EINIGE
WORTE ZUR BESPRECHUNG DER REFORMEN IN OSTEUROPA DURCH DIE WESTLICHE PRESSE Die früheren Freunde der vom Kommunismus unterdrückten
Völker sind ehrlich betroffen: Jetzt ist es weg, das Reich des Bösen,
und anstatt daß die stillschweigend als Normalität unterstellten
mitteleuropäischen Zustände dort einreißen, versinken
die Staaten Osteuropas in Elend und Bürgerkrieg. Das geht manchem
Kommentator echt unter die Haut, und er zerbricht sich den Kopf darüber,
warum so viele gute Zutaten wohl ein so klägliches Ergebnis zeitigen
mögen. In einer Sache sind sich die westlichen Beobachter der Szene jedoch einig: Die Tatsache, daß dort drüben jetzt Marktwirtschaft, also Kapitalismus zumindest der Absicht nach eingeführt worden ist, darf keinesfalls als Grund genannt werden, warum in diesen Staaten jetzt massenhaftes Elend anfällt. Wenn Leute arbeitslos werden, weil sie in unter neue Ansprüche gesetzten Betrieben als überflüssig eingestuft werden; wenn eine Wohnung auf einmal für einen normalen Bürger des Landes zu einem unerschwinglichen Luxusgut wird, weil er mit der Kaufkraft ausländischer Firmen nicht konkurrieren kann; wenn der Erwerb von Grundnahrungsmitteln in Frage gestellt ist, weil die Preisfestsetzung des Verkäufers gegen die Kaufkraft des Konsumenten ausschlägt; so sind das eben die Auswirkungen der inzwischen freigesetzten Kalkulation auf Geschäft, auf Gewinn, die mehrheitlich gegen die grundlegendsten Bedürfnisse der Leute ausschlagen. So will das aber keiner der Kommentatoren sehen, der sich mit den genannten Erscheinungen auseinandersetzt. Sondern die weitverbreitete, aber nichtsdestoweniger verlogene Betrachtungsweise, daß der Kapitalismus eigentlich nichts als das Wohl der damit Beglückten verursachen kann und alle ungemütlichen Erscheinungen auf Dinge zurückzuführen sind, die ihm äußerlich sind, nichts mit ihm zu tun haben, – diese Lüge muß also aufrechterhalten werden. Und so gehen die Herren und Damen Journalisten und Analysten auf die Suche nach Gründen, warum aus den Ökonomien dort im Osten nichts wird. Glücklicherweise können sie dabei auf ein bewährtes Repertoire zurückgreifen, das schon seit einigen Jahrzehnten bei der Besprechung der persönlichen und nationalen Mißerfolge im freien Westen gern hergebetet wird.
Eine der angebotenen Erklärungen besteht darin, daß die früheren
Machthaber des jeweiligen früheren Ostblockstaates das Land so heruntergewirtschaftet
hätten, daß dort jetzt kein Gras, sprich kein Kapital, mehr
wächst. In dieser Interpretation werden die Unterschiede zwischen
den beiden Wirtschaftsformen getilgt, sie werden als unterschiedlich gelungene
Formen des Wirtschaftens überhaupt formell gleichgesetzt
und dann wird dem Sozialismus beschieden, er hätte das gleiche wie
der Westen gemacht, nur halt entsetzlich schlecht. Die Tatsache, daß früher in der DDR, Ungarn usw. weitaus mehr
produziert wurde als heute, und auch eine Menge davon im Westen verscherbelt
wurde, also den verwöhnten Ansprüchen westlicher Konsumenten
durchaus genügt hat, wird im Nachhinein als raffiniertes Täuschungsmanöver
der kommunistischen Herrscher besprochen: Ein einziges potemkinsches Dorf
hätten sie dort aufgebaut, um dem Westen Sand in die Augen zu streuen.
Man wundert sich wirklich, wie die Bewohner Osteuropas sich all die Jahre
gekleidet, ernährt und behaust haben und wie es diese Regimes
geschafft haben, über 40 Jahre lang dem Westen die Stirn zu bieten
und der Gewalt der NATO zu trotzen wenn das alles angeblich nur
ein Kartenhaus gewesen sein soll. In diese Rubrik gehört auch die Beschimpfung der dort jetzt regierenden
Politiker, sie seien dem alten Denken verhaftet und brächten
deshalb nichts Gescheites zustande: Ukraine: Am Bettelstab Daß die ukrainischen Politiker sich eben vor zwei Jahren die Quadratur
des Kreises vorgenommen haben, als sie mit einem den westlichen Ökonomen
abgeschauten Cocktail von Reformen ihrer Wirtschaft marktwirtschaftlichen
Schwung verpassen wollten, kann ja wohl nicht der Ausweis ihrer persönlichen
Unfähigkeit gewesen sein der Spiegel hat das ja schließlich
damals genauso gesehen, und dessen Redakteure kennen sich bekanntlich
überall auf der Welt bestens aus, von Magadan bis Timbuktu. Daher
kann die Ursache der Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit nur in
der Unfähigkeit der dortigen Herrschaften liegen Kutschma war bereits in den alten sozialistischen Zeiten etabliert, ist ein gewendeter
Kommunist, gehört also zum alten System und kann
daher jetzt nur Mist bauen, wo es um die Errichtung einer neuen marktwirtschaftlichen
Ordnung geht. Die einzige Antwort kann nur heißen: Unsere
Experten gehören schnellstens dorthin, auf daß in der
Ukraine nach dem Rechten gesehen werde! So deutlich wird das zwar wieder
nicht ausgesprochen, gemeint ist es aber irgendwie schon in diesem Sinne.
Damit wird der deutschen Politik ein Auftrag erteilt, (strenggenommen
wird er hinterhergetragen,) den sie aus eigenem Beschluß ohnehin
schon die längste Zeit wahrnimmt soweit es ihre Mittel erlauben.
So treffen sich Pressemeinung und Tagespolitik ganz souverän
Die kaum verbrämte Beschimpfung der Politiker Osteuropas leitet über zur Diagnose Nr 2: Es gibt Seilschaften, Überbleibsel
der alten Ordnung, die den Fortschritt hintertreiben, also innere Feinde Daß diese geheimnisvollen Schädlinge, ehemalige Stasi-, KGB-
oder sonstwas-Agenten oder auch kleine KP-Funktionäre in der Provinz,
einander irgendwelche Posten zuschanzen oder auf andere Art und Weise
aus der Patsche helfen, mag selbst der abgebrühteste Journalist nicht
direkt als einen Versuch zur Restauration der alten Ordnung bezeichnen
die Unverhältnismäßigkeit zwischen dem unterstellten
Ziel und den zu seiner Erreichnung angeblich eingesetzten Mitteln ist
zu offensichtlich. Daß es einfach um das bloße Überleben
in der Konkurrenz geht, das ja in einem Land mit fertig eingerichteter
Marktwirtschaft auch nicht anders geht wenn die Wahl lautet: Lohnarbeit
oder Verelendung, so hilft ja auch bei uns jemand seinen Freunden oder
Familienmitgliedern, wenn es in seiner Macht steht will man jedoch
diesen Bürgern osteuropäischer Länder nicht zugestehen.
Sondern es wird ihnen eine rein negativ bestimmte Absicht zugeschrieben:
Nicht die Verfolgung eigener Interessen beseelt sie beim Sich-Durchschlängeln,
sondern die Obstruktion der ansonsten heilbringenden Reformen. Das ist
sehr bequem: Wie bei denjenigen Reformen, die derzeit überall in
Osteuropa durchgeführt werden, jemals etwas herauskommen soll, das
mit Reichtumsproduktion und Wohlstand gleichgesetzt werden könnte,
wäre schwer zu begründen. So aber, mit den einmal eingeführten
unsichtbaren Bremsern, dem angeblichem Sand im ansonsten gut
geschmierten Getriebe der wohlwollend betrachteten Reformprogramme, kann
von Argumentationsnot keine Rede sein: Die guten Reformen greifen
nicht, weil sie gar nicht richtig Gültigkeit erlangen können.
Also gehört fest aufgeräumt und möglichst viele Leute gehören
von ihren Posten vertrieben oder am besten gleich in Gewahrsam genommen
so, wie es die bundesdeutsche Gauck-Behörde seit geraumer
Zeit treibt und wie es Jelzin vor einigen Monaten, als er noch als unser
Mann in Moskau angesehen wurde, vorbehaltslos zugestanden wurde. In diese Rubrik der Verhinderer von innen gehören übrigens streikende
Arbeiter wie die vor einem Jahrzehnt so bejubelten polnischen auch dazu,
ja genaugenommen jeder, der sich irgendwie wehmütig an alte Zeiten,
in dem es ihm besser ging, zurückerinnert. Wobei auf den kleinen Unterschied zwischen Postenschacher in der Verwaltung
und Streiks, um Entlassungen zu verhindern, hier schon hingewisen gehört,
obwohl er bei der Diagnose: Anhänger der alten Ordnung
völlig untergeht: Ob jetzt ein Ex-Kommunist oder ein Demokrat
bzw. Reformer einem Kombinat oder einer Gemeinde vorsteht,
oder einen Rang in der Regierung bekleidet, macht ungeachtet der Anfeindungen,
die ihm entgegenschlagen, nicht viel Unterschied. Es fällt ja den
westlichen Warnern stets schwer, inhaltliche Differenzen zwischen den
einzelnen Fraktionen oder Personen zu nennen, sodaß immer besonders
auf das Vorleben der Betreffenden hingewiesen werden muß. Eine Arbeitsplatzgarantie
hingegen, wie sie die polnischen Gruben- und andere Arbeiter hingegen
von Frau Suchocka gefordert haben, verträgt sich hingegen wirklich
nicht mit den Maßstäben, an denen inzwischen auch in Polen
jedes Stück Wirtschaft gemessen wird. Die Diagnose 2 weg mit Bremsern und anderen Staatsfeinden!
ist also recht ungemütlich für die Betroffenen, sie heißt:
Gewalt und Staatsterror werden ins Recht gesetzt und sollen sich ungehindert
austoben können. Wer nach diesen Schuldzuweisungen immer noch ein Theoriedefizit hat, dem kann geholfen werden mit der Diagnose 3: Die Menschen Osteuropas, durch den Sozialismus
(oder überhaupt die nationale Geschichte) deformiert, sind unfähig
zu Demokratie und Marktwirtschaft In dieser Abteilung kommt der ganz anerkannte und gesellschaftsfähige
Rassismus zu seinem Recht. Die Methode selbst wird ohnehin dauernd auf
Individuen und Völker angewendet: Das, was von ihnen verlangt wird,
erklärt der Rassist zu ihrer Naturbestimmung und mißt sie dann
daran, wie weit sie dieser Naturbestimmung entsprechen. So ist es für
den guten Deutschen eigentlich auch eine zweifelhaftes Kompliment, wenn
ihm bei dieser Art von Untersuchung ein positives Zeugnis ausgestellt
wird und er dafür gelobt wird, tüchtig, fleißig und verläßlich
zu sein: Derjenige, der ihn so positiv beurteilt, bekundet dabei ja nur,
daß er die Deutschen für gut beherrschbar und gut ausbeutbar
hält, diese Ansprüche an den Bürger also kennt und anerkennt. Völker, bei denen das Staat-Machen hingegen nicht so ganz hinhaut,
kommen bei diesem harten politischen Maßstab schlecht weg: Ihr nationaler
Schlamassel soll dann genauso in ihrer Natur liegen wie der Erfolg im
Volkscharakter der Deutschen, Amis oder Japsen. Also geht bei den Völkern
Osteuropas eine flotte Suche nach den Gründen ihres schlechten Abschneidens
in der internationalen Konkurrenz los. Einem aufmerksamen Beobachter fällt
vor allem die Beliebigkeit und schnelle Auswechselbarkeit dieser Abziehbilder
des Volkscharakters auf: Waren vor ein paar Jahren die Russen, Polen,
Ungarn usw. noch freiheitsliebende Völker voller Tatendrang und Eigeninitiative,
die sich nur wegen der ihnen übergestülpten Unrechtregimes nicht
entfalten konnten, so wird heute in ganz anderer Weise der Stab über
sie gebrochen: Man kann in diesen Tagen oft auch die Meinung hören, die russische
Mentalität mit ihrer Neigung zur Maßlosigkeit mache das Land
womöglich unfähig zur Demokratie.
Selbst wenn es tatsächlich
zu freien Wahlen kommen sollte, wird die russische Seele dafür sorgen,
daß keine demokratietauglichen Politiker an die Macht kommen, befürchtet
ein Kommentator der Zeitung »Megapolis Express«. (FAZ,
11.10.93) Der Kommentator der FAZ zitiert zwar nur Russen, der die selbe verächtliche
Meinung über ihre eigene Nation hegen, aber er stimmt offenbar mit
ihnen überein. Diejenige Sichtweise, die aus einem vorgefundenen
Mißstand welcher Art auch immer gleich eine im Volkscharakter verankerte
Naturnotwendigkeit ableitet, wird schließlich auch nicht besser
dadurch, daß sie von einem Individuum ausgesprochen wird, das selbst
dem solchermaßen abqualifizierten Kollektiv angehört. Auch die Ossis sind ein bißchen beschädigt in den Westen geraten
und weisen z.B. eine grundlegende Unfähigkeit zum Wohnungseigentum
auf: Der Gedanke an Eigentum und Vermögensbildung muß bei
den meisten Mietern erst geweckt werden. Viele können sich nicht
vorstellen, wie ihr Gebäude und ihre Wohnungen nach der Sanierung
aussehen
(FAZ, 8. 10. 93) Es scheint aber nicht nur an der schlummernden Vorstellungskraft zu mangeln,
der eigentliche Grund für diese Zögerlichkeit wird ein paar
Zeilen später genannt: Oft aber scheitert der Verkauf an der
mangelnden Kaufkraft der Mieter
, was ja anderswo auch gelegentlich
vorkommt. Dennoch führt diese Feststellung nicht dazu, das vorhergegangene
Urteil über die seelische Disposition der Ostdeutschen zurückzunehmen,
obwohl die beiden Dinge in sehr unterschiedlichem Verhältnis zum
Wohnungseigentum stehen: Wenn es jemandem am Geld fehlt, hilft die Vorstellungskraft
auch nichts. Sind die finanziellen Mittel jedoch vorhanden, so kann auf
die Phantasie problemlos verzichtet werden. Dieses Spiel läßt sich bei allen osteuropäischen Völkern
treiben, und wie Pilze schießen Experten aus dem Boden, die ihren
Senf zu den Besonderheiten des jeweiligen Volkes von sich geben, ohne
daß sie dabei die Ödheit und Einförmigkeit ihrer Ausführungen,
bei denen man für ein Volk problemlos genausogut ein anderes einsetzen
könnte, irgendwie stören würde. Eine letzte Möglichkeit, dumme Begründungen zu erfinden, besteht in einer eigenartigen Verwendung sprachlicher Mittel: 4. Der Mißbrauch grammatikalischer Partikel In dieser Abteilung der Ursachenforschung kommt zunächst das Wörtchen
noch mitsamt seinem Zwillingsbruder noch nicht
zu großen Ehren. Babuschkas verkaufen ihren Hausrat, um sich das
Geld für Lebensmittel zu verdienen? Noch nicht ganz Marktwirtschaft,
aber auf dem Weg dorthin! Bauern fangen mit Holzpflügen und einem
verhungerten Esel auf eigener Scholle zu wirtschaften an? Laßt uns
das doch als Anfang einer blühenden Landwirtschaft betrachten! Es
wird eben noch eine Weile dauern, bis es so weit ist. Schmuggler und fliegende
Händler, gerade Produkte einer gescheiterten Ökonomie, die über
die herkömmlichen Wege die Ware gar nicht mehr in Umlauf bringen
kann, werden als Vorboten künftiger Prosperität besprochen,
die armseligen Methoden des Zurechtkommens der Normalbürger als Zeichen
von sich entwickelnder Privatinitiative, und die sich auf solchem Boden
notwendig entwickelnde Kriminalität als Kinderkrankheit eines sich
neu ordnenden Staatswesens. Auf gehts: gegen die unfähigen Politiker dort drüben, gegen
die inneren Schädlinge dieser Staatengebilde, gegen das Volk, das
auch nichts anderes verdient als das, was es bekommt: Auf diese Art und
Weise reden die Vertreter der Medien dem deutschen Großmachtstreben
das Wort, bieten sich an als diensteifrige Schmeichler der neuen Kolonisatoren
des Ostens und der NATO-Kriegstreiber auf dem Balkan: So wird der Boden
bereitet für künftige gewaltsame Einmischungen in diesen Weltgegenden
und für das gute Gewissen derer, die bei diesen ehrgeizigen Unternehmungen
eingesetzt werden. Auf zu neuen Ufern! ***
(Publiziert in: FORVM österreichische 2-monatlich erscheinde Zeitschrift, 1995 eingestellt. Der Artikel erschien im Juni 1994) |