Die Ukraine im Jahr 6 der Unabhängigkeit: Außer Spesen nix gewesen

 

1. Vom Wesen der Souveränität

Souveränität, das heißt: Eine Staatsmacht, eine Regierung hat die unumschränkte Verfügungsgewalt über ihr Territorium, ihre Bevölkerung, und alles dazugehörige, Luftraum, Meer, etc. Aus dieser Verfügung bezieht sie die Mittel für ihre Machtausübung, zahlt ihre Beamten und Soldaten, kauft sich das nötige Kriegsgerät, baut Straßen, Schulen etc. An ihrer Wirtschaft bedient sich diese Staatsmacht erstens über ihr Geld, das sie exklusiv druckt und in Umlauf bringt, über Steuern und Anleihen, also Kredite, die sie bei der eigenen Bevölkerung nimmt. Auf diese soliden Grundlagen gestützt, setzt sich eine Regierung mit ihresgleichen, also anderen Staatsmächten, ins Benehmen und versucht sie für die eigenen Interessen nutzbar zu machen, – in dem Ausmaß, in welchem sich die anderen ihren Wünschen anbequemen.
Mit Ausnahme einiger weniger Staaten, deren jeweilige Stimme in der „internationalen Staatengemeinschaft“ entsprechend ins Gewicht fällt, ist dieser Zustand für die meisten Staatsgebilde der Welt ein Ideal. Über Handels- und Zollabkommen, Kreditabhängigkeiten und Militärhilfe sind deren Regierungen genötigt, sich bei ihrer Innen-, Wirtschafts-, Außen- und Sozialpolitik auswärtigen Interessen zu fügen, die denjenigen der betroffenen Staatsmacht zuwiderlaufen und diesen ärgerlichen Zustand der Abhängigkeit nur vertiefen und verfestigen. In diese große Staatenfamilie gehört auch die Ukraine.

Entgegen anderslautenden Gerüchten ist die Souveränität ein verflixtes Gut, deren Besitz ebenso wie deren Mangel den Bürgern aller Staaten schlecht bekommt: Dort, wo die einheimischen Politiker mit ihrer Bevölkerung nach eigenem Gutdünken schalten und walten können, sind die Leute genau so wie in einem postkolonialen, abhängigen Staat zum Arbeiten und Kriegführen vorgesehen; sie dürfen, sofern sie dabei überflüssig sind, im Schatten der Banken betteln, oder sie dürfen als Weltpolizisten andere Völker gewalttätig zur Räson bringen.

Erst recht bekommen die meisten Bürger der Ukraine das Streben ihres Staates nach Souveränität ohne die entsprechenden Grundlagen negativ zu spüren – als eine ständige Bedrohung der eigenen Existenz.


2. Abhängigkeit Richtung Osten: Die nicht aufzulösende Verflechtung mit Rußland

Die Ukraine ist in ihrem Erdöl- und Erdgasbedarf wegen der Lage ihrer Pipelines völlig von russischen Lieferungen abhängig. Ebenso bezieht sie die Brennelemente für ihre Kernkraftwerke von Rußland, bisher zum Teil im Austausch für die seinerzeit abtransportierten Nuklear-Sprengköpfe, ab Ende 97 aber nur mehr gegen $. Im März mußte einer der beiden noch in Betrieb befindlichen Reaktoren von Tschernobyl ausgeschaltet werden, weil der russische Partner sich geweigert hatte, die nötigen Brennelemente auf Pump zu liefern.

Die Verhandlungen der ukrainischen Seite mit den russischen Firmen und Politikern sind zäh und unerfreulich für erstere, denn die Ukraine braucht die Energieträger zwar unbedingt, um die Reste ihrer Industrie in Gang zu halten und ihre Bevölkerung über den Winter zu bringen, sie hat aber nicht viel dafür zu bieten. Harte Währung ist ein sehr flüchtiges Element in der ukrainischen Staatskasse, und es scheint auch sehr wenige Waren zu geben, die die Ukraine gegen das Öl und Gas eintauschen könnte. Daher enden diese Verhandlungen statt bloß mit Zahlungszusagen oft auch mit allerlei Zugeständnissen an die russischen Verhandlungspartner, die dann den innenpolitischen Streit um den Vorwurf bereichern, hier seien wieder einmal die nationalen Interessen verraten worden.

Die Ukraine besitzt zwar eine Rüstungsindustrie, aber sie ist von russischen Komponenten abhängig: Im März versprachen russische Politiker der indischen Regierung, einen Panzerverkauf der Ukraine an Pakistan zu unterbinden, indem die russischen Betriebe die benötigten Teile für die Panzer nicht an die Ukraine liefern würden. Das läßt auch auf die Ausrüstung der ukrainischen Armee selbst schließen: Da läuft vermutlich ohne russische Lieferungen auch nicht viel.

Ein weiterer Dauerbrenner in der Zwangsehe zwischen den beiden Staaten ist der Zank um die Schwarzmeerflotte und ihren Stützpunkt Sevastopol. Wenn westliche Militärexperten feststellen: „Die Unabhängigkeit der Ukraine ist bis auf weiteres nicht den eigenen Anstrengungen oder gar westlichen Garantien … sondern primär der russischen Schwäche zu verdanken“, so gibt das den Hintergrund dieses Streites treffend wieder. Die Ukraine ihrerseits beharrt wohl auf ihrem Territorium, ebenso auf ihrem Anteil an der Flotte, aber ohne dafür eine Verwendung zu haben. Das militärische Erbe einer Weltmacht ist für einen Staat, der gar keine Vormachtstellung im Schwarzen Meer anstrebt, etwas zu groß dimensioniert, und die Ukraine hätte auch gar nicht die nötigen Mittel, um eine solche Flotte zu erhalten. Das ist eigentlich ein Paradox in der Staatenwelt: Denn im Prinzip hätte ja jede Regierung gerne möglichst viel und möglichst gutes Gerät, um sich damit bei ihren Nachbarn den gehörigen Respekt zu verschaffen. Die Ukraine jedoch kalkuliert mit ihrem Waffenarsenal von vornherein als einer Mitgift für einen NATO-Beitritt, mit ihrem Territorium als einem einzigen großen Stützpunkt für die anvisierten westlichen Bündnispartner – eine Berechnung, die aber aufgrund ihrer Rußland-Abhängigkeit bis auf weiteres nicht aufgeht.

Auch bei der privaten Wirtschaftstätigkeit der Bevölkerung will die Trennung von Rußland nicht so recht in Gang kommen: Die mit der Einführung des Hryvna verbundene Währungsreform der Ukraine im September des Vorjahres war von einem Verbot des Devisentransfers begleitet. Dieses Verbot richtete sich nicht gegen $ und DM, sondern gegen den Rubel: Es war ein Versuch der ukrainischen Regierung, sich selbst über die Gültigkeit des eigenen Zahlungsmittels zu informieren und ihre Bürger (wieder einmal) auf dieses zu verpflichten. Im Oktober beschloß Rußland, eine Importsteuer auf ukrainische Waren zu erheben und zu diesem Zweck Zollämter zu errichten: Es gab also bis dahin keine. Der Osten der Ukraine ist somit ein Gebiet, in dem der Rubel als Zahlungsmittel mindestens genausoviel zählt wie die diversen ukrainischen Geldscheine, und der über gar keine richtige Landesgrenze zum Nachbarland verfügt.


3. Abhängigkeit Richtung Westen: IWF, Tschernobyl-Kredite, NATO

Zur Pflege ihrer Souveränität bedarf die Ukraine der Hilfe aus dem Westen. Damit die ukrainische Regierung überhaupt Kredite in harter Währung erhält, die teilweise für die Bezahlung russischer Energielieferungen verwendet werden, ferner für allgemeine Staatsnotwendigkeiten, wie das Eröffnen und Aufrechterhalten von Botschaften rund um die Welt, muß die Ukraine ihre Währungspolitik der Aufsicht des IWF unterstellen. Der drängt auf Bekämpfung der Inflation durch Geldmengenbeschränkung. Dies hat in der Ukraine die gleichen Folgen wie in Rußland und anderen Staaten, die den Schlüssel ihrer Banknotenpresse beim IWF abgeben mußten: Der Staat, der immer noch der größte Arbeitgeber im Lande ist – im Sommer 1996 war laut FAZ 1% der Betriebe privatisiert –, zahlt eben seinen Angestellten monatelang keinen Lohn, seinen Pensionisten keine Pension. Im Donbass sollen manche Bergarbeiter seit 1995 keinen Lohn mehr erhalten haben.

Mit der Atomruine in Tschernobyl versucht die ukrainische Regierung ebenfalls ständig, Hilfsgelder und Kredite an Land zu ziehen. Die Schreckensszenarios, die dabei ausgemalt werden – der Beton-Sarkophag des Katastrophen-Reaktors würde bald platzen, usw . – mögen realistisch oder übertrieben sein, sicher ist jedenfalls, daß die Normalität des Reaktorbetriebes eine ständige Gesundheitsschädigung der dort Beschäftigten und der gesamten Umgebung einschließlich des 90 km entfernten Kiew zur Folge hat. Die Stillegungshilfen und -kredite, die die Ukraine für das Abstellen dieser Giftschleuder zugesagt bekommt und wohl auch erhalten wird, lösen das Problem allerdings nicht: Die derzeit noch betriebenen 2 der 4 Reaktoren sind ja nur deshalb weiter in Betrieb, weil die dort erzeugte Energie nicht entbehrt werden kann: Im vergangen Winter stammte die Hälfte der Stromversorgung Kiews aus Tschernobyl.

Die Regierung der Ukraine betrachtet die Integration in die NATO ebenso wie die Staatsmänner der Visegrád-Staaten als eine sichere Verankerung im Westen und als Schutz gegen etwaige Wiedereingliederungsversuche oder Territorialansprüche Rußlands. Andererseits ist sie sich bewußt, daß ein Staat, der sich in einer solchen Abhängigkeit von Rußland befindet wie die Ukraine, wenig Chancen auf eine Aufnahme in diesen exklusiven Klub hat: Das imperialistische Militärbündnis wäre schlecht bedient mit einem Mitglied, dem die gegnerische Macht jederzeit mit rein zivilen Mitteln praktisch die ganze Wirtschaft lahmlegen kann. So beteuern NATO-Verteidigungsminister und ukrainische Politiker regelmäßig, wie gerne sie doch zueinander kommen wollten, versichern einander gegenseitig durch die Blume ihre Abneigung gegen den russischen Bären – und trennen sich wieder unverrichteter Dinge.


4. Ein willkommener Sündenbock: volksfremde Elemente, oder: Das „Nationalitätenproblem“ der Ukraine

Ein guter Teil der ukrainischen Bevölkerung sind ethnische Russen und dies wird von der Regierung als großes Problem für die Ukraine betrachtet. Dies ist eine leichte Untertreibung, denn eigentlich bedeutet für diesen Staat die gesamte Bevölkerung ein einziges Problem: Sie ist zunächst einfach da, will essen, sich kleiden und die Stromrechnung bezahlen, reflektiert daher auf ihre Gehälter, produziert aber gleichzeitig zuwenig und das oft auch noch in Schwarzarbeit, zahlt keine Steuern und behilft sich oft genug mit kriminellen Machenschaften bei ihren Zahlungsschwierigkeiten. Zu der traditionellen Unart des unmäßigen Alkoholkonsums gesellt sich auch noch die neumodische, verwestlichte der Drogensucht: Mit einem Wort, die Ukrainer als Ganzes bringen fast nichts ein, verursachen aber dennoch jede Menge Unkosten.

Es mag ja auch vorkommen, daß russische Ukrainer ihr Elend dem Umstand zuschreiben, daß sie sich im falschem Staat befinden, in einem, der nicht der ihrige ist. Das ist zwar etwas dümmlich, denn das Nicht-Zahlen von Gehältern in Verbindung mit dem ständigen Steigen der Preise ist in Rußland ebenfalls üblich. Aber mit oder ohne anti-ukrainische Parolen: Für die ukrainischen Staatsmänner werden Demonstrationen und Streiks in den mehrheitlich russisch besiedelten Gebieten von vornherein als nationalistische, separatistische Machinationen qualifiziert, die den Tatbestand des Hochverrates erfüllen und mit aller Härte zurückgewiesen gehören: Eine staatspolitisch motiviertes Vorgehen, mit der der Grund des Volksunmutes nicht in den einheimischen Zuständen geortet wird, sondern in feindlichen, auswärtigen Interessen. Wer also für seit Monaten überfällige Löhne demonstriert und dabei auch noch Züge blockiert, wie die Bergarbeiter im Donbass im Sommer 1996, gefährdet die Einheit und Souveränität der Ukraine und wird dafür vor Gericht gestellt.

Die totale Abhängigkeit in beide Richtungen belebt die politische Konkurrenz dieses Landes, das „Randgebiet“ heißt und dennoch so gerne eine respektable Macht wäre: Ukrainische Regierungs- und Parlamentsmitglieder beschuldigen einander, das Land entweder an den Westen zu verkaufen oder an Rußland zu verraten, die Ostukraine fühlt sich von der Westukraine im Stich gelassen, und umgekehrt. Und das mit wechselnden Fronten: Der jetzige Präsident Kutschma galt vor seiner Wahl als „Russenknecht“, seinen Wahlsieg hat er mit allen möglichen Versprechungen an die russischsprachige Bevölkerung errungen. Die hat er nicht eingehalten, und inzwischen betrachten ihn Freund und Feind als „westorientiert“.


5. Der wirtschaftliche Flop: Dieser Staat hat nichts zu verkaufen

Von der seinerzeit durchaus beachtlichen Industrie der Ukraine ist nicht viel übriggeblieben. Ihre Betriebe sind entweder wegen Energiemangel, oder wegen Mangel an Ersatzteilen für Maschinen, oder wegen fehlender Zulieferungen, oder durch Wegfall ihrer Märkte zum Zusperren genötigt wor-den. Der Umwelt bekommt das gut, meinen Optimisten, das Schwarze Meer sei in den letzten Jahren viel sauberer geworden. Irgend etwas wird zwar noch in der Ukraine produziert, aber darüber gibt es keine genauen Angaben, weil jedes bißchen Geschäft und Gewinn vor den Steuerbehörden verheimlicht wird und daher nicht bis in die Statistiken gelangt. Würden diese kleinen Geschäfte und Herumschiebereien nämlich auch noch zur Besteuerung veranlagt, so wären sie endgültig Verlustgeschäfte und könnten deshalb genausogut unterlassen werden.

Die landwirtschaftliche Produktion der einstigen Kornkammer ist in den meisten Bereichen um mehr als die Hälfte zurückgegangen. An den kläglichen Resten bedient sich außerdem die Regierung über die sogenannte Staatsreserve, mit der sie noch immer Bartergeschäfte mit den GUS-Staaten abwickelt, also vor allem für Energielieferungen bezahlt.

Sonst hat dieses Land nichts zu exportieren: 90% aller Waren sind Importwaren, die ukrainischen Häfen sind fast leer. (Bei einem Lokalaugenschein der Verfasserin verließ gerade eine Schiffsladung Schrott den Hafen von Odessa. Nach Auskunft der Einheimischen kommt das eher selten vor.) Zur Vermeidung von Kapitalflucht schreibt ein Gesetz ausgerechnet Warenimport als „Äquivalent“ für Devisenexport vor. Damit wird anerkannt, daß ständig Geld, und zwar Devisen, also die heute einzig anerkannte Form des Reichtums, das Land verläßt; – die Wirkungen dieses Abflusses sollen ausgerechnet dadurch kompensiert werden, daß Import zur Pflicht gemacht wird.

Die Ukraine ist eines der vielen traurigen Beispiele dafür, wie der gesamte Reichtum eines Landes schlagartig entwertet ist, sobald seine Produkte sich als Waren auf dem Weltmarkt bewähren müssen. Sie lebt daher nur auf Pump und verschuldet sich rasant bei westlichen Staaten, Institutionen und Banken; innerhalb der GUS sind ebenfalls beachtliche Summen aufgelaufen.

Der hauptsächliche Exportartikel des Landes sind daher Menschen in den verschiedensten Funktionen: Ukrainische Söldner kämpften in Georgien und Abchasien, ukrainische Bauarbeiter wurden für den Wiederaufbau in Groznyj angeheuert, und zwar noch während erbitterter Kämpfe zwischen Tschetschenen und der Roten Armee. Ukrainische Soldaten sind bei UNO-Missionen im Einsatz, damit versucht die Ukraine etwas Geld für ihre Armee zu „erwirtschaften“. Die Zahl der in der Slowakei illegal beschäftigten Ukrainer wird auf 30.000 geschätzt. Ähnlich wird es wohl in Polen aussehen. Ukrainische Einkaufstouristen bevölkern Istanbuler Billigabsteigen. Im Jänner wurde in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankowsk ein Handel mit Neugeborenen aufgedeckt. Für Preise zwischen 6.000 und 13.000 $ wurden die Babies, insgesamt 130 Stück, verkauft – angeblich an adoptionswillige Westler.

Wahrscheinlich machen die Ukrainer bald auch als Organ- und Blutspender Karriere: Ihre Chancen sind gut, schließlich liegen sie geographisch günstiger als Brasilien oder Indien.

(AK – Analyse und Kritik Nr. 401, 10.4. 1997)

 

Fortsetzung 2014: Imperialistische Gegensätze und mediale Scharfmacherei – Gerangel um die Ukraine

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