Protokoll 35
12. 5. 2013

17. KAPITEL: Verwandlung von Wert resp. Preis der Arbeitskraft in Arbeitslohn

„Auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft erscheint der Lohn des Arbeiters als Preis der Arbeit, ein bestimmtes Quantum Geld, das für ein bestimmtes Quantum Arbeit gezahlt wird.“ (S 557, Absatz 1)

Es schaut so aus, als würde Lohn für Arbeit gezahlt. Das kann aber irgendwo nicht sein:

„Um als Ware auf dem Markt verkauft zu werden, müßte die Arbeit jedenfalls existieren, bevor sie verkauft wird.“ (S. 558, Absatz 1)

Also ist es die Fähigkeit, Arbeit abzuliefern, die gekauft wird. Arbeit selbst kann nämlich gar nicht gekauft werden:

„Die Arbeit ist die Substanz und das immanente Maß der Werte, aber sie selbst hat keinen Wert.“ (S. 559, Absatz 2)

Was bedeutet das? –

„Im Ausdruck: "Wert der Arbeit" ist der Wertbegriff nicht nur völlig ausgelöscht, sondern in sein Gegenteil verkehrt. Es ist ein imaginärer Ausdruck, wie etwa Wert der Erde. Diese imaginären Ausdrücke entspringen jedoch aus den Produktionsverhältnissen selbst.“ (S. 559, Absatz 3)

Da es die Arbeit ist, die den Wert schafft, so kann sie keinen Wert haben. Genauso wie der Boden keinen Wert haben kann, da er nicht durch Arbeit geschaffen worden ist. Daß diese beiden Dinge jedoch handelbar werden und einen Preis erhalten, liegt an der kapitalistischen Ökonomie, in der alles zu Ware wird.

Die klassische Nationalökonomie hat sich an dieser Frage abgearbeitet, aber nichts produziert, weil sie erstens nicht zur Kenntnis nehmen wollte, daß die Arbeit keinen Wert haben kann, sondern es um den Wert der Ware Arbeitskraft geht, und deshalb zweitens nicht über das Herumrechnen an den konkreten Arbeitslöhnen hinausgekommen ist. (S. 560-561) Das ist aber vom Standpunkt der Parteilichkeit für die herrschenden Verhältnisse günstig, weil wenn ohnehin „die Arbeit“ bezahlt wird, so kommt man nie auf Mehrarbeit und Mehrwert.

Diese Unklarheit bzw. dieses Unwissen des Arbeiters selbst darüber, was er jetzt eigentlich bezahlt bekommt und daß er unentgeltliche Arbeit verrichtet, hat eine ungeheuer systemstabilisierende Wirkung, da alle Kritik am Lohn jetzt nur mehr die Form annimmt, er sei zu gering bzw. „ungerecht“.
Von wegen „dunkles Mittelalter“! Da war klar, was man für sich, was man für seinen Herren arbeitet. In der aufgeklärten Demokratie hingegen herrscht ägyptische Finsternis über die Frage der Ausbeutung des Lohnarbeiters:

„Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistische Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.“ (S. 562, Absatz 3)

Die Arbeitskraft ist eine Ware ganz besonderer Art, die von ihrem Verkäufer nicht getrennt werden kann. Die erste Bestimmung der Ware Arbeitskraft ist deshalb diejenige, daß sie – unterschiedlich zu anderen Waren – erst nach ihrer Konsumtion entlohnt wird. Der Arbeiter erhält seinen Lohn erst nach der Ableistung seiner Arbeit.

„Stellen wir uns auf den Standpunkt des Arbeiters, der für zwölfstündige Arbeit z.B. das Wertprodukt sechsstündiger Arbeit erhält, sage 3 sh., so ist für ihn in der Tat seine zwölfstündige Arbeit das Kaufmittel der 3 sh.  … Jeder Wechsel in der Größe des Äquivalents, das er erhält, erscheint ihm daher notwendig als Wechsel im Wert oder Preis seiner 12 Arbeitsstunden. Dieser Umstand verleitete umgekehrt Adam Smith, der den Arbeitstag als eine konstante Größe behandelt, zur Behauptung, der Wert der Arbeit sei konstant, obgleich der Wert der Lebensmittel wechsle und derselbe Arbeitstag sich daher in mehr oder weniger Geld für den Arbeiter darstelle.“ (S. 563, Absatz 3)

Adam Smith macht also den „Wert der Arbeit“, diese imaginäre Größe, zu einem Fixpunkt, um den die gesamte restliche Ökonomie, inklusive des Geldwertes, oszilliert. Eine reife Leistung, die aber immerhin das Bewußtsein enthält, daß es sich hier um eine grundlegendes Element der kapitalistischen Produktionsweise handelt.
Das weitere Bemerkenswerte ist hier, daß der Lohn den Marktschwankungen von Angebot und Nachfrage unterworfen ist – Arbeitskräftemangel: hohe Löhne, Arbeitskräfteüberschuß: niedrige Löhne, ohne Rücksicht darauf, daß sich der Arbeiter ja aus seinem Lohn reproduzieren muß. Das Lohnsystem verlegt das Problem, von seinem Lohn leben zu müssen, völlig in die Privatsphäre des Arbeiters, während der Preis seiner Arbeitskraft der gesellschaftlichen Nachfrage überantwortet wird.

Der Kapitalist schließlich ist überzeugt, daß er nur geschickt ein- und verkaufen muß und es an ihm liegt, „die Arbeit“ möglichst günstig einzukaufen, ebenso wie die Rohstoffe. Für ihn ist die Arbeitskraft zunächst ein Posten in der Kalkulation wie jeder andere. 

Es zeigt sich hier, wie das Lohnsystem dem Unternehmer alle Freiheiten gibt, sich unbezahlte Arbeit anzueignen, und bei allen, auch auf Seiten des Arbeiters jede Menge falsche Vorstellungen über die Natur der Arbeit und Entlohnung im Kapitalismus hervorruft.
Marx führt hier vor, wie wichtig es für das Verständnis der kapitalistischen Ökonomie ist, die Oberfläche der bloßen Erscheinungen zu verlassen und auf die tatsächlichen Zusammenhänge zu schließen.

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