NATIONALE IDENTITÄT – ÜBER STAAT, GEWALT UND „SELBSTBESTIMMUNG“ AM BEISPIEL KATALONIENS
Teil I. Die Wirklichkeit. Über Interessen und Gegensätze Worum geht es eigentlich bei Separatismus bzw. Unabhängigkeitsbestrebungen? Welche Vorstellungen sind da zugegen und welche Interessen kommen ins Spiel? Eine kurze Vorstellung der Ereignisse: Nach einer „unverbindlichen Volksbefragung 2014, die dem damaligen Präsidenten Kataloniens, einen Prozeß wegen Ungehorsams und Amtsverbot für 2 Jahre einbrachte, setzte sein Nachfolger Puigdemont im Oktober 2017 ein verbindliches Referendum an und erklärte die Unabhängigkeit Kataloniens. Die Urnen für das trotz Verbots durchgeführte Referendum wurden in China bestellt und in eine Ortschaft im Roussillon (französisches Katalonien) geliefert. Von dort wurden sie mit Privatautos nach Katalonien gebracht, versteckt und am 30. September in viele der 2300 Wahllokale gebracht. Eine gewisse logistische Leistung. _________________ Seither wurden verschiedene führende Politiker der katalanischen Nationalregierung verhaftet, andere flohen ins Ausland und bezeichnen sich als politische Flüchtlinge. Die spanische Regierung hat den Ausnahmezustand über Katalonien verhängt, eine Direktregierung eingesetzt und Neuwahlen für Dezember ausgeschrieben. Dabei kam es zu einer geringen Mehrheit für diejenigen Parteien, die für ein unabhängiges Katalonien eintreten. Die können sich jedoch untereinander auf keinen Kandidaten einigen, der auch von der Madrider Regierung anerkannt würde, also weder im Ausland noch im Gefängnis sitzt. Die Lage präsentiert sich also wie folgt: eine Zentralregierung in Madrid, die als Minderheitenregierung fungiert und von allen Seiten unter Beschuß genommen wird: von der Opposition und anderen Flügeln der eigenen Partei. Die mit Korruptions- und Plagiats-Skandalen kämpft und sich vermutlich nicht mehr lange halten wird. In Katalonien: eine Direktregierung von Madrid nach dem Notstandsparagraphen 155, ein Parlament in dem sich Gegner und Anhänger der Unabhängigkeit die Waage halten, Unabhängigkeitspolitiker im Exil und im Gefängnis, Strafverfolgung durch die spanische Justiz wegen Aufruhr und Veruntreuung öffentlicher Gelder. Keine Lösung in absehbarer Zeit in Sicht. 1. Der Wille zu einem eigenen Staat Ich meine, man muß da zwei Arten von Unabhängigkeits-Anhängern unterscheiden. „Unabhängig“ bedeutet in beiden Fällen: Nicht von Madrid, sondern nur von Brüssel würde man sich dreinreden lassen. Aus der EU wollten sie ja nicht heraus. „Unabhängigkeit“ heißt nämlich gar nicht, sich von irgendwelchen oder allen ökonomischen oder politischen Abhängigkeiten losmachen zu wollen, sondern nur von einer bestimmten. Die „Nation“ bewährt sich hier – wie auch sonst – als ein Band, das Arme und Reiche, Unternehmer und Arbeiter, Kaufleute und Konsumenten miteinander verbindet und ihre Gegensätze vergessen läßt. Sie schafft Einigkeit und Einheit in einer Frage: Wer regiert uns? – vor dem werden alle anderen Sorgen, materieller wie ideeller Natur, für nichtig erklärt. Auf eine weitere Frage, die in der Öffentlichkeit gar nicht thematisiert wurde, möchte ich auch noch hinweisen: Ein neuer Staat definiert nicht nur seine Bevölkerung neu – wer gehört zu uns und wer nicht? – sondern auch sein Territorium: Ein unabhängiges Katalonien erhebt Anspruch auf weitaus mehr als das, was heute die Autonome Provinz Katalonien ausmacht, nämlich auf einen Teil Aragons, auf die ganze Provinz Valencia, auf die Balearen und auf den französischen Teil Kataloniens, das Roussillion. (Es gibt da noch ein oder 2 Dörfer in Sardinien, die auch noch dazugehören, da scheiden sich die Geister, ob man die auch haben will.) Das sind die „katalanischen Länder“, deren Vereinigung im Falle einer Unabhängigkeit anstehen würden. Ich erinnere an die Balkankriege in den 90-er Jahren: da gab es auch Vorstellungen eines Groß-Serbiens, Groß-Kroatiens, und bis heute Grenzstreitigkeiten unter den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Dort, am Balkan konnte man auch sehen, was für eine gewalttätige Angelegenheit die Gründung neuer Staaten ist. Bei Katalonien gab es zum Glück keine Waffenlager und Partisanentraditionen, und wie aus dem inzwischen strafrechtlich relevanten Briefwechsel der Betreiber der Unabhängigkeit hervorgeht, sahen sie auch keine Möglichkeit, Wehrpflicht und Bewaffnung einzuführen, sondern hofften auf Schutz von anderen, befreundeten Staaten. Auch das mit der Bevölkerung ist nicht so harmlos, wie zunächst – z.B. in Parteiennamen – getan wird. Würde Katalonien unabhängig, so würde, ähnlich wie in manchen Nachfolgestaaten Jugoslawiens, durchaus die Frage gestellt, wer echter Katalane ist und wer nicht. Ein wenig kann man darüber erahnen, wenn man sieht, was die Firmen gemacht haben, und die Reaktion darauf. Dazu weiter unten. Die „katalanischen Länder“ bzw. „Gebiete“, auf die die katalanischen Separatisten Ansprüche erheben. Strittig ist lediglich, ob Alghero auf Sardinien (rechts unten) auch anzuschließen wäre. Aus administrativen Gründen würde darauf vermutlich verzichtet. 2. Steuern und Schulden Eine der gängigen Begründungen dafür, warum es in Spanien nicht mehr auszuhalten ist, lautet seit Jahren: Spanien raubt uns aus! Man sieht daran, daß der Gedanke der eigenen Nation, die unbedingt ins Leben gerufen werden will, nicht aus wirklichen Benachteilungen entsteht, sondern unabhängig davon zustandekommt und sich dann seine Bebilderungen sucht. Noch deutlicher sieht man das an der Frage der Schulden Kataloniens. In Spanien haben die Autonomen Provinzen das Recht, Anleihen herauszugeben. Diesbezüglich ist der Föderalismus sehr fortgeschritten in Spanien. Also von wegen, der spanische Staat hätte nicht genug Zugeständnisse gemacht! Freie Verschuldungsfähigkeit auf dem Weltmarkt! Mit 77,5 Milliarden Euro ist Katalonien die mit Abstand höchstverschuldete Provinz, die ihre Schuld nur aufgrund eines von der Zentralregierung eingerichteten Liquiditätsfonds bedienen kann. Der spanischen Regierung war diese Verschuldungsfreiheit jahrelang recht, weil diese sogenannten autonomen Schulden nicht in die spanische Staatsschuld eingingen und sich Spanien deshalb als Musterschüler bezüglich Staatsverschuldung präsentieren konnte. Das war Spaniens – natürlich in Bankierskreisen gewußte und geduldete – Schummelei. Diese Verschuldung und die Stützung durch den spanischen Staat mittels Bürgschaften und Liquidität sind kein Thema bei dem Geschrei über die Abflüsse katalanischen Reichtums nach Madrid. Sie passen nicht ins Bild. Solidaritätsdemo für inhaftierte Unabhängigkeitspolitiker am 15.4. 2018 Die Fahne, die bei den Unabhängigkeitsanhängern populär ist, ist die „mit dem Stern“, die Estelada, die im 19. Jahrhundert von katalanischen Nationalisten erfunden wurde und für die Vereinigung der gesamten katalanischen Gebiete steht. 3. EU und Euro Ein interessanter Aspekt bei dieser ganzen Angelegenheit ist die Haltung der EU bzw. ihrer Spitze. Man könnte meinen, die EU-Politiker und und -Parlamentarier sowie die EZB-Banker müßten die Hände zusammenschlagen und sagen „bloß nicht!“, wenn man an die Konsequenzen einer solchen Abspaltung für EU und Euro denkt. Der spanische Regierungschef Rajoy ist im Vorfeld des verfassungswidrigen Referendums vom 1. Oktober zu verschiedenen gewichtigen EU-Regierungschefs gegangen oder hat sie angerufen und hat gebeten: sagts was, tuts was! – alle haben gesagt, das sei eine innere Angelegenheit Spaniens, da wollen wir uns nicht einmischen! Als dann das Referendum stattgefunden hatte, und die Anhänger der Unabhängigkeit die Bilder von Polizisten, die auf angeblich friedliche Demonstranten einprügelten, um die ganze Welt geschickt hatten, gab es auf einmal sowohl bei den EU-Politikern – wie auch beim nationalen und internationalen Kapital – eine Art Hoppla-Effekt. Und zwar genau das Gegenteil dessen trat ein, was sich die Betreiber des Referendums und die Verbreiter der Fotos erwartet hatten: die EU-Politiker traten auf einmal vors Mikrofon und sagten: Spanien muß ganz bleiben, und ein unabhängiges Katalonien – nein danke! Was war passiert? Auf einmal hatten die ganzen Häuptlinge und Geschäftsleute gemerkt, daß es doch keine innerspanische Angelegenheit war, was da abgelaufen ist. Die wirtschaftliche Tätigkeit auf dem spanischen Staatsgebiet, und auch die spanischen und katalanischen Schulden wurden auf einmal in Frage gestellt. Und damit der Euro. Auf allen Börsen sackten die Titel spanischer öffentlicher Schuld ab, die Aktien spanischer Banken und anderer Firmen verloren rapide an Wert und die Firmen in Katalonien zogen ebenfalls Konsequenzen. 4. Das Abwandern der Firmen Angefangen von den großen Banken Sabadell und Caixabank haben seit Anfang Oktober bis zum Jahresende 2017 mehr als 3000 Firmen ihren Firmensitz aus Katalonien in andere Teile Spaniens verlegt. Ein katalanischer Europapolitiker, der gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen ist, hat die Unternehmer erzürnt gefragt, warum sie denn vorher nichts gesagt hätten? Daraufhin wurde ihm erwidert, erstens hätten sie Boykott und Sabotage befürchtet, wenn sie sich offen gegen die Unabhängigkeits-Anhänger stellen. Zweitens wurde ihnen von katalanischen Politikern versprochen, Katalonien würde nie aus dem Euro ausscheiden, und sofort wieder in die EU eintreten – dafür hätten sie schon vorgesorgt, das sei eine gelaufene Sache. Ob das jetzt reine Erfindungen der Separatisten-Politiker waren oder ob sie wirklich Unterstützer hatten, und welchen Kalibers, ist nicht genau heraußen. Aber man denke wieder an die Vorgeschichte der Balkankriege in den 90-er Jahren: Kroatien hatte jahrelang auch keinen anderen Unterstützer als Mock. Teil II. Die Rechtstitel, unter denen dieses Anliegen verhandelt wird Obwohl eigentlich dieses ganze Programm der Unabhängigkeit viel Ungemach verspricht und Aufruhr verursacht, hat es international viel Sympathien in Kultur- und Intellektuellenkreisen gefunden. 1. Demokratie und Verfassung Erstens wurde von vielen Leuten bekrittelt, daß Abstimmen doch etwas ganz Demokratisches sei und es daher ganz unstatthaft sei, die Leute daran zu hindern. Die ganze Leier von den friedlichen Demonstranten und der brutalen Vorgangsweise der Polizei, die man seit einiger Zeit stets von Nordafrika bis zur Ukraine und zurück regelmäßig ins Haus geliefert erhält, ist wieder einmal ertönt. Dagegen muß man sagen, daß Demokratie nicht darin besteht, daß man über alles abstimmen darf. Schon gar nicht über Territorialfragen. Volksabstimmungen und Volksbefragungen sind in den jeweiligen Verfassungen plus Zusatzgesetzen genau geregelt. Also erstens, wie sie zustandekommen, und zweitens, was sie zum Thema haben dürfen. In sozialistischen Staaten war das anders. Es ist also die Demokratie diejenige Staatsform, die in Sachen territoriale Einheit kein Pardon kennt, und dieser Umstand ist zur Kenntnis zu nehmen. Ein weiterer Punkt der Anhänger der Unabhängigkeit war die Forderung nach 2. „Selbstbestimmung“ Zu diesem Begriff ist zunächst einmal zu bemerken, daß er sehr inhaltsleer ist. Es ist nur etwas über das Subjekt gesagt, das bestimmt, aber nichts darüber, was es denn jetzt bestimmt. Dieser Titel verträgt daher jeden Inhalt – man kann jede Handlung, die jemand setzt, unter die Kategorien selbst- und fremdbestimmt einreihen. Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ war der Titel, unter dem erst das Osmanische Reich und dann die österreichisch-ungarische Monarchie zerlegt worden sind, und es ist immer ein probater Rechtstitel für Großmächte, wenn sie eine Konkurrenzmacht kleiner machen wollen. Aber dann bestimmen eben diese imperialistischen Mächte, wer ein „Volk“ bzw. eine „Nation“ ist und wem daher dieses Recht zukommt. Die katalanischen Separatisten haben bislang keine nennenswerten Paten gefunden, so wie es aussieht. III. Kasperltheater und Scherzkekse Aus diesem Szenario der Abspaltung der Heimat mit dem Segen Gottes ist inzwischen eher ein Kasperltheater geworden, wo der eine der Unabhängigkeits-Betreiber im Gefängnis sitzt und täglich betend den Märtyrer und Gewissensgefangenen gibt. Der andere versucht, mit Videokonferenzen eine Art Exilregierung in Belgien darzustellen, was sowohl belgischen als auch anderen EU-Politikern inzwischen lästig ist. In Belgien selbst rüttelt es am fragilen Gleichgewicht zwischen den sehr föderalistisch eingerichteten Landesteilen. Die ganze EU kann zwischen Schuldenbergen, Brexit-Problemen und unbotmäßigen osteuropäischen Regierungen mit diesem neuen Hampelmann recht wenig anfangen. Dazu haben sich dann neue Separatisten gesellt. Unter dem Namen „Tabarnia“ hat sich jetzt eine Bewegung von Schauspielern und anderen Personen des öffentlichen Lebens gebildet, die die Städte von Barcelona und Tarragona samt Umland als neue Region von Katalonien abspalten wollen. Diese Bewegung für ein unabhängiges Tabarnien hat mit dem 75-jährigen Regisseur Albert Boadella einen Präsidenten gekürt, der bereits seine Antrittsansprache gehalten hat – aus dem „Exil“ in Madrid. _____________________
Leicht modifizierter Text eines Vortrags auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Wien Anfang März 2018, wo sich unter den Diskussionsteilnehmern Marktschreier und Bildungsbürger ein Stelldichein gaben, um auf dem „Existenzrecht“ der „katalanischen Nation“ zu bestehen. Updates zur Katalonien-Frage finden sich hier. |