Protokoll 28
16.12.  2012

13. KAPITEL: Maschinerie und große Industrie

Wiederholung: Auf Grundlage der Teilung der Arbeit in den Zünften und unter Umgehung ihrer Beschränkungen Einrichtung von Manufakturen – Manufaktur führt zu weiterer Teilung der Arbeit unter dem Kommando des Kapitals – Spezialisierung durch Zerlegung der einzelnen Arbeitsschritte – Geschicklichkeit wird zum Hindernis, Ersatz von Arbeitern durch Maschinen – Historische Bedeutung und Einsatz von Werkzeugmaschinen und Antriebsmaschinen
Das Paradox der industriellen kapitalistischen Produktion: Erhöhung der Stückzahl steigert den Profit, obwohl die Ware weniger Wert enthält – Ersetzung von Arbeitskraft durch Maschinen schafft Gewinn, obwohl der doch nur aus Arbeit kommen kann.

3. Nächste Wirkungen des maschinenmäßigen Betriebs auf den Arbeiter

a) Aneignung zuschüssiger Arbeitskräfte durch das Kapital. Weiber- und Kinderarbeit

„Weiber- und Kinderarbeit war ...  das erste Wort der kapitalistischen Anwendung der Maschinerie! Dies gewaltige Ersatzmittel von Arbeit und Arbeitern verwandelte sich damit sofort in ein Mittel, die Zahl der Lohnarbeiter zu vermehren durch Einreihung aller Mitglieder der Arbeiterfamilie, ohne Unterschied von Geschlecht und Alter, unter die unmittelbare Botmäßigkeit des Kapitals. Die Zwangsarbeit für den Kapitalisten usurpierte nicht nur die Stelle des Kinderspiels, sondern auch der freien Arbeit im häuslichen Kreis, innerhalb sittlicher Schranke, für die Familie selbst.“ (S 416, 3. Absatz)

Zunächst erhöhte der Einsatz von Maschinen also die Zahl der Beschäftigten, ersetzte geschickte durch ungeschickte, kräftige durch schwächere Arbeitskräfte, und verbilligte damit auch die Ware Arbeitskraft. Das hatte sehr nachteilige Folgen für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft. Für den Kapitalisten erhöhte es sowohl den Exploitationsgrad/die Rate des Mehrwerts als auch dessen Masse.

Was ist mit der „sittlichen Schranke“ gemeint? Vermtlich, daß es in den Behausungen der arbeitenden Menschheit dann ziemlich wüst ausschaut, was manchen Philantropen (siehe weiter unten) wieder als Beweis ihrer „Liederlichkeit“ dient.

Frage: Was hat eigentlich die Eltern bewogen, ihre Kinder in die Fabrik zu „verkaufen“? Am Anfang war es sicher die Aussicht auf Zusatzverdienst, später die bittere Not, mit den Löhnen aller Familienmitglieder über die Runden zu kommen.

„Die von der Maschinerie bewirkte Revolution im Rechtsverhältnis zwischen Käufer und Verkäufer der Arbeitskraft, so daß die ganze Transaktion selbst den Schein eines Kontrakts zwischen freien Personen verliert, bot dem englischen Parlament später den juristischen Entschuldigungsgrund für Staatseinmischung in das Fabrikwesen.“ (S 419, 1. Absatz)

Frage: Was bedeutet hier „juristischer Entschuldigungsgrund“?
Der wirkliche Grund war, daß die Reproduktion der Gesellschaft gefährdet war, erhöhte Kindersterblichkeit und jede Menge Krüppel machten ein Eingreifen nötig. Aber andererseits hatte der Staat keine andere Handhabe, um sich in die Privatgeschäfte seiner Untertanen einzumischen als den, daß hier die Grundlagen des Vertrages verletzt würden. Man sieht hier übrigens, woher der Jugendschutz kommt, wovor die Jugend geschützt werden soll, und was das Ziel dabei ist – daß sie später ihrer Arbeitspflicht nachkommen kann!
Ansonsten charakterisiert diese Episode schön das Verhältnis von Staat, Kapitalisten- und Arbeiterklasse: Das Recht dient dazu, das staatliche Gewaltmonopol zu sichern und die Ausbeutung zu ermöglichen und zu beaufsichtigen. Der Staat kann in private Verhältnisse (Arbeitsverhältnisse, Familie), die ihrerseits erst durch die rechtlichen Grundlagen möglich sind, nur dann eingreifen, wenn er dazu eine rechtliche Handhabe hat. Würde er sich darüber hinwegsetzen, so wäre dies Willkür. So aber herrscht der Rechtsstaat. Das ist übrigens nicht „liberale Ideologie“, sondern Praxis, Wesen des bürgerlichen Staates. Also: der Rechtstitel ist nicht „Vorwand“, „Entschuldigung“, sondern die angemessene Art der Einmischung.

Exkurs: Aber das Verbot, seine Kinder umzubringen, gab es doch immer!
Na ja, Kindsmord war wohl verboten, aber wieviele Fälle wurden geahndet? Wen hat das interessiert? Das Recht war außerdem damals nicht staatlich, sondern grundherrlich, oder städtisch – also regional verschieden formuliert.
Im Grunde haben Eltern immer noch das prinzipielle Verfügungsrecht über ihre Kinder. Bis Ende der 80-er Jahre war z.B. der Tatbestand des Kindesmißbrauchs in unserer Rechtssprechung unbekannt.

Die hohe Kindersterblichkeit rief offenbar ebenfalls den Staat auf den Plan. Es stellte sich heraus, daß die kapitalistische Kalkulation, die die Frauenarbeit zur Verbilligung einsetzte, zur oft fatalen Vernachlässigung der Sprößlinge führte. Außerdem fanden die Inspektoren heraus, daß diese Kalkulation bereits auch die Landwirtschaft erfaßt hatte. (S. 419-421) Interessant auch, daß die Ausübung von Lohnarbeit als „gewohnheitsmäßige Liederlichkeit“ (S. 421, Absatz 2) charakterisiert wird, während diese Bezeichnung doch ansonsten für Nicht-Arbeitende angewendet wird. Interessant auch die Bemerkung über die „kurzen Unterröcke“ unter den „entsprechenden Röcken“ (ebd.) – als ob der Verfasser des Zitats unter die Röcke geschaut hätte ...

Als Maßnahme gegen die übermäßige Verwendung jüngerer Kinder in Fabriken wurde die Pflicht zum Besuch von etwas namens „Schule“ festgesetzt, die vor allem Aufbewahrungsanstalten für Kinder waren. (Die allgemeine Schulpflicht wurde in England erst 1870 eingeführt, und 1880 nochmals verschärft, weil viele Eltern sich dennoch weigerten, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Damit ging auch die Einrichtung staatlicher Schulen einher.)
Die Anekdoten über die mangelnden Rechtschreibkenntnisse haben vermutlich zur Grundlage, daß damals noch gar keine einheitliche Rechtschreibung esxistierte.
Obwohl diese Schulen die Bedingung waren, Kinder arbeiten zu lassen, so waren die Fabrikanten trotzdem sauer, weil sie sie ein paar Stunden lang ihrer Verfügung entzogen haben.
Das oberste Ziel dieser „Schulen“ war offenbar nicht, daß Kinder dort etwas lernen sollen, sondern sie stellten nur einen Versuch dar, sie der Verfügungsgewalt der Fabrikherren auf einige Zeit zu entziehen.

Das Ergebnis der Einbeziehung der ganzen Bevölkerung in das System der Fabriksarbeit war sehr erfreulich für die Kapitalisten:

„Durch den überwiegenden Zusatz von Kindern und Weibern zum kombinierten Arbeitspersonal bricht die Maschinerie endlich den Widerstand, den der männliche Arbeiter in der Manufaktur der Despotie des Kapitals noch entgegensetzte.“ (S. 424, 2.Absatz)

Frauen und Kinder kann man einerseits leichter durch physische Gewalt zu etwas zwingen. Vor allem aber wurde die Konkurrenz der Lohnarbeiter in die Familie verlegt – alle Familienmitglieder brauchen einen Arbeitsplatz und die billigeren verdrängen die Voll-Lohn-Arbeiter.

Gegen die Zustände im Fabrikssektor bildete sich die Chartistenbewegung.

 

b) Verlängrung des Arbeitstags

Die Maschine ist dafür da, die Stückzahl zu erhöhen, indem sie von den Arbeitern angewendet wird. Jedes Stillstehen ist schon an uns für sich ärgerlich für den Fabriksbesitzer, weil er in dieser Zeit ja keinen Mehrwert einsaugen kann. Die Forderung von Maschinerie ist daher, möglichst durchgehend angewendet zu werden.

„Man denke nur! Ein Kapital, das 100.000 Pfd.St. gekostet hat, auch nur für einen Augenblick »nutzlos« zu machen! Es ist in der Tat himmelschreiend, daß einer unsrer Leute überhaupt jemals die Fabrik verläßt! Der wachsende Umfang der Maschinerie macht, wie der von Ashworth belehrte Senior einsieht, eine stets wachsende Verlängrung des Arbeitstags »wünschenswert«.“(S. 428, 3. Absatz)

Außerdem schläft die Konkurrenz nicht und es wird fieberhaft an der Verbesserung und auch Verwohlfeilerung der Maschinerie gearbeitet. („Steigerung der Produktivkraft“!) Dadurch wird die Maschine entwertet, auch wenn sie noch gut funktioniert: eine andere ist günstiger und schneller, produziert daher die Ware billiger und verdrängt diejenige des vorigen Erzeugers vom Markt. Daraus ergibt sich noch ein zusätzliches Postulat, die Maschine durchlaufend, ohne Stillstände einzusetzen.

Wiederholung: Konstantes Kapital (Gebäude, Rohstoffe, Schmiermittel, Geräte) gibt nur den Wert ab, der in ihm enthalten ist, so auch die Maschine. Variables Kapital (Arbeitskraft) setzt mit Arbeit Wert zu, und ist deswegen „variabel“, weil es über die in ihm investierte (Lohn-)Summe Wert schaffen kann, den Mehrwert.

Je neuer die Maschine, desto größer der Hunger, sie möglichst intensiv einzusetzen. Der Anspruch, mit höherer Produktivität Extraprofit einzustreifen, diktiert gleichsam den 24-Stunden-Betrieb dieses neuen Geräts.

Wiederholung: Erhöhung der Stückzahl pro gegebener Zeit durch Maschinerie schafft nicht mehr Mehrwert, erhöht also nicht die Mehrwertrate, gibt aber dem Unternehmer die Möglichkeit, sich einen Teil fremden Mehrwerts über den Markt anzueignen.

Ein neues Paradox: je höher die Produktivität, je mehr Waren in weniger Zeit erzeugt werden, desto weniger lebendige Arbeit wird zugesetzt – es gibt zwar hohe Mehrwertraten, aber geringere Mehrwertmasse. (In Österreich – jetzt dahingestellt, wie genau das jetzt berechnet wurde – wurde der Exploitationsgrad in einer Wirtschaftszeitung mit 1 : 2 angegeben, was einer 200%igen Mehrwertrate entspricht.)

Wiederholung bzw. Erinnerung: Produktion des relativen Mehrwerts ist eine Folge der Steigerung der Produktivkraft der Arbeit – über die Konkurrenz der Fabrikanten, die den neuen, höheren Exploitationsgrad der Arbeit verallgemeinert, verbilligt sich die Ware Arbeitskraft. Die Produktivitätssteigerung für sich erhöht im einzelnen Betrieb die Mehrwertrate noch nicht.

(Exkurs: Die Kartoffel hat sicher die Ware Arbeitskraft verbilligt, es hat aber lange gebraucht, bis diese Eigenschaft gewürdigt wurde. Sie wurde lange in Mitteleuropa nur als Zierpflanze verwendet.)

Zum obigen Widerspruch zwischen Arbeiteranzahl und Mehrwertrate:

„Es liegt also in der Anwendung der Maschinerie zur Produktion von Mehrwert ein immanenter Widerspruch, indem sie von den beiden Faktoren des Mehrwerts, den ein Kapital von gegebner Größe liefert, den einen Faktor, die Rate des Mehrwerts, nur dadurch vergrößert, daß sie den andren Faktor, die Arbeiterzahl, verkleinert. Dieser immanente Widerspruch tritt hervor, sobald mit der Verallgemeinerung der Maschinerie in einem Industriezweig der Wert der maschinenmäßig produzierten Ware zum regelnden gesellschaftlichen Wert aller Waren derselben Art wird, und es ist dieser Widerspruch, der wiederum das Kapital, ohne daß es sich dessen bewußt wäre, zur gewaltsamsten Verlängrung des Arbeitstags treibt, um die Abnahme in der verhältnismäßigen Anzahl der exploitierten Arbeiter durch Zunahme nicht nur der relativen, sondern auch absoluten Mehrarbeit zu kompensieren.“ (S. 429/430)

Sobald also eine erreichte Produktivitätsstufe allgemein geworden ist und der Extraprofit wegfällt, und das Potential der Lohnsenkung durch Ausschöpfen des Reservoirs von Frauen und Kindern auch ausgereizt ist, so kann der Kapitalist die Mehrwertrate in seinem Betrieb nur durch Verlängerung der Arbeitszeit steigern.

Der Exkurs zu den griechischen Denkern dient Marx dazu, zu bebildern, daß mit dem Lob der Maschinerie bei ihnen die Befreiung von Arbeit gepriesen wurde, im Kapitalismus hingegen die Unterordnung der Arbeit unter den maßlosen Zweck des Gewinns. Es ist allerdings auch ein Aufschrei des Bildungsbürgers gegen die Repräsentanten des Kapitals.

 

c) Intensifikation der Arbeit

Diskussion: Fällt Intensivierung der Arbeit unter absolute oder relative Mehrwertproduktion?
Wird die Mehrarbeit erhöht oder die notwendige Arbeit verringert?

Der Lohn wird ja dabei nicht verringert.
In der gleichen Arbeitszeit wird mehr hergestellt.
Aber es wird gleich viel Wert zugesetzt. Nur verteilt sich der jetzt auf mehr Waren, der Wertanteil pro Ware verringert sich also. Aber nicht das Wertprodukt in der gleichen Arbeitszeit, und daher auch nicht die Mehrwertrate. Die Verwohlfeilerung der Ware bringt nur dem Kapitalisten einen Extraprofit.

Lesen wir weiter, dann löst sich das Rätsel.

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„Indes begreift man, … daß“ (ab einem gewissen Punkt) „die Verlängrung des Arbeitstags nur mit schwächrem Intensitätsgrad der Arbeit und umgekehrt ein erhöhter Intensitätsgrad nur mit Verkürzung des Arbeitstags verträglich bleibt.“ (S. 432, 1. Absatz)

Es liegt dies vermutlich gar nicht am Protest des Arbeiters, sondern den Kalkulationen des Unternehmers. Sonst geht nämlich etwas kaputt, und dadurch entsteht ein empfindlicher Schaden.

Klärende Worte zur obigen Frage (Hervorhebung im Protokoll, nicht im Original):

„Sobald die allmählich anschwellende Empörung der Arbeiterklasse den Staat zwang, die Arbeitszeit gewaltsam zu verkürzen und zunächst der eigentlichen Fabrik einen Normalarbeitstag zu diktieren, von diesem Augenblick also, wo gesteigerte Produktion von Mehrwert durch Verlängrung der Arbeitstags ein für allemal abgeschnitten war, warf sich das Kapital mit aller Macht und vollem Bewußtsein auf die Produktion von relativem Mehrwert durch beschleunigte Entwicklung des Maschinensystems. Gleichzeitig tritt eine Änderung in dem Charakter des relativen Mehrwerts ein. Im allgemeinen besteht die Produktionsmethode des relativen Mehrwerts darin, durch gesteigerte Produktivkraft der Arbeit den Arbeiter zu befähigen, mit derselben Arbeitsausgabe in derselben Zeit mehr zu produzieren. Dieselbe Arbeitszeit setzt nach wie vor dem Gesamtprodukt denselben Wert zu, obgleich dieser unveränderte Tauschwert sich jetzt in mehr Gebrauchswerten darstellt und daher der Wert der einzelnen Ware sinkt.“ (ebd.)

Es ist natürlich klar: Wenn die Arbeitszeit gesetzlich beschränkt wird, so ist das dem Kapitalisten ein Ansporn, aus dem Arbeiter in der gegebenen Zeit mehr herauszuholen. Die Fabriksgesetzgebung in England hat also die Maschinenproduktion und den Erfindungsgeist der Fabrikanten angespornt.

So ist es ja heute auch noch. (Darin unterscheiden sich übrigens heute die potenten von den schwachbrüstigen Kapitalen, daß sie diese Intensivierung der Arbeit  durch entsprechenden Kapitaleinsatz auch hervorbringen können. Gesetzliche Arbeitszeitverkürzung schafft also auch neue Konkurrenzbedingungen.)

Man soll über der vom Staat verfügten Beschränkung der Arbeitszeit nicht übersehen, was für eine Vorarbeit der Gesetzgeber auch für die Zur-Verfügung-Stellung der Arbeitskräfte geleistet hat und noch leistet: In England seinerzeit das Unter Strafe-stellen von Müßiggang und Vagabundieren, die Einrichtung der Arbeitshäuser für dergleichen „Gesetzesbrecher“, und die Verwendung Irlands als Arbeitskräfte-Reservoir; oder in neuerer Zeit die Anwerbung von Gastarbeitern oder die Freizügigkeit innerhalb der EU.
Wer sich heute über den „Abbau“ des Sozialstaats aufregt, und den neoliberalismuskritisch als eine Beschränkung für das Kapital begreift, möge hier zur Kenntnis nehmen, daß sämtliche sozialstaatlichen Maßnahmen nur dazu dienen, das Verhältnis von Kapital und Arbeit gedeihlich für erstere und eben erträglich für letztere zu gestalten, wobei die Grenze für die Arbeiterklasse sehr dehnbar nach unten ist.

Sogar bei gegebener Maschinerie läßt sich da in Sachen Produktionssteigerung noch einiges drehen – durch Anordnung der Maschinen, und indem man diese schneller laufen läßt. Schließlich auch dadurch, daß man Stücklohn einführt und so die Bemühung um gesteigerte Warenmenge in die Eigeninitiative der Arbeiter verlegt.

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