noch das Kriterium der Auswahl
derjenigen Aphorismen, die übersetzt wurden, genannt.
Auch auf dem Umschlag oder im Klappentext des Buches steht nichts von
Auswahl oder gekürzter Ausgabe, sondern das
Buch wurde im Gegenteil noch mit einer besonderen Schleife beworben, auf
der Erschienen zum 90. Todestag des Verfassers zu lesen war.
Es kann daher m.E. durchaus von einer bewußten Täuschung des
Käufers gesprochen werden, der erst beim Durchlesen des Buches feststellt,
daß da einiges fehlt. Es ist auch seither keine vollständige
Übersetzung des Buches erschienen, noch hat der Übersetzer sich
über andere Werke Nietzsches gewagt. Die Tatsache, daß das
andere Nietzsche-Buch, das beim gleichen Verlag veröffentlicht wurde,
von jemand anderem übersetzt worden ist, deutet auf ein Zerwürfnis
zwischen Verlag und Übersetzer hin.
Die Übersetzung selbst läßt auch zu wünschen übrig:
So ist der Erbfehler der Philosophen (I/1/2) mit Ewiger
Fehler der Philosophie übersetzt (S 101), Die Kunst erhebt
ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. (I/4/150) ist wiedergeben
mit Die Kunst entsteht
(S 148) (9)Ein
Mensch stirbt, eine Eule krächzt
alles in Einer Nachtstunde
, hier hat der Übersetzer gemeint, in dunkler Nacht(10)
wiedergeben zu müssen, Nacht kursiv gesetzt (S 181).
Manchmal neigt die Übersetzung zu entstellenden Vereinfachungen:
ein Gleichbleibendes in allem Strudel (I/1/2) ist einfach
etwas Beständiges (S101) (11), sind eine unerschöpfliche
Beweis-Fundgrube (I/5/271) heißt schlicht beweisen
(S 185) (12), die grösste Erleichterung des Lebens (I/8/462)
wird zum leichtesten Leben (S 218) (13). Manchmal erlaubt
sich der Übersetzer dichterische Freiheit, ein Beispiel der Aphorismus
1/5/277: seither ist wiedergegeben mit seit wir die
Stätte unserer Kindheit das letzte Mal gesehen haben.(14) Das
ist in dem seither gar nicht ausgesagt, wahrscheinlich ist
gemeint: seit unserer Kindheit. Nur sind wir
so bewegt
gibt der Übersetzer mit über uns ist die Zeit hinweggegangen(15)
wieder, das gesperrte mehr übersetzt er gleich doppelt:
einmal im Sinne von mengenmäßig mehr, einmal im
Sinne von nicht mehr (S 188) (16). Dabei hat Nietzsche vermutlich
dieses Wort deshalb gesperrt geschrieben, um die Leseart nicht mehr
zu vermeiden.
Das Wort Affekt (I/4/214, es geht hier um Liebe und Sexualität)
mit Effekt (S 162) (17) zu übersetzen, heißt Ursache
und Wirkung vertauschen. Die Griechen besaßen Nichts weniger,
als eine vierschrötige Gesundheit, heißt es im gleichen
Aphorismus, Török übersetzt: Die Griechen erfreuten
sich einer robusten Gesundheit. (18)
Im Aphorismus 1/6/354 ergeht sich Nietzsche über die Begriffe des
Freundes und des Verwandten bei den Griechen und drückt im Schlußsatz
seine Verwunderung darüber aus, daß der Verwandte diesem Volk,
das die Freundschaft so gut verstand, den Verwandten besser einstuft,
als es Nietzsche tut. Dieser Gegensatz wird in der Übersetzung ein
wenig unter den Tisch gekehrt, dort lautet der Schlußsatz: All
dies ist mir unverständlich, (19) also auch die griechische
Auffassung der Freundschaft ebenso wie die der Verwandtschaft.
Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und liegen wie Kühe
auf der Wiese. (II/1/107) schreibt Nietzsche und will mit lässig
durchaus nichts Nachteiliges gesagt haben, der Übersetzer läßt
sich vom Bild der Kuh täuschen und übersetzt Lässiges
mit Schwerfälligkeit. (S 263) (20)
Ein gröberer Schnitzer ist allerdings die Übersetzung von einem
der verwegenen Ehrlichen mit (II/2/267) einer unserer
verirrten Großen (genauer: jemand, auf den wir stolz sind).(21)
Wo der Stolz herkommt, ist schon kryptisch genug, das Wort verwegen
hat der Übersetzer offenbar wie folgt zerlegt: Weg, Vorsilbe
ver-, also: vom Weg abgekommen, also: verirrt.
Für so einen Fall gibt es Wörterbücher, die man zu Rate
ziehen kann, das führt zu ergiebigeren Resultaten!
Bei dieser Übersetzung kann man übrigens in jedem Aphorismus
solche Schnitzer finden, ich habe nur Stichproben gemacht.
3. Ecce homo
Die Übersetzung des 3. Buches, des Ecce homo,
ist beim gleichen Verlag Göncöl erschienen, aber von einem anderen
Übersetzer, von Géza Horváth. Dieser, das sei vorangestellt,
versieht seine Aufgabe unvergleichlich besser, man kann ihm das Verständnis
des Textes, oder Nietzsches überhaupt nicht absprechen im
Gegensatz zu seinem Vorgänger.
Der Übersetzer bricht mit der herkömmlichen ungarischen Übersetzung
des Wortes Übermensch, wie sie in der bisher als maßgeblich
angesehenen Übersetzung des Zarathustra durch Ödön
Wildner vom Anfang dieses Jahrhunderts festgelegt worden ist. Wildner
übersetzte Übermensch mit emberfölötti
ember, was soviel bedeutet wie der Mensch über dem Menschen,
oberhalb des Menschen, oder der über dem Menschen stehende
Mensch.
Géza Horváth übersetzt Übermensch
mit emberebb ember, was soviel bedeutet wie: der menschgemäßere
Mensch, der menschenartigere Mensch. Auch sonst hat Horváth
die Zarathustra-Übersetzung Wildners nicht übernommen und diejenigen
Stellen des Zarathustra, die in Ecce homo zitiert
werden, neu übersetzt in ein modernes Ungarisch. Wobei erwähnt
werden muß, daß Wildner sich bei seiner Übersetzung absichtlich
einer antiquierten Sprache bediente, um den poetischen Gehalt des Buches
deutlicher herauszustreichen.
Die Übersetzung Horváths ist also um vieles besser als diejenige
von Török, aber Fehler sind auch hier unterlaufen.
So verwechselt der Übersetzer öfter 1. und 4. Fall, oder Subjekt
und Prädikat. So ist der Satz: Er reagiert auf alle Art Reize
langsam, mit jener Langsamkeit, die eine lange Vorsicht und ein gewollter
Stolz ihm angezüchtet haben, (Warum ich so weise bin
2) übersetzt mit:
und diese Langsamkeit bildet ungeheure
Vorsicht und bewußten Stolz in ihm aus.(22) (S 26) Hier werden
Ursache und Wirkung verwechselt.
Schon vorher tritt ein solcher Fehler auf, im selben Aphorismus:
das verräth die unbedingte Instinkt-Gewißheit darüber,
was damals vor allem noth that. In der Übersetzung steht:
das verräth die unbedingte Instinkt-Gewißheit, die mir damals
mehr als alles andere nötig war.(23) (S 25)
Es gibt auch einfache, am einzelnen Wort festzumachende Übersetzungsfehler:
Ob Wohlgerathenheit mit Gesundheit(24) (S 25),
blutig mit tödlich (25) (S 26), Lauterkeit
mit Reinlichkeit (26) (S 35), einzelne mit bestimmte
(27) (S 56), Lernen mit Zuwachs, Vermehrung(28)
(S 64) bestmöglich übersetzt ist, kann angezweifelt werden.
Ein überflüssiges Gefühl ( Warum ich so weise
bin 6) wird in der Übersetzung zu einem überschäumendem
Gefühl (29) (S 32), was zwar vom Bild her ähnlich sein
mag, in der Bedeutung jedoch nicht. Reizbar für fremde Not
(Warum ich so weise bin 7) heißt nicht, wie vom Übersetzer
verfälscht, reizbar dafür, andere zugrunde zu richten.(30)
(S 33) Manchmal kommt überhaupt alles durcheinander: die Raffinierten,
so heißt es bei Nietzsche, würden mit den Reichen, die
Späten mit den Großen verwechselt. Bei Horváth
wird das Gekünstelte mit dem Reichtum, das Verspätete
mit der wahren Größe verwechselt. (31) (S 34) Übermütig
wird zu hochmütig (32) (S 39) Nach mehrseitigen Ausführungen
Nietzsches über rechte Ernährung meint er
die
Unwissenheit in physiologicis der verfluchte »Idealismus«
sei das Verhängnis seines Lebens gewesen. (Warum ich so klug bin
2), der Übersetzer macht daraus in psychologicis (S 44)
Die Aussage Nietzsches, er sei ein Psychologe
, der nicht
seines Gleichen hat (Warum ich so gute Bücher schreibe 5),
wird in der Übersetzung zu einem unschuldigen (33) Psychologen
(S 67). Gänzlich danebengegangen ist die folgende Übersetzung:
Im Original steht der geborene Rattenfänger, (
) welcher
(
) nicht einen Blick blickt, in dem nicht eine Rücksicht (
)
der Lockung läge, zu dessen Meisterschaft es gehört, dass er
zu scheinen versteht (Warum ich so gute Bücher schreibe
6). Im Ungarischen wird daraus:
den jede Lockung völlig
kalt läßt und der dennoch ganz einfach strahlt (
)
(34) (S 70) Einmal wird Selbstsucht (Warum ich ein Schicksal
bin 7) mit Selbstzucht (35) (S 137) übersetzt.
Manchmal entsteht der Eindruck, der Übersetzer denke nicht mit: Nietzsche
bespricht die Absicht und Leistung der christlichen Moral, das Mißtrauen
gegen die Instinkte zur zweiten Natur zu machen (Warum ich ein Schicksal
bin 8). Horváth schreibt: die Instinkte zu verwirren und
Mißtrauen gegen die zweite Natur zu säen (36) (S 139)
er zerbricht sich hier nicht den Kopf, warum Nietzsche in seiner
Übersetzung auf einmal zum Advokaten einer zweiten Natur gemacht
wird.
Wenn von einem Herren, der bei Nietzsche sorgsam die Erlaubnis
eingeholt hatte, ihn zu besuchen, die Rede ist (Warum ich so weise bin
4), so ist es etwas mißverständlich, zu übersetzen: nachdem
er sich alle erforderlichen Genehmigungen beschafft hatte(37) (S
28), als ob er die Behörden des Kantons Engadin oder die Zollbehörden
der Schweizer Grenze von seinem Kommen in Kenntnis hätte setzen müssen.
Auch ich ertappte diese Bildung dabei auf der That (Warum
ich so weise bin 7) ist mit ich riß dieser Bildung die Larve
vom Gesicht(38) (S 34) nicht genau wiedergegeben.
Der Satz Wenn irgend Etwas
gegen Kranksein
geltend
gemacht werden muss, so ist es, dass in ihm der eigentliche Heilinstinkt
im Menschen mürbe gemacht wird (Warum ich so weise bin
6) ist vom Übersetzer offenbar nicht richtig, nämlich als gedanklicher
Einwand, verstanden worden. Er schreibt: Wenn man der Krankheit
etwas entgegensetzen muß, so das, daß der in ihr enthaltene
eigentliche heilsame Trieb
aufgerieben werden soll. (39)
(S 31) Es ist mir gänzlich entgangen, worin ich »sündhaft«
sein sollte. wird übersetzt mit es läßt mich
kalt, warum ich »sündhaft« sein sollte.(40) Rückständig
bis zur Heiligkeit (Warum ich so klug bin 1) wird wiedergegeben
mit hier blieb ich bis ins Unendliche zurück.(41)
Auf dieser Seite hat überhaupt die Aufmerksamkeit des Übersetzers
etwas nachgelassen. Nietzsche schreibt die vollkommene Nichtswürdigkeit
der deutschen Bildung ihr »Idealismus« ,
meint also, die deutsche Bildung sei deswegen nichtswürdig, weil
sie idealistisch sei bzw. sich als solche bezeichne. Die Übersetzung
lautet die Nichtswürdigkeit der dt. Bildung, des »Idealismus«
(S 39), leistet also dem Irrtum Vorschub, es gebe einen nicht nichtswürdigen
Idealismus, nur eben nicht in Deutschland.
Der Satz Als ob es nicht von vornherein verurtheilt wäre, »klassisch«
und »deutsch« in einen Begriff zu einigen! (Warum ich
so klug bin 1) ist dem Übersetzer offensichtlich nicht klar gewesen.
Nietzsche meint nämlich: Die zwei Begriffe widersprechen einander.
Die Übersetzung lautet: Als ob »klassisch« und
»deutsch« nicht von vornherein dazu verurteilt wären,
in einem Begriff vereint zu werden, (42) (S 39) versucht also eine
Art historische Notwendigkeit zu postulieren. Ein ehrlicher Atheist
meint Nietzsche, sei eine in Frankreich spärlich und fast kaum
auffindbare species (Warum ich so klug bin 3), Horváth übersetzt,
die species sei in Frankreich fast ausgestorben(43)
(S 47), was den Trugschluß entstehen läßt, sie sei dort
früher häufiger aufzufinden gewesen eine Behauptung,
die Nietzsche jedoch nicht aufgestellt hat. Im Satz: Alle Fragen
der Politik
sind dadurch bis in Grund und Boden verfälscht,
dass man die schädlichsten Menschen für grosse Menschen nahm,
dass man die »kleinen« Dinge (
) verachten lernte
(Warum ich so klug bin 10), wird in der Übersetzung das dadurch
ganz weggelassen, anstelle des ersten dass ein Beistrich gesetzt, somit
das ganze in eine Aufzählung verwandelt, sodaß dann das zweite
dass, welches im Unterschied zum ersten schon übersetzt
ist, völlig in der Luft hängt. (44) (S 58) Der dritte Abschnitt
von Ecce homo beginnt mit dem Satz: Das Eine bin ich,
das Andere sind meine Schriften. (Warum ich so gute Bücher
schreibe 1). Damit soll wohl ein Unterschied ausgedrückt werden,
in der Übersetzung wird daraus eine Reihenfolge: Auf meine
Person folgen meine Schriften. (45) (S 60)
Das Zitat: wo ich nicht mehr mit Worten, sondern mit Blitzen rede
(Die Unzeitgemäßen 3) ist mit mich mit Blitzen unterhalte,
mit Blitzen Gespräche führe (46) (S 82) falsch übersetzt.
Man muß das Fürchten nicht gelernt haben, um den
gentilhomme im Sinne Nietzsches auszuhalten (Jenseits von Gut und Böse
2), warum daraus bei Horváth wurde; man muß ums Fürchten
nicht verlegen sein (47) (S 115), ist nicht ganz klar.
Öfters setzt Horváth etwas in die Gegenwart, was im Original
in der Vergangenheit steht:
ich bin selbst in Zeiten schwerer
Krankheit nicht krankhaft geworden; (Warum ich so klug bin 10),
die Übersetzung lautet: selbst schwer krank bin ich nicht genügend
krankhaft (48) (S 58)
Einige Male läßt der Übersetzer etwas aus, wie z.B. bei
Lord Bacon, dem nach Nietzsche ersten Realisten in jedem großen
Sinn des Wortes (Warum ich so klug bin 4) diese Charakterisierung
des englichen Philosophen fehlt in der Übersetzung (S 48). Auch Baudelaire
fällt um sein Attribut, jener typische décadent
(Warum ich so klug bin 5) zu sein, um in der Übersetzung steht
das nicht. Die armselige Chineserei, auf die die Menschheit
heruntergebracht werden soll (Warum ich ein Schicksal bin 4), erspart
der Übersetzer dem ungarischen Leser (S 134)
Zum Ausgleich gibt es Hinzufügungen: Wer war der erste intelligente
Anhänger Wagners überhaupt? (Warum ich so klug bin 5),
fragt Nietzsche; der Übersetzer erweitert: Wer war Wagners
erster und vielleicht letzter verständnisvoller Anhänger?(49)
(S 50) Oder, nach einer überhaupt sehr freien Übersetzung der
Mängel der deutschen Großstadt, der Zusatz in der alles
gleichermaßen wuchert (50) (S 54), der im Original nicht aufzufinden
ist, wo im Gegenteil sogar steht: wo nichts wächst (Warum
ich so klug bin 8) Die härteste Selbstsucht (Die Unzeitgemässen
1) ist in der Übersetzung nicht nur die härteste,
sondern bereits krankhaft (51) (S 79).
Eine eigenartige Mischung von Auslassung und Umschreibung ist die Übersetzung
des folgenden Satzes: Ich kenne keine andre Art, mit grossen Aufgaben
zu verkehren als das Spiel: dies ist, als Anzeichen der Grösse, eine
wesentliche Voraussetzung. (Warum ich so klug bin 10) Er wird im
Ungarischen wie folgt wiedergegeben: Das Spiel ist das Zeichen der
Größe, ohne es können wir uns nicht an große Aufgaben
heranwagen.(52) (S 59) Nicht ganz falsch,
aber etwas verkürzend.
Bei soviel Kritik sollen auch die Leistungen dieser Übersetzung
nicht zu kurz kommen: Es gibt einen Anhang, in dem die fremdsprachigen,
also lateinischen, französischen usw. Wörter und Zitate, die
im Text vorkommen, übersetzt und erklärt werden. Die von Nietzsche
erwähnten Personen werden kurz charakterisiert und ihre Bedeutung
im Leben Nietzsches dargestellt. Dieser Anhang wurde vom Übersetzer
erstellt, während die Einleitung, die wenig zum Verständnis
Nietzsches beiträgt, von jemand anderem, einem gewissen Ern#
Joos verfaßt wurde.
Es gibt auch gelungene Übersetzungen: So wurde der Halbsatz wie
Viel man unter sich fühlt! (Vorwort 3) mit Was läßt
sich nicht alles überwinden! worüber kommt man nicht hinweg!
übersetzt.
was mich in fremden Wissenschaften und Seelen
spazierengehen läßt, hat Horváth mit
führt mich auf den Saumpfad fremder Wissenschaften und Seelen
übersetzt.
Manche Ausdrücke z.B. bereiten Schwierigkeiten und bedürfen
einer Umschreibung, so hat Horváth z.B. Mucker nicht
unzutreffend mit scheinheilige Feiglinge (S 49) wiedergegeben.
Alles in allem ist die Übersetzung zwar mit Mängeln ausgestattet,
aber im großen und ganzen gelungen.
4. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das
Leben
Von den bisher besprochenen Übersetzungen unterscheidet
sich diejenige des Buches Vom Nutzen und Nachteil der Historie für
das Leben grundlegend darin, daß sie von einem profunden Nietzsche-Kenner,
dem an der Universität Pécs lehrenden György Tatár
vorgenommen wurde. Das 1989 erschienene Buch ist auch nicht bei einem
der vielen nach dem Systemwechsel aus dem Boden geschossenen Verlage erschienen,
sondern beim Akademia Kiadó, dem aus der sozialistischen Zeit her
etablierten Verlag für wissenschaftliche Publikationen.
Bereits am Titel hat er eine Veränderung vorgenommen: Der ursprüngliche
Titel Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
wurde um des besseren ungarischen Klanges willen verkürzt. Dagegen
ist inhaltlich nichts einzuwenden, und entspricht auch der ursprünglichen
Intention Nietzsches. Auf das die Rohfassung enthaltende Heft schrieb
er als Arbeitstitel: Vom Nutzen und Nachteil der Historie (Vorwort,
S. 7, Fußnote).
Im Vorwort erklärt Tatár, welch einen Angriff auf die Geschichtswissenschaft
dieses Buch seinem Gehalt nach darstellte, und er führt auch die
Bedeutung der Geschichtswissenschaft für den Nationalstolz der Deutschen
im 19. Jahrhundert aus. Auf die erste Unzeitgemäße Betrachtung
(David Strauss) Bezug nehmend, stellt er auch noch kurz den
damaligen Stand der Bibelforschung, die Beschäftigung mit der Authentizität
der kirchlichen Überlieferung, dar.
Tatár kann es sich leisten, kompliziertere Wendungen und Konstruktionen
sehr frei zu übersetzen, weil er mit dem Inhalt keine Schwierigkeiten
hat.
Ein Moment, wo dies deutlich zum Ausdruck kommt, sind die Bilder, die
Nietzsche verwendet. Was tun z. B. mit einem irdisch umdunkelten
Horizont"? (KSA 1, S. 257) Tatár übersetzt es mit an
die Erde gebunden, in Nebel gehüllter Horizont (53) (S. 36).
Die Wortspiele Nietzsches gehen manchmal bei der Übersetzung verloren,
so bei Inhalt und Innerlichkeit (54) (KSA 1, S.
276) im Ungarischen gibt es keine lautliche und inhaltliche Ähnlichkeit
zwischen den beiden Wortern , manchmal gelingt es jedoch, sie zu retten
oder durch Gleichwertiges zu ersetzen: Die Afterbildung (KSA
1, S. 295) übersetzt Tatár mit Halb- und Unterhalb-
(Gesäß-)Bildung. (55) (S. 67).
Erwähnenswert ist vielleicht noch die Art der Übersetzung der
von Nietzsche verwendeten Zitate: Das im bei Nietzsche im englischen Original
angeführte Zitat Humes (KSA 1, S. 255) wird auch im ungarischen Text
englisch wiedergegeben, ebenso die lateinischen Zitate (S. 34), während
das Zitat Niebuhrs (KSA 1, S. 254) und diejenigen Goethes, wie z. B. das
aus den Meistersingern (KSA 1, S. 298) und auch die restlichen deutschsprachigen,
ins Ungarische übersetzt wurden (S. 34 u. 70). Das Zitat Leopardis
(KSA 1, S. 256), ebenfalls ins Ungarische übersetzt (S. 35), ist
einer ungarischen Leopardi-Übersetzung (56) entnommen. Im Anhang
wird für jedes Zitat auf das Werk hingewiesen, dem es Nietzsche entnommen
hat, sowie sofern vorhanden auf die ungarische Übersetzung.
Außerdem weist der Übersetzer auf die Stellen hin, in denen
Nietzsche selbst frei, d. h. mit Auslassungen zitiert, wie z. B. im Falle
des Grillparzer-Zitates (KSA 1, S. 277).
Das Buch verfügt ferner über einen aus zwei Teilen bestehenden
Anhang. Im ersten Teil werden die Zitate, die im Text vorkommen, nachgewiesen,
der zweite besteht aus einer kurzen Biographie Nietzsches.
_____________________________
(1) tisztesség
(2) nyíltság
(3) követel
(4 összedobált közhelyek
(5) (...) az említett diszciplinák kiválásáról
eltekintve is, (...)
(6) okuk és joguk van rá
(7) nem haladnak
(8) ismérv
(9) születik
(10) sötét éjszaka
(11) valami állandó
(12) bizonyítják
(13) legkönnyebb élet
(14) mióta utoljára láttuk gyermekkorunk színhelyét
(15) fölöttünk múlott el az idő
(16) már nem érződik erősebben
(17) effektus Es mag sein, daß es sich um einen Druckfehler
handelt, aber eben um einen sehr entstellenden.
(18) A görögök robusztus egészségnek örvendtek.
(19) Mindez érthetetlen számomra.
(20) tohonyaság
(21) eltévelyedett büszkeségünk
(22) ez a megfontoltság óriási elővigyázatot
és tudatos büszkeséget alakít ki benne
(23) arról a föltétlen ösztönbizonyosságról
árulkodik, amelyre akkoriban minennél inkább szükségem
volt
(24) egészség
(25) halálosan
(26) tisztaság
(27) bizonyos
(28) gyarapodás
(29) túlcsorduló érzés
(30) ingerlékeny is mások megnyomorítására
(31) összetéveszti a keresettet a gazdagsággal, a
megkésettet az igazi nagysággal
(32) gőgös
(33) ártatlan
(34) nem törődik a csábítással, mégis
ragyog, egyszerűen ragyog
(35) önfegyelem (Selbstzucht) Selbstsucht wäre
önzés
(36) hogy összekuszálják az ösztönöket
és bizalmatlanságot keltsenek a második természet
iránt
(37) miután gondosan beszerzett minden szükséges engedélyt
(38) magáról a müveltségről rántottam
le a leplet
(39) Ha egyáltalán valamit szembe kell helyezni a betegséggel
(...), akkor azt, hogy a benne lévő gyógyító
ösztön (...) fölörlődjék
(40) Tőkéletesen hidegen hagy, mennyiben volnék »bűnös«
(41) ebben a kérdésben maradtam el a végtelenségig
(42) mintha klasszikus és német
eleve nem arra ítéltetett volna, hogy egy fogalommá
kovácsolják őket
(43) mely species Franciaországban szinte már kihalt
(44) A politika (
) minden kérdését a gyökérekig
meghamisították, a legkártékony embereket
kiáltották ki nagyságnak s hogy a »kis«
dolgoknak
(45) Személyem után következnek írásaim.
(46) villámokkal társalgok
(47) rettegésért nem kell a szomszédba menni hozzá
(48) én még súlyos betegen sem vagyok eléggé
beteges
(49) ki volt Wagner első és tán utolsó
értő híve?
(50) és minden egyaránt tenyészik
(51) már-már beteges
(52) A játék a nagyság jele, nélküle
nem vághatjuk nagy feladatokba a fejszénket
(53) földhözragadtan ködbe boruIt horizont
(54) tartalom und bensőség
(55) al- es alfélműveltség
(56) Aus dem Gedichtband: Magános élet (Einsames
Leben)
______________________________________________________________
erschienen in: NIETZSCHE-STUDIEN
Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Band
25/1996. De Gruyter Verlag
weiter zu: Über die Widersprüchlichkeit von Moralphilosophie am Beispiel Friedrich Nietzsches
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