DIE BESPRECHUNG DER OKTOBERREVOLUTION HEUTE: NEGATIVE URTEILE, GEISTERSUBJEKTE, MORALISCHE ENTRÜSTUNG UND EIN OFFENSICHTLICHER HORROR VOR DER „SOZIALEN FRAGE“

Der der Veranstaltung vorangestellte Text von Robert S. hält in sehr traditioneller Art das Konzept der Revolution – gut – gegen seine schlechte Verwirklichung hoch. Und das ist meiner Ansicht nach die Crux der ganzen Besprechung der Oktoberrevolution. Es wird angenommen, die Absichten seien an und für sich gut gewesen, aber dann wären die ungünstigen Bedingungen eingetreten und dann kam lauter Mist heraus. So gestaltet sich die Besprechung von vornherein zu einem Sammelsurium negativer Bestimmungen.

ungünstige Bedingungen

etwas ist nicht eingetreten

unter dem Eindruck der Interventionsarmeen

usw.

Auch der Text von Franz S. geht teilweise – nicht ausschließlich – in diese Richtung.

Die in dem Text von Robert aufgeworfene Frage: „Unter welchen Bedingungen kann man Revolutionen durchführen?“ beinhaltet die Unklarheit: wer ist „man“? Also wer will eine Revo, und mit welchen Zielen?

Der zweite Ansatz von Robert, bezüglich der Übernahme des Staatsapparates, bleibt in der Logik der negativen Bestimmung. Es sei ein „Fehler“ gewesen. „Fehler“ gegenüber welchen Zielen? Ein Fehler kann es ja nur gewesen sein, wenn es ihren Zielen widersprochen hätte. Aber die Übernahme alter Strukturen war den Zielen der Bolschewiki vielleicht durchaus angemessen. Der Staatsapparat selber war ihnen ja recht. Und daß sie dann nicht das ganze Personal auf einmal auswechseln konnten, ist begreiflich.

Ich wäre dafür, sich einmal anzuschauen, was die Bolschewiki oder zumindest Lenin wollten. Die Kritik, die die Sozialdemokratie – auch die russische – am Kapitalismus hatten, ist nämlich auch heute üblich, und sie zielt auf einen idealen Staat mit gerechter Verteilung des Reichtums, wo der Gegensatz zwischen Staat und Bürger gelöscht ist.

Die zwei Seiten des modernen Bürgers werden gegeneinander ausgespielt: der citoyen, der Staatsbürger, wird gegen den bourgeois, den Besitzbürger ausgespielt und gegen ihn ins Recht gesetzt. So ist auch die von Lenin übernommene und in Staat und Revolution strapazierte Engels’sche Phrase vom „Absterben des Staates“ zu verstehen: wenn oben und unten in Harmonie sind, so ist eben der Staat auch keiner mehr.
Das war das Programm der Bolschewiki, und das möchte ich jetzt näher beleuchten.

Weil die berühmte Köchin auch in Roberts Text aufgetaucht ist, so bin ich erst einmal der Sache nachgegangen, wie die ins Spiel kommt.

Lenin veröffentlichte im Oktober 1917 in der neu gegründeten Zeitung „Aufklärung“ einen Artikel mit der Überschrift „Werden sich die Bolschewiken an der Macht halten?“, in der er unter anderem schreibt:

„Wir sind keine Utopisten. Wir wissen daß ein beliebiger ungelernter Arbeiter oder eine beliebige Köchin derzeit nicht imstande sind, an der Verwaltung des Staates teilzunehmen (in die Verwaltung des Staates einzutreten). Darin stimmen wir mit den Kadetten ... (und anderen) überein.
Wir unterscheiden uns von ihnen jedoch darin, daß wir dem Vorurteil nicht anhängen, daß diese Funktion nur Beamte aus reichen Familien ausüben können.
Wir fordern, daß das Erlernen der Angelegenheiten der Staatsverwaltung von bewußten Arbeitern und Soldaten durchgeführt wird und daß diese baldigst in Angriff zu nehmen ist, das heißt, alle Werktätigen, alle Armen sind baldigst zum Erlernen dessen anzuhalten.“ (gewinnen, fesseln, einbeziehn)

(Мы требуем, чтобы обучение делу государственного управления велось сознательными рабочими и солдатами и чтобы начато было оно немедленно, то есть к обучению этому немедленно начали привлекать всех трудящихся, всю бедноту.)

Das, was ansteht, ist im Passiv gehalten. Die Subjekte sind nicht genannt. Die Botschaft heißt also notwendigerweise: Wir müssen den Massen beibringen, wie man regiert. Das ist das, worum es uns geht, deswegen wollen wir an die Macht und so werden wir uns an der Macht halten. Das Regieren heißt vornehm und neutral „Staatsverwaltung“ und ist gereinigt von allen Inhalten, die sich so ein Staat, eine Regierung vornehmen könnten. Es ist nur eine Frage der Unterweisung, dann kann das praktisch jeder.

Aus ihrem Interesse an einem guten Staat aller Bürger, der gerecht verteilt und deshalb Respekt verdient, ergibt sich auch die völlige Vernachlässigung von anderen Aspekten, die den bürgerlichen, also kapitalistischen Staat ausmachen.

Die außenpolitische und ökonomische Blauäugigkeit der neuen Machthaber zeigt sich an den zwei Dekreten, dem über das Land und dem über den Frieden, die beide heute und morgen vor 100 Jahren erlassen wurden.

Im einen, dem Dekret über den Frieden zeigt sich die verkehrte Imperialismustheorie Lenins, derzufolge der Staatsapparat vom Monopolkapital beherrscht wird und gar keine eigenen Zwecke hat, sondern lediglich der Vollstrecker der Ziele des Kapitals ist.

Dazu gesellte sich die ebenfalls verkehrte Vorstellung des an und für sich revolutionären Proletariats, das nur durch falsche Führer – Verräter – in die Irre geführt worden ist.

(Darüber müßte man sich auch einmal verständigen, was an der Idee vom revolutionären Subjekt und dem Klassenbewußtsein falsch ist. Da war immer der Wunsch der Vater des Gedankens.)
Nur so ist es zu erklären, daß Lenin ein Dekret erließ, in dem er großspurig und unilateral den Frieden für Rußland verkündete.

Wie kann das sein? Zu einem Krieg gehören mindestens zwei, und der Wille des Gegners wird mit diesem Dekret geleugnet, obwohl es Deutschland war, das Rußland den Krieg erklärt hatte.
Offenbar zog Lenin aus der Geschichte mit dem (angeblich doch nicht?) plombierten Eisenbahnwaggon falsche Schlüsse über den Kriegswillen Deutschlands.

Die Interventionsarmeen, die Rußland im Laufe der Jahre 1918-21 überfielen, taten das nicht in erster Linie deshalb, weil die sowjetische Regierung Industrien und Banken enteignete.

Darauf weise ich deshalb hin, weil es immer den Spruch gibt: natürlich, Kommunisten kommen wo an die Macht, und schon marschieren die imperialistischen Staaten ein.

Die österreichischen und deutschen Armeen fielen in die Ukraine ein, nachdem sie Skoropadski inthronisiert hatten, weil sie die Lebensmittel der Ukraine brauchten, um den Krieg weiter führen zu können. Ohne die Ausplünderung der Ukraine wäre der Krieg spätestens im Frühjahr 1918 beendet gewesen. Allein in Deutschland verhungerten im 1. Weltkrieg angeblich 800.000 Menschen, besonders im sogenannten Steckrübenwinter 1917/18.

Man kann also sagen, eine Folge des Dekrets über den Frieden war die Verlängerung des Krieges. Von wegen Frieden! Von den Verheerungen des Bürgerkrieges in Rußland ganz zu schweigen.
Es wurde also dem Proletariat bzw. der Bevölkerung Rußlands, aber auch des Restes der kriegsführenden Staaten mit diesem Dekret ein Bärendienst erwiesen.

Das Dekret über das Land sollte endlich einmal einer politökonomischen Analyse unterzogen werden. Die Bauern wurden auf eine halbherzige Art zu Eigentümern gemacht. Halbherzig deshalb, weil ein volles bürgerliches Eigentum ja auch nicht eingeführt wurde. Sie erhielten Mini-Parzellen im Rahmen eines Programms, das ihnen zwar die Verantwortung für die Bestellung des Landes erteilte, ihnen die Früchte desselben aber mittels Requirierung wieder abknöpfte. Noch dazu wurden ihnen praktisch keine Werkzeuge oder Hilfsmittel zur Verfügung gestellt, um ihrer neuen Verantwortung als Lebensmittelproduzenten gerecht werden zu können. Widerstand gegen die Beschlagnahmung ihrer Lebensmittel, oftmals auch ihres Saatgutes wurde von den neuen Machthabern mit dem roten Terror beantwortet, was die Landbevölkerung empfänglich für die Versprechungen der Interventionsarmeen machte. Die Bevölkerung Rußlands wurde dadurch gespalten, und der Bürgerkrieg angeheizt.

Es war vor allem die Behandlung der Bauern, was den Aufstand von Kronstadt verursachte.

Mit dem NEP wurden schließlich die Bauern wieder als Eigentümer ins Recht gesetzt, anstatt die Landwirtschaft planmäßig zu organisieren. Als die angeordnete Bereicherung nicht die gewünschten Ergebnisse zeitigte – surprise, surprise! – kriegten die Bauern wieder eine auf den Deckel, mit der Zwangskollektivierung und den Kulakenverfolgungen.

Stalin hat den Gedanken des idealen Staats konsequent in die Tat umgesetzt, gegenüber dem Hin und Her seiner Vorgänger. Das ist seine historische Leistung. Darüber sollten sich als Letzte diejenigen aufregen, die am Konzept von Lenin nichts auszusetzen haben.

Noch was über die marxistische Geschichtsteleologie:

Die Vorstellung, daß die Geschichte sozusagen ein eigenes Subjekt ist, und ihre eigenen Entwicklungsgesetze hat, zieht sich durch die ganze Theorie von Marx und noch mehr von Engels.

Erstens beherrschte die Theorie der beiden die Überzeugung, daß der Kapitalismus an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen muß. Die Expropriateure werden expropriiert, der Klassengegensatz endet mit einem großen Knall, und dann steht die durch die Sozialdemokratie gebildete Arbeiterklasse Gewehr bei Fuß und übernimmt das Ruder.

In dieser Überzeugung kritisierte Marx auch das Gothaer Programm, in dem er die von ihm inspirierten Arbeitervertreter darauf hinwies, daß sie sich dafür richtig vorbereiten, und auch möglicherweise eine Übergangsphase einplanen müssen, wenn die vorhandenen Mittel für die große Party nicht reichen sollten.

Zweitens entwarfen Marx und Engels ein Modell für die historische Entwicklung. Erst kommt der Feudalismus, dann der Kapitalismus. Der schafft durch die Entwicklung der Produktivkräfte die Möglichkeit für den Kommunismus.

In diesem von ihnen erfundenen Modell geht Kommunismus also nur, wenn ein gewisser Stand der Produktivkräfte erreicht ist.

Mit diesem Modell standen sie im Gegensatz zu den Anhängern Bakunins, den Narodniki, die einen bäuerlichen Kommunismus aufbauen wollten, auf der Basis der russischen Dorfgemeinschaft.
Daß Marx in dieser Frage nicht ganz wohl war in seiner Haut, geht aus den nicht abgeschickten Entwürfen seiner Briefe an Vera Sassulitsch hervor. Er hat diese Briefe nie abgeschickt und keine Debatte über das Thema angezettelt, weil er begriffen hat, daß sein ganzer Entwicklungsgedanke in einer solchen Diskussion in Frage gestellt würde und scheitern könnte. Das hätte jedoch sein ganzes Konzept der Entwicklung zum Kommunismus über den Haufen geworfen und auch sein Prinzip Hoffnung, daß der Kommunismus früher oder später eintreten muß wie das Amen im Gebet.

Die von Engels nach Marx’ Tod weiter betonte Geschichtsteleologie war das Credo auch der russischen Sozialdemokaten – Bolschewiki wie Menschewiki. Darin waren sich beide Fraktionen einig. Die russischen Sozialdemokraten grenzten sich damit gegen ihre Rivalen, die Sozialrevolutionäre ab. Sie betrachteten die Idee des bäuerlichen Kommunismus als eine realitätsferne und sogar reaktionäre Utopie und wetterten dagegen, was das Zeug hielt.

Nach der Februarrevolution unterstützten sie die provisorische Regierung deswegen, weil sie überzeugt waren, daß es in Rußland zunächst einmal einen ordentlichen Kapitalismus brauchen würde, der die Produktivkräfte entwickelt.

Als Lenin sich mit den Aprilthesen dagegen stellte, griff er dieses Entwicklungsmodell nicht an. Er sagte nur: wir sind schon weit genug, und was fehlt, machen wir selber! (Dabei stand natürlich auch die Hoffnung Pate, die deutschen Genossen machen eine Revolution und liefern uns dann den ganzen Krempel.)

Das war zwar in der absurden Logik der Geschichtsteleologie ein vergleichsweise vernünftiger Schritt, hat sich aber von dieser nicht verabschiedet.

Die Formel „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ ist die logische Folge daraus. Also man muß die Entwicklungsstufe, die man im Kapitalismus nicht erreicht hat, eben selber herstellen.

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Das Sich-Abarbeiten an negativen Bestimmungen führt praktisch zu Leerlauf: man bejammert das, was nicht da ist, anstatt sich dem zuzuwenden, was da ist, und daraus etwas zu machen.

 

Der Text ist derjenige eines Vortrages, der am 7. November 2017 im Rahmen einer Podiumsdiskussion in Wien gehalten wurde.

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