Michail Bakunin, 1814-1876

Als Bakunin 1840 erstmals nach Westeuropa reiste, war er ein begeisterter Anhänger der deutschen Philosophie, vor allem Hegels. In Rußland hatte er sich in intellektuellen Kreisen bereits einen Ruf als Hegel-Kenner erworben.

„Bakunin veröffentlichte im Jahre 1838 in der Zeitschrift »Moskauer Beobachter« seine Übersetzung von Hegels Gymnasialreden, den ersten authentischen Hegeltext in russischer Sprache.“ (Zu den prägenden Leitbildern ...)

Es war der erklärte Grund seiner Reise nach Berlin – die sich dann als eine dauerhafte Übersiedlung erwies, – die Philosophie Hegels an der Stelle seines Wirkens zu studieren.

„Bakunin trieb mich dazu an, mich immer mehr in das Studium Hegels zu vertiefen; ich bemühte mich, mehr revolutionäre Elemente in seine strenge Wissenschaft einzuführen.“ schrieb Herzen später über die Anfänge seiner Freundschaft  mit Bakunin und dessen Drängen auf Wissenschaftlichkeit. (Wikipedia, Bakunin)


Hegel und die Wissenschaft

Man muß sich vergegenwärtigen, was die Philosophie Hegels für die damalige deutsche und, sofern der deutschen Sprache mächtig, europäische Jugend bedeutete: hier trat ein Philosoph auf und behauptete, alles sei erkennbar, alles sei begreifbar: der menschliche Geist ist unendlich, zu allem fähig. Es gibt keine Rätsel, alles Dunkle und Verworrene kann aufgeklärt und erkannt werden, sofern man sich die Mühe macht, etwas zu untersuchen und zu analysieren.

Diese Auffassung von Wissenschaft ist heute völlig ausgestorben. Stattdessen ist der Markt voll von Publikationen, die behaupten, ohnehin nichts wissen zu können, den – ohnehin nicht existierenden – „Dogmatismus der Wissenschaft“ bekämpfen zu wollen, und zu Esoterik und Selbstverwirklichung aufrufen. Von den geistes- und wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühlen der Universitäten wird gepredigt, daß Wissenschaft nur im Erdenken von Modellen und Methoden bestehen könne – wogegen sich Hegel ausgiebig verwehrt hat – und jeder Versuch, auf Wissen zu beharren, wird als naiv bis gefährlich bekämpft und aus dem Wissenschaftsbetrieb verbannt. Der dadurch entstehende Methoden-Einheitsbrei wird dann als Plagiat „entlarvt“, sobald man einem politischen Gegner etwas ans Zeug flicken will.

Während der Fortschritt auf dem Gebiet der Naturwissenschaften unbestreitbar ist, entwickeln sich die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften rückläufig: Es werden nicht nur keine neuen Erkenntnisse, kein wirkliches Wissen gewonnen, sondern auch die Erkenntnisse vorheriger Generationen verschwiegen, unter den Teppich gekehrt oder gleich als „Irrlehren“ verworfen.

Wenn Bakunin sich später gegen die „Herrschaft der Wissenschaft“ aussprach, so stellte das keine Absage an Wissenschaft dar, sondern an die Rolle, die sie in der bürgerlichen Gesellschaft einnimmt. Bakunin hat sich, entgegen dem, was von seinen Gegnern – und leider auch manchmal von seinen Anhängern – verbreitet wird, niemals gegen Wissen oder Wahrheit ausgesprochen. Er wies nur auf die gesellschaftliche Stellung der Wissenschaft hin, im Dienste des Kapitals und der Staatsmacht, und mahnte zur Vorsicht gegenüber anerkannten Autoritäten.
Dieser Unterschied zwischen Wissenschaft, die sich um Erklärung der Wirklichkeit bemüht, und dem, was unter dem Etikett  „Wissenschaft“ von Lehrstühlen aus verkündet wird, ist heute auch leider im allgemeinen Bewußtsein verlorengegangen. In „Gott und der Staat“ verwehrt Bakunin sich explizit gegen den Vorwurf, er sei ein Gegner der Wissenschaft, und wies auf diesen Unterschied hin:

„Für Bakunin stellt die privilegierte Wissenschaft eine Hürde dar, die durch die freie Wissenschaft ersetzt werden sollte.“ (Wikipedia, Bakunin)

Er wendete sich schließlich der Politik zu – als er erkannte, daß Wissenschaft, Philosophie und Politik sehr unterschiedliche Paar Schuhe waren:

„Im übrigen aber heilte mich Deutschland selbst von der philosophischen Krankheit, an der es litt; als ich mit den metaphysischen Fragen näher vertraut wurde, überzeugte ich mich ziemlich rasch von der Nichtigkeit und Eitelkeit der ganzen Metaphysik: ich suchte Leben in ihr, aber sie ist langweilig, wirkt tödlich; ich suchte Taten, sie aber ist die absolute Untätigkeit. Ich gab die Philosophie preis und ergab mich der Politik.“ (Beichte, nach: Wikipedia, Bakunin)

In den folgenden Jahren beteiligte er sich in politischen Zirkeln und an den Aufständen des revolutionären Europas, was ihm viele Jahre in Gefängnissen und eine Verbannung nach Sibirien einbrachte.

Als er nach seiner abenteuerlichen Flucht durch Sibirien und Amerika wieder nach Europa zurückkehrte, widmete er sich eine Zeitlang dem Panslawismus. Der


Panslawismus

gilt heutzutage als ein völlig überholter Propaganda-Schmäh des russischen Imperialismus. Bestenfalls als solcher wird er hin und wieder aus der Mottenkiste geholt, um das derzeitige Feindbild gegen Rußland irgendwie aufzuputzen. Und soviel stimmt natürlich, er hat sich eine Zeitlang als ein Instrument der imperialistischen Ansprüche Rußlands und Serbiens erwiesen, und hat diesbezüglich auch nicht ganz ausgedient.

In seinen Anfängen war der Panslawismus jedoch etwas ganz anderes. Die Intellektuellen verschiedener slawischer Nationalitäten besonnen sich auf Sprache und Kultur als ein gemeinsames Bindeglied. Ob Tschechen, Südslawen, Polen oder Russen, sie sahen in der Zusammenarbeit mit anderen slawischen Völkern eine Chance für Selbstbestimmung und Prosperität. Ihnen war es wichtig, das Verbindende über das Trennende zu stellen und sich über die sprachliche Verwandtschaft nach Verbündeten umzusehen.

In seinem 1866 geschriebenen „revolutionären Katechismus“ setzt Bakunin die „Nation“ dem „Staat“ als Organisationsform entgegen:

„Die Nation darf nichts sein als eine Föderation autonomer Provinzen.“ (РЕВОЛЮЦИОННЫЙ КАТЕХИЗИС)

Vieles in diesem revolutionären Programm liest sich sehr langweilig, weil das, was damals als revolutionäre Forderung erhoben wurde, heute unter dem Zepter von Staat und Kapital durchgesetzt ist, von der Gemeindeautonomie bis zum allgemeinen Wahlrecht und zusätzlichen Abstimmungen. Es ist also nicht, – oder nur nachrangig – die Organisationsform einer Gesellschaft dasjenige Moment, welches das Leben und Denken in dieser Gesellschaft bestimmt, sondern die ökonomischen und politischen Ziele, die in ihr vorherrschen.

Dennoch, ist es ganz falsch, Nation und Staat einander gegenüberzustellen? Es ist heute so selbstverständlich geworden, daß eine Sprache oder kulturelle Gemeinsamkeiten früher oder später in einem Staat münden müssen, daß es sich schon lohnt, einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken, ob das so sein muß? Ob hier nicht eine Usurpation durch die Staatsgewalt und ihre Anhänger geschieht, um das Prinzip des Staates als ureigenstes Interesse jedes seiner Bürger darzustellen? Weil man ohne Staat sozusagen nicht einmal mehr das Maul aufmachen könnte?

Eine Unterabteilung des Panslawismus war der Jugoslawismus, also die Idee, daß die Slawen des Balkans sich zusammentun sollten, um die ewige Fremdherrschaft und Kleinstaaterei abzuschütteln. Heute ist so ein Denken ganz verpönt, jede Erinnerung an ein friedliches Zusammenleben auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien soll aus dem Gedächtnis der Bewohner Bosniens, Kroatiens, Serbiens gelöscht werden und auf jeder Zigarettenschachtel in Bosnien muß 3x das gleiche draufstehen, damit jede eigene „Nationalität“ in ihrer Besonderheit gewürdigt wird.


Die „Propaganda der Tat“

wird Bakunin als Erfindung zugeschrieben, und dann meistens noch in einer falschen Auslegung, als Aufruf zum politischen Attentat. Dabei lagen Bakunin alle Gelüste zum Tyrannenmord völlig fern. Im Gegenteil: in seiner „Beichte“ versuchte er sogar, den Zar aller Reußen (Nikolaus den I., der die Dekabristen in den Verhören persönlich geohrfeigt hatte,) für seine eigenen Ansichten zu erwärmen. Auch der Begriff „Propaganda der Tat“ stammt nicht von Bakunin selbst.

Was er vertrat, ist besser mit dem Ausdruck „Insurrektionalismus“ beschrieben: das Anzetteln von Aufständen, das Schaffen von befreiten Gebieten, von denen aus ein revolutionärer Flächenbrand seinen Anfang nehmen sollte.

Der Mangel der Propaganda der Tat ist jedoch beiden Verfahrensweisen, dem Attentat wie dem Aufstand, gemeinsam: Von den anderen Menschen, zumindest der Mehrheit von ihnen wird angenommen, daß sie auch „dagegen“ seien, daß sie nur auf eine Gelegenheit warten, sich zu empören, und daß es nur des Vorbildes einiger unerschrockener Kämpfer bedürfe, um die anderen mitzureißen. Der Unterschied zwischen dem Revolutionär und den Massen wird nur in einem Unterschied der Entschlossenheit gesehen – im Geiste weiß man sich eins mit den jeweiligen Adressaten. Die jeweils anvisierten revolutionären Subjekte – Unterdrückte, Ausgebeutete, Arbeiter, Marginalisierte, usw. – sollen doch endlich ihre historischen Mission wahrnehmen und sich selbst und die Menschheit befreien, und dafür soll der revolutionäre Kämpfer ein Zeichen setzen und als Vorbild dienen.

Die Aufforderung, die Bevölkerung gegen die Obrigkeit aufzubringen, führte in Rußland zum „Gang ins Volk“: Hunderte von jungen Leuten aus der russischen Oberschicht entdeckten das Volk als natürlichen Verbündeten für ihren Kampf gegen die zaristische Despotie und gingen als Lehrer, Ärzte oder Verwaltungsbeamte in die Provinz, um dort den Willen zu Aufstand zu schüren. Noch bevor die staatliche Repression dem ein Ende setzte, mußten sie draufkommen, daß sie über das Bewußtsein der bäuerlichen Bevölkerung einem Irrtum aufgesessen waren.

Das Prinzip des Aufruhrs war schließlich auch der Anlaß für Bakunins


Konflikt mit Marx und Engels

Obwohl der Ausgangspunkt ihrer politischen Karrieren in der Philosophie Hegels wurzelte, hatten sich die Väter des wissenschaftlichen Sozialismus und Bakunin im Laufe der Jahre in sehr unterschiedliche Richtungen entwickelt. Zentralismus stand gegen Föderalismus, Wissenschaftlichkeit gegen Selbstbestimmung, Führerprinzip gegen Aufbau der Gesellschaft von unten und Fortschritt gegen Tradition.

Das alles spitzte sich zu, als Bakunin 1868 der Internationale beitrat. Man kann es nicht leugnen, er brachte einiges Leben in die Bude, sorgte für Erweiterung und machte die Internationale bekannter als es ihren Gründern lieb war. Sie hätten die Angelegenheit wahrscheinlich lieber als einen Studienzirkel mit etwas Parteienwirtschaft gesehen, und nicht als ein Sammelbecken für Aufrührer.

Der Höhe- und Endpunkt des gescheiterten Experiments „Internationale“ war der Aufstand der Pariser Commune. Das Wüten der Reaktion, die darauf folgte, gab Marx zu denken. Er wollte solche Opfer in Zukunft vermeiden und den bewaffneten Aufstand als Mittel der Politik verwerfen. Ob Marx und Engels voraussahen, daß der Ausschluß Bakunins und Guillaumes das Ende der Internationale bedeuten würde, weiß man nicht, aber sie nahmen es in Kauf. Lieber keine internationale Organisation, als eine solche. Sie verlegten sich auf den Parlamentarismus, als „Zwischenstufe“ bis zum endgültigen Zusammenbruch des Kapitalismus, der ihren Auffassungen zufolge so sicher kommen mußte wie das Amen im Gebet.

Damit waren die Gegner der bürgerlichen Gesellschaft in zwei Lager gespalten, die sich von da ab teilweise bis aufs Messer bekämpften. Anstatt sich im Kampf gegen Staat und Kapital zu vereinigen, sahen vor allem die Anhänger von Marx bzw. diejenigen, die sich später auf ihn beriefen, in den Anarchisten ihre gefährlichsten Gegner, die ihnen den Führungsanspruch als Vertreter der Arbeiterklasse madig machen wollten. Lieber verbündeten sie sich mit den bürgerlichen Kräften, lieber arbeiteten sie mit der Staatsgewalt zusammen, als sich mit den Anarchisten auszusöhnen. Der Gegensatz überlebte auch den Untergang der Sowjetunion.

Geblieben ist somit ein weiterer falscher Gegensatz, der das bürgerliche Denken bereichert. Gefühl gegen Verstand, Wissenschaft gegen Selbstverwirklichung, Demokratie gegen Faschismus, Mann gegen Frau – an solchen Fronten arbeitet sich der Verstand des modernen Menschen ab, während der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit oder zwischen Staatsgewalt und Individuum völlig aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden sind.

An Bakunin liegt es jedenfalls nicht, daß es so weit gekommen ist.

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Dieser Artikel wurde 2014 für die (inzwischen eingestellte) Zeitschrift „Erkenntnis“ der Pierre Ramus Gesellschaft geschrieben.

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