Protokoll 32 13. KAPITEL: Maschinerie und große Industrie Produktion von Krüppeln durch Sparsamkeit bei der Einrichtung des Arbeitsplatzes 9. Fabrikgesetzgebung. (Gesundheits- und Erziehungsklauseln.) Ihre Verallgemeinerung in England „Die Fabrikgesetzgebung, diese erste bewußte und planmäßige Rückwirkung der Gesellschaft auf die naturwüchsige Gestalt ihres Produktionsprozesses, ist, wie man gesehn, ebensosehr ein notwendiges Produkt der großen Industrie als Baumwollgarn, Selfactors und der elektrische Telegraph.“ (S 504/505) Diese Bemerkung, die auf vorherige Ausführungen im 8. und diesem Kapitel Bezug nimmt, muß noch einmal betont werden – angesichts der Tatsache, daß in der öffentlichen Debatte die Arbeitsschutz-Regelungen immer als Errungenschaft der Arbeiterklasse gegenüber dem Kapital dargestellt werden. Nein, betont Marx, die gehören zum Kapitalismus dazu, sind eine Notwendigkeit des der kapitalistischen Produktion und dienen letztlich dem Kapital. Eine schöne Bemerkung von Marx, daß die „Abstinenz des Kapitals“, (S 506, 1. Absatz) also sein Sparsamkeitssinn, sich im Einsparen von Schutzvorkehrungen oder sonstigen Ausgaben für die Gesundheit der Arbeiter äußert. _____________________ DISKUSSION Was heißt: „Zugleich zeigt dieser Zweig des Fabrikakts schlagend, wie die kapitalistische Produktionsweise ihrem Wesen nach über einen gewissen Punkt hinaus jede rationelle Verbeßrung ausschließt.“ (S 506, 2. Absatz) Gibt es eine solche „Grenze“? In der kapitalistischen Produktionsweise ist immer beides zugegen: technischer Fortschritt, der Erleichterung der Arbeit ermöglicht, und Kosten-Überlegungen, die ungesunde und schädliche Tätigkeiten zulassen. Es gibt nirgends eine Grenze der Art: Bis hierher ok, und nachher nicht mehr. Auch im Realen Sozialismus wurde das so besprochen: die Produktivkraft der Arbeit steigern = gut; aber dann die schrankenlose Ausbeutung = böse. Auch eine interessante Auskunft über die Tuberkulose (Schwindsucht), daß sie nicht nur durch mangelnde Ernährung und schlechtes Wohnen, sondern durch mangelnde Atemluft am Arbeitsplatz hervorgerufen wird. (S 506, 2. Absatz) Einiges zur Entwicklung des Schulsystems, besonders der Berufsschulen: „Aus dem Fabriksystem, wie man im Detail bei Robert Owen verfolgen kann, entsproß der Keim der Erziehung der Zukunft, welcher für alle Kinder über einem gewissen Alter produktive Arbeit mit Unterricht und Gymnastik verbinden wird, nicht nur als eine Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern als die einzige Methode zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen.“ (S 508, 1. Absatz) Die Verbindung von Arbeit und Ausbildung und Turnunterricht mag der „vollseitigen Entwicklung“ dienen – aber in dem hier dargestellten Zusammenhang dient es, sowohl durch die Art der Arbeit als durch die in der Ausbildung vermittelten Inhalte, den Interessen des Kapitals. Mit Lehre und Ausbildung werden eben die Jugendlichen für den Dienst am Kapital vorbereitet – ein Teil der Standortpolitik. Die Urteile über die aus der Druckerei entlassenen jungen Leute: „Einige Versuche, ihnen anderswo Beschäftigung zu verschaffen, scheiterten an ihrer Unwissenheit, Roheit, körperlichen und geistigen Verkommenheit“ (S 509, 3. Absatz) haben es schon in sich: was heißt „gesitige Verkommenheit“? Unwissenheit kann es nicht sein, weil die könnte man beheben. Sie haben offenbar in Marx’ Augen moralische Defizite. Welcher Art? Rauchen, saufen, unflätige Sprache, Hang zu illegaler Betätigug? Man erinnere sich an die Urteile in der Presse über die britischen Jugendlichen vor 2 Jahren: den Leuten wird bescheinigt, keine guten Staatsbürger, brauchbaren Arbeiter, zukünftige Familienväter/mütter zu sein, oder überhaupt eine Gefährdung der Gesellschaft darzustellen. Genauso Sarrazin in seinem Buch über die deutsche und türkischstämmige Unterschicht. Auch folgender Satz gibt Rätsel auf: „Die große Industrie zerriß den Schleier, der den Menschen ihren eignen gesellschaftlichen Produktionsprozeß versteckte und die verschiednen naturwüchsig besonderten Produktionszweige gegeneinander und sogar dem in jedem Zweig Eingeweihten zu Rätseln machte.“ (S 510, Mitte) Welcher „Schleier“ wurde hier zerrissen? Was ist mit diesem Satz gemeint? „Andrerseits reproduziert sie in ihrer kapitalistischen Form die alte Teilung der Arbeit mit ihren knöchernen Partikularitären.“ (S 511, Mitte) Mit „alte Teilung der Arbeit“ ist die manufakturmäßige oder zünftische insofern gemeint, als es dort eine Spezialisierung nach Geschicklichkeit gibt, die ständig angewandt wird, sodaß der Arbeiter in selbiger aufgeht. Was bedeutet folgender Satz: „Man hat gesehn, wie dieser absolute Widerspruch alle Ruhe, Festigkeit, Sicherheit der Lebenslage des Arbeiters aufhebt, ihm mit dem Arbeitsmittel beständig das Lebensmittel aus der Hand zu schlagen und mit seiner Teilfunktion ihn selbst überflüssig zu machen droht.“ (S 511, gegen Ende) Was ist der „absolute Widerspruch“, um den es da geht? Bedenklich scheint die hier unterstellte Definition der Natur und Gesellschaft: „Wenn aber der Wechsel der Arbeit sich jetzt nur als überwältigendes Naturgesetz und mit der blind zerstörenden Wirkung eines Naturgesetzes durchsetzt, das überall auf Hindernisse stößt, macht die große Industrie durch ihre Katastrophen selbst es zur Frage von Leben oder Tod, den Wechsel der Arbeiten und daher möglichste Vielseitigkeit der Arbeiter als allgemeines gesellschaftliches Produktionsgesetz anzuerkennen und seiner normalen Verwirklichung die Verhältnisse anzupassen.“ (S 511/512) Wie werden hier die Naturgesetze vorgestellt? Die Ansprüche des Kapitals an die Arbeiterschaft führen zu einem modernen Ausbildungswesen: „Sie macht es zu einer Frage von Leben oder Tod, die Ungeheuerlichkeit einer elenden, für das wechselnde Exploitationsbedürfnis des Kapitals in Reserve gehaltenen, disponiblen Arbeiterbevölkerung zu ersetzen durch die absolute Disponibilität des Menschen für wechselnde Arbeitserfordernisse; das Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum, für welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind.“ (S 512) Die Arbeiterklasse will betreut sein: um dem Kapital dienlich zu sein, müssen sie flexibel zu sein. Im Grunde das, was heute „lebenslanges Lernen“ heißt. Marx sieht diese Entwicklung als durchaus positiv – und da hat er ja zunächst einmal recht. Das Wissen der Gesellschaft wird zumindest teilweise weitergegeben. Das gab ihm Anlaß zur Hoffnung, die Vernunft und das Wissen würden sich durchsetzen. Er konnte ja auch nicht voraussehen, wie dieses ganze Ausbildungswesen sich einmal entwickeln würde und zu was für Verblödungsmaschinerien und Ideologieschleudern sich die Bildungsinstitutionen entwickeln würden. „unvermeidlichen Eroberung der politischen Gewalt durch die Arbeiterklasse“ (ebd.) Es reiht sich ein in andere Fehleinschätzungen Marx’ und noch mehr Engels’, die die parlamentarische Demokratie und den Sozialstaat als Fortschritt begrüßen und als Sprungbrett für die Revolution sehen, während sie eigenlich eine ganz gegenteilige Wirkung haben, nämlich die, das Proletariat als citoyen und bourgeois in die Klassengesellschaft einzugliedern. Dieser Absatz ist zudem eine wahre Fundgrube für Anhänger des Historischen Materialismus: „Die Entwicklung der Widersprüche einer geschichtlichen Produktionsform ist jedoch der einzig geschichtliche Weg ihrer Auflösung und Neugestaltung.“ (ebd.) Auch so ein „Naturgesetz“ ... Was ist hier gemeint? „Schuster, bleib bei deinem Leisten!, dieser Gipfel handwerksmäßiger Weisheit, wurde zur furchtbaren Narrheit von dem Moment, wo der Uhrmacher Watt die Dampfmaschine, der Barbier Arkwright den Kettenstuhl, der Juwelierarbeiter Fulton das Dampfschiff erfunden hatte.“ (S 512/513) Offenbar, daß Leute über ihre in ihrem Beruf erworbenen Kenntnisse zu Erfindern von Maschinen ganz anderer Art wurden und sich so aus der Arbeiter- in die Kapitalistenklasse hinaufdienten. Ein Beispiel für die notwendige, aber auch lohnende Flexibilität des arbeitenden Menschen und die Umgestaltung der Produktionsweise … Einiges zur Familie, Lohnarbeit und Jugendschutz auf S 513-517. An und für sich ist es ja nicht verkehrt, wenn Leute verschiedenen Alters und Geschlechts miteinander werken: „Ebenso leuchtet ein, daß die Zusammensetzung des kombinierten Arbeitspersonals aus Individuen beiderlei Geschlechts und der verschiedensten Altersstufen, obgleich in ihrer naturwüchsig brutalen, kapitalistischen Form, wo der Arbeiter für den Produktionsprozeß, nicht der Produktionsprozeß für den Arbeiter da ist, Pestquelle des Verderbs und der Sklaverei, unter entsprechenden Verhältnissen umgekehrt zur Quelle humaner Entwicklung umschlagen muß.“ (S 514, 2. Absatz) Diese Jugendschutzgesetze brauchten einige Zeit, um von bloßen Vorschlägen 1. zu bindenden Gesetzen zu werden, und 2. auf alle Arten von Arbeitsstätten ausgedehnt zu werden: „Inzwischen hatte die gesellschaftliche Lage sich geändert. Das Parlament wagte nicht, die Forderungen der Kommission von 1863 ebenso zurückzuweisen wie seinerzeit die von 1842.“ (S 517, 3. Absatz) Warum eigentlich? Was hatte dieses Umdenken verursacht? Schließlich sind Gesetze eine Sache, deren Umsetzung eine andere, was sich bis heute durch die gesamten Arbeitsschutzbestimmungen zieht: „Was also in dieser englischen Gesetzgebung von 1867 auffällt, ist einerseits die dem Parlament der herrschenden Klassen aufgezwungne Notwendigkeit, so außerordentliche und ausgedehnte Maßregeln gegen die Übergriffe der kapitalistischen Exploitation im Prinzip anzunehmen; andrerseits die Halbheit, der Widerwille und die mala fides, womit es diese Maßregeln dann wirklich ins Leben rief.“ (S 517, 1. Absatz) Inwiefern wirken sich die Interessen von Grundeigentümern und Unternehmern auf die Gesetzgebung aus? „Die Untersuchungskommission von 1862 schlug ebenfalls eine neue Regulierung der Bergwerksindustrie vor, einer Industrie, die sich von allen andern dadurch unterscheidet, daß bei ihr die Interessen von Grundbesitzern und industriellen Kapitalisten Hand in Hand gehn. Der Gegensatz dieser beiden Interessen hatte die Fabrikgesetzgebung begünstigt, die Abwesenheit dieses Gegensatzes reicht hin, die Verschleppung und Schikanen bei der Bergwerksgesetzgebung zu erklären.“ (S 519, 2. Absatz) ??? Die Vorstellung von Marx, allgemeine Arbeits- und Jugendschutz-Gesetzgebung fördere die Konzentration des Kapitals und die Organisierung der Arbeiterschaft, ist nur teilweise richtig: „Wenn die Verallgemeinerung der Fabrikgesetzgebung als physische und geistiges Schutzmittel der Arbeiterklasse unvermeidlich geworden ist, verallgemeinert und beschleunigt sie andrerseits, wie bereits angedeutet, die Verwandlung zerstreuter Arbeitsprozesse auf Zwergmaßstab in kombinierte Arbeitsprozesse auf großer, gesellschaftlicher Stufenleiter, also die Konzentration des Kapitals und die Alleinherrschaft des Fabrikregimes.“ (S 525/526) Konzentration des Kapitals heißt nicht Konzentration der Arbeiterschaft in einer Fabrik. Gerade heute wird doch viel outgesourct, und auch die KMU sind immer wieder in den Medien erwähnt. Das steht auch der Organisation der Arbeiterschaft entgegen – neben vielen anderen Faktoren.
10. Große Industrie und Agrikultur So wie beim Handwerk, so vermutet Marx auch in der Landwirtschaft das vollständige Verschwinden des kleinen Eigentümers und die Entstehung einer durchrationalisierten Landwirtschaft. Auch das ist nur teilweise eingetreten. Sowohl die Brache ist mit Stillegungsprämien befürert worden, als auch das Kleineigentum gerade in den mesiten postsozialistischen Staaten oder der Ex-DDR wieder eingeführt worden, anstatt die rationellere Methode der Umwandlung der Kooperativen in Großbetriebe anzuwenden. „Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist zugleich ein Fortschritt in Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. … Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (S 529/530) Der Kapitalismus hat halt auch zu jeder schädlichen Wirkung, die er hervorbringt, seine Gegengifte gefunden. In diesem Falle die moderne Medizin, den Sozialstaat und den Kunstdünger. Es untergräbt die Springquellen des Reichtums ebenso wie es sie auch wieder aufpäppelt, um sich weiter an ihnen bedienen zu können. Es ist später eine unselige Tradition des Marxismus geworden, mit Berufung auf dergleichen Stellen immer vom Untergang und von der Notwendigkeit der Revolution zu reden und das als höchst wissenschaftlich begründet zu behaupten, weil Marx es ja in Kapitel wie diesem „bewiesen“ hätte. Hurra! Wir sind durch dieses Elefanten-Kapitel durch! Was lernen wir daraus? |