ÜBER NATIONALISMUS UND STAATSGRÜNDUNGEN

Nation Nationalismus Patriotismus Heimatliebe Bürgerkrieg Krieg Ausländerfeindlichkeit Skinheads

Eine Erscheinung beunruhigt die Gemüter, die angeblich als „überwunden“ galt, geistesgeschichtlich im vorigen Jahrhundert und politisch bei Extremisten und Querulanten angesiedelt wurde: „Nationalismus“ macht sich breit in Europa, wird mit Lichterketten und frommen Wünschen bzw. ernsten Warnungen „bekämpft“ und soll, glaubt man den Kommentaren, so etwas Ähnliches sein wie eine Seuche, gegen die es keine Impfung gibt, sondern nur recht viel „Aufklärung“. In anderen Teilen der Welt ruft diese – in diesem Falle teilweise wohlwollend kommentierte – Haltung wiederum Grenzveränderungen hervor, die ansonsten das Ergebnis von Kriegen sind. Im Folgenden einige Überlegungen dazu, was der Begriff „Nationalismus“ eigentlich bedeutet und beinhaltet.
Diejenige Betrachtungsweise, die ihn immer dann orten will, wenn er unerwünschte Ergebnisse zeitigt, „Aufklatschen“ von Fremden oder Stammeskriege im Kaukasus, macht sich absichtsvoll blind gegen die Normalform dieser Geisteshaltung. Also dagegen, welche wohlwollende Stellung gewöhnliche Mitbürger zu ihrem Staat und ihren von ihm eingerichteten Lebensverhältnissen einnehmen, ohne daß diese Einstellung gleich gewalttätige praktische Konsequenzen zeitigt.
Die wohlwollende Stellung gegenüber dem eigenen Staat ist dabei immerhin ein erklärtes Erziehungsziel unserer Bildungsanstalten, Heimatliebe gilt als ehrenwerte Sache, Wahlkämpfe werden mit dem einzigen Argument geführt, daß der Kandidat dieser oder jener Partei für das eigene Land einfach der Beste ist, und in regelmäßigen Abständen veranstalten die Politiker Staatsakte und Feierlichkeiten, deren Inhalt sich darin erschöpft, auf den eigenen Staat stolz zu sein und sich in ihm aufgehoben zu fühlen. Der ganze Medienzirkus ist damit beschäftigt, den werten Lesern bzw. Hörern die einzelnen Maßnahmen der Politik als erstens notwendig und zweitens verantwortungsvoll darzustellen: Notwendig nämlich für das Gedeihen des Staates, ob er jetzt gerade „Wirtschaftswachstum“ oder schlicht „Wir“ heißt, vor dem jedes andere, einzelne Interesse (wie z.B. eine erschwingliche Wohnung, ein besser bezahlter Job oder mehr Urlaub) zurückzustehen bzw. woran es sich zu relativieren hat.
Die Politiker aller Lager legen also schwer Wert darauf, daß die Leute, die einen Paß dieses Landes haben, hier arbeiten, Steuern zahlen und Militärdienst leisten müssen, ein gutes Verhältnis entwickeln zu eben der Macht, die ihnen das alles abverlangt. Dabei leistet ein alter, aber ungebrochen populärer Kunstgriff gute Dienste: Dem Bürger wird das Angebot gemacht, den Staat in zwei Teile zu zerlegen, in eine immer wirkende wohltätige Kraft, das nationale „Wir“, mit dem sich jeder guten Gewissens identifizieren kann, und die Tagespolitik mit ihrer Korruption und ihren sonstigen Niederungen, zu denen der selbstbewußte Untertan stets die nötige Distanz wahren kann, wenn er im Namen der Nation gegen sie Beschwerde erhebt. Das Angebot wird gerne angenommen: Es eröffnet nämlich dem Bürger die Möglichkeit, sich geistig auf eine Stufe mit den Inhabern der Macht, die über ihn entscheiden, zu stellen und sich für den eigentlichen Souverän zu halten, der erst der Politik ihr Mandat erteilt. Dann erträgt er das, wozu er von der Obrigkeit verpflichtet wird, leichten Herzens und fühlt sich nur mehr von denjenigen Individuen gestört, die es seiner Meinung nach an der gehörigen Einstellung fehlen lassen: Im Leben, im Alltag pflichtbewußt, also gehorsam, im Geiste jedoch frei und souverän.
Bewerkstelligt wird dieses gute Verhältnis also durch ein rein der Phantasie entsprungenes übergeordnetes Subjekt, die Nation, dem sowohl die Regierung als auch die gewöhnlichen Bürger unterworfen sind. Damit ist jede Herrschaft, jede Regierung legitimiert als Dienst an der Nation.
Und auf die Teilnahme an dieser Einheit, in der mit der Zugehörigkeit gleich alle Gegensätze zwischen den Mitgliedern aufgehoben oder zu vernachlässigenswerter Winzigkeit geschrumpft werden, wollen die meisten Staatsbürger aus den genannten Gründen nicht verzichten. Um diese Einheit plausibel zu machen, wird einiges zu ihrer Bebilderung aufgefahren: Gerade so äußerliche Dinge wie eine Sprache, die Geburt in einem bestimmten Land, das Leben an einem bestimmten Ort, – also Dinge, die ja nur sehr begrenzt einer freien Entscheidung entspringen, – sollen demzufolge das Eigentliche und Bestimmende an den Gedanken, Wünschen und Interessen eines Menschen ausmachen, denen jede andere Lebensregung entspringen soll oder denen sie sich unterzuordnen hat.

Mit dem Eintreten für die Sache der Nation ist natürlich auch ein grundlegendes Einverständnis in das Prinzip der staatlichen Herrschaft gegeben. Denn aus dem existierenden Staat ist das ganze Konstrukt der Nation abgeleitet und nur an seinen Momenten läßt es sich bebildern und mit Inhalt füllen. Eine Nation braucht ein Staatsgebiet, also auch Grenzen, sie braucht Agenten und eine Vertretung nach außen, also Regierung und Diplomatie, die Erinnerung an sie will gepflegt werden, also sind Bildungsanstalten und einen Kulturbetrieb einzurichten. Existieren diese Dinge alle, so ist das wieder ein Beweis für die Existenz und das Recht dieser Nation.
Der alltägliche Nationalismus, der solchermaßen ein prinzipielles „Ja“ zu den Institutionen des Staates ist, gilt nicht als „Nationalismus“, sondern als ehrenwertes Zeugnis der Mündigkeit des Staatsbürgers. Und so ist nichts für einen demokratischen Bürger selbstverständlicher als die Gewohnheit, sich des Prinzips der Unterordnung gedanklich zu bedienen, im Einfordern von Rechten nämlich, die man selber hätte und die stets durch andere verletzt werden.

 

Das nationale Wir versöhnt Gegensätze im Inneren und schafft einen neuen: nach außen

In dieser Haltung kommt die tatsächliche Stellung des Staatsbürgers, sein Eingebunden-Sein in alle möglichen „Sachzwänge“ des Arbeitens und Geldverdienens, seine Stellung als Mieter, Untergebener, Erziehungsberechtigter, zwar vor, aber in sehr eigentümlicher Form. Diese Momente seiner Existenz, des Sich-Bewährens in der Konkurrenz gegen andere, treten als Chancen auf, die es zu nützen gilt. So, als stelle sein Dasein als Bürger eines kapitalistischen Staates eine Fülle von Möglichkeiten dar, die er nur für sich nützen müßte. Er wird zwar immer auf die harte Tatsache gestoßen, daß dem nicht so ist und die Möglichkeiten sehr begrenzt sind. Wenn jedoch seine Berechnungen nicht aufgehen – was ja nicht selten vorkommt – so erschüttert das nicht seinen Glauben an die prinzipielle Benutzbarkeit der Klassengesellschaft für sich, sondern er macht ein Mißverhältnis, einen Mißstand – institutioneller oder personeller Natur – dingfest, der seine Pläne zunichte macht. Gegen diesen Mißstand soll dann die übergeordnete Gewalt einschreiten – so, als sei sie sein Agent und nicht umgekehrt er der ihr Unterworfene. Bei allen Beschwerden ist diesem Bürger also seine Staatsgewalt das ideelle Mittel seines Fortkommens, für dessen Funktionieren er sich aus diesem Grunde stark macht.

Die in einer Demokratie herrschende „zivile Sphäre“ des Geschäfts- und Privatlebens leistet dieser Trennung zwischen dem, was gilt und dem, was man gerne hätte, unzweifelhaft Vorschub. Der Alltag des Staatsbürgers, Arbeiten, Einkaufen, Familienleben, wird als sozusagen natürliche Lebensform interpretiert, zu der der Staat sich lediglich ordnend und regulierend verhält. Das ist zwar eine gewisse Verharmlosung, denn Privateigentum, Geld und Eherecht gibt es nur deshalb, weil es durch die Staatsgewalt eingerichtet und aufrechterhalten wird. Wenn sein solchermaßen gestaltetes Alltagsleben jedoch in Frage gestellt wird, durch Arbeitslosigkeit oder Verarmung, besinnt sich der mündige Bürger gerne auf den Umstand, daß die Staatsgewalt die erste und oberste Bedingung seines Fortkommens ist und daß zu allererst sie als solche gestärkt gehört.

Ein solcher Mensch würde sich jedoch im allgemeinen nicht dazu bekennen, Nationalist zu sein. Gott bewahre! Er weiß, und die Wissenschaft assistiert ihm dabei, die feine Unterscheidung zu treffen zwischen gutem Patriotismus, nationaler Identität, Heimatverbundenheit und Traditionsbewußtsein einerseits und dem abzulehnenden Pfui-Nationalismus andererseits. Diese Unterscheidung ist jedoch keine des Inhalts, denn der ist bei beiden Haltungen der gleiche – die Unterordnung unter die staatliche Gewalt wird anerkannt und begrüßt –, sondern eine der Funktionalität für das Staatswesen, dem sie dient. Solange die positive Einstellung zur eigenen Herrschaft sich in den vorgesehenen Bahnen bewegt, die Bürger wählen und arbeiten gehen und sich nach getanem Tagwerk am Stammtisch eine Meinung darüber leisten, wer jetzt wieder was in Staat und Wirtschaft verpatzt hat, solange ist alles in Ordnung. In diesem Falle dient diese Haltung der Stabilität eines Staatswesens, leistet ihren Beitrag dazu, daß die Menschen sich fügen und eine willfährige Basis für das bilden, was die zuständigen Politiker ihnen auferlegen.

Das ideelle Konstrukt einer über allen stehenden Rechtspersönlichkeit, der Nation, der die Politiker ebenso dienen wie der Straßenkehrer, schließt es jedoch in sich, daß ein oder das andere Individuum sein Zukurzkommen so interpretiert, daß die Regierenden – im Unterschied zu ihm – ihre Pflicht vernachlässigen und dadurch die Grundfesten des Staates ins Wanken geraten. So kommt es, daß einige unzufriedene Staatsbürger den Entschluß fassen, praktisch zu werden, um Schlimmeres zu verhindern. Sie meinen, die Politik an ihre eigentliche Pflicht erinnern zu müssen: Der Nation dienen heißt dann eben, daß die Politik ihre Segnungen nur den echten Volksgenossen, „Uns“, zuteil werden lassen darf. Da werden dann Ausländer verprügelt und Asylantenheime angezündet, und aus dem Verständnis, das solchen Faschisten von Soziologen und Politikern bei aller Kritik entgegengebracht wird, verrät sich noch einmal das Bewußtsein, daß hier eine an und für sich ehrenwerte Geisteshaltung vorliegt, die nur ein wenig auf die schiefe Bahn geraten ist.

 

Partikularer Nationalismus ist nicht gleich staatenbildend

Die Trennung vom Staat in 2 Teile: einen ideellen, der immer gut ist und immer wirkt, – die Nation; und einen realen – den Staat als Ausdruck der Nation, an dem man auch hin und wieder was auszusetzen hat – diese herrschaftsdienliche Trennung führt auch zu einer anderen Sorte von Aufruhr. Angehörige von vermeintlich oder wirklich unterdrückten Minderheiten haben aus ihrer Lage den Schluß gezogen, daß der gegenwärtige Staat nicht die Verkörperung ihrer Nation darstellt, daß daher die Ursache ihres Leids die Fremdherrschaft ist und daß die Lösung des Problems nur in einer eigenen Herrschaft liegen kann, daß also unbedingt ein eigener Staat her muß. Nach Kriegen, wenn die Einflußsphären neu verteilt werden, hat so ein Standpunkt manchmal auch recht und einen eigenen Staat bekommen, weil es im Interesse einer Siegernation lag, die Verlierer zu schwächen, so im Falle Polens oder der Tschechoslowakei nach dem ersten Weltkrieg. Ist ein solches Interesse von außen nicht gegeben, so sind dergleichen Bestrebungen, wie die der Kurden, Palästinenser oder der ETA ein Fall für die nationalen Geheimdienste und die internationale Polizei, sonst nichts. Die höchste Wertschätzung, die sie erfahren, ist die, daß sie manchmal zur Erpressung eines mißliebigen Staates durch einflußreiche Mächte dienen. Das stellt allerdings nie eine Beförderung ihres eigenen Anliegens dar.
Inzwischen ist jedoch der Standpunkt „Jeder Nation ihren Staat“ in einem gewissen Sinn politisch salonfähig geworden, zumindest zeitigt er in manchen Gegenden solche Ergebnisse, daß die Landkartenzeichner gar nicht mehr mitkommen. Daß Staatsgründungen eine Gewaltfrage sind, diese Wahrheit ist inzwischen ein wenig aus dem öffentlichen Bewußtsein getilgt und so hebt im im internationalen Blätterwald ein begriffs- und geistloses Gejammer an, wenn verhetzte Idioten der verschiedensten Nationalitäten einander für das Selbstbestimmungsrecht der Völker den Schädel einschlagen. Der Höhepunkt der theoretischen Anstrengung, zu der sich der eine oder andere Journalist oder Wissenschaftler aufzuschwingen vermag, besteht darin, mit Beispielen aus Geschichte und Literatur den jeweiligen Volkscharakter auszumalen und zu der Schlußfolgerung zu kommen, daß die Leute dort immer schon so waren.
Dabei gibt es in Serbien oder Aserbaidschan in der Frage der Stellung zur Nation keinen gedanklichen Inhalt, den man nicht von zu Hause her auch kennt. Es kommt nur darauf an, ihn wiederzuerkennen.

 

Patriotismus als linke Tugend

Der Patriotismus steht leider nicht nur bei seinen Nutznießern, den Regierenden, und bei den Patrioten selbst hoch im Kurs, sondern auch erklärte Gegner des Gesellschaftssystems, das unter anderem auch diesen Identifikations-Schmarrn hervorgebracht hat, wollten gerade an der Liebe zum Vaterland nicht rütteln. Der Idealismus des Staatsbürgers, der vor dem wuchtigen Wert, den die Heimat darstellt, seine eigenen kleinen Bedürfnisse gar nicht mehr in Anschlag bringen will, war ihnen ein Beweis für die Integrität des Volkes, das sie durch Politiker, die ihr Land verraten und Kapitalisten, denen der Profit mehr gilt als das Wohl des Vaterlandes, mißbraucht und fehlgeleitet sahen. Die revolutionäre Rhetorik des 20. Jahrhunderts ist durchsetzt von Ausfällen gegen die Fremdherrschaft, gegen Einheimische, die sich zu Agenten des Auslandes machen, und von der Glorifizierung der eigenen nationalen Traditionen. Auch hierzulande fällt linken Kritikern, wenn sie gegen die EG Stimmung machen wollen, nichts anderes ein, als alles, was österreichisch ist, als positives Zerrbild zur Fremdbestimmung durch eine ausländische Macht zu verherrlichen.

 

Der Reale Sozialismus als Betätigungsfeld der nationalen Identität

Die kapitalistische Klassengesellschaft stellte für die Kommunisten bolschewistischer Schule eine Spaltung der Nation dar, die es aufzuheben galt, um ein störungsfreies Verhältnis zwischen Staat und Volk, das für sie die Vollendung der Zivilisation darstellte, zu etablieren. Das haben sie auch so eingerichtet, störungsfrei insofern, als es unmittelbar war und keine „zivile Sphäre“ außerhalb dieses Verhältnisses zuließ. Der sozialistische Staat hat sich eben als die Bedingung alles Tuns und Treibens seiner Untertanen definiert und alle ihre Lebensäußerungen so aufgefaßt, als wären sie unmittelbar an ihn gerichtet. Was für den Aufbau dieses sozialistischen Staates, der angeblich wahren=Volksdemokratie, also Volks-Volksherrschaft, nicht notwendig war, wurde als dekadent, reaktionär oder sonstwie verderblich eingestuft. Sodaß Betätigungen, die in einem kapitalistischen Staat als harmlos bis ehrenwert gelten, drüben die Qualität einer systemkritischen Haltung erhielten.
(Übrigens: Daß die kommunistischen Politiker Osteuropas das, was sie am arbeitenden Volk so sehr geschätzt haben, von ihm auch verlangt haben, sollte niemand beanstanden, der an Heimatliebe, Fleiß und wie all die staatsbürgerlichen Tugenden heißen, nicht rütteln mag.)

Dort, wo solchermaßen die Einheit von Oben und Unten als verwirklicht behauptet und ständig einfordert wurde, stand die Nation hoch in Kurs: Mit der Beschwörung der nationalen Werte und dem Benennen von Plätzen und Straßen nach allen möglichen Patrioten, Staatsmännern und Kulturschaffenden der nationalen Geschichte wurde die eigene Herrschaft legitimiert – als Ausdruck des Volkswillens und Exekutor des historischen Auftrags der Nation – und gleichzeitig die Botmäßigkeit der Bürger eingefordert. Das Lob der prinzipiellen Unterordnung, wie es in der Liebe zur Heimat ausgedrückt ist, schuldet sich nämlich stets dem gierigem Schielen auf die Funktion, die sie für jede Herrschaft leistet. Das Totalitäre dieses Anspruchs unterscheidet sich in nichts von dem in der Demokratie: Nicht an seinen Maßnahmen, daran, was sie den Leuten bescheren, sollte der sozialistische Staat gemessen werden, sondern die Bürger sollten diese als Dienst an der Nation würdigen und unterstützen.
Der sozialistische Internationalismus war eben ein Inter-Nationalismus: zu den Bürgern anderer Staaten trat man in der offiziellen Propaganda nur als mit Vertretern einer Nation ins Verhältnis, mit Teilen eines befreundeten oder auch weniger genehmen Volkskörpers. Das war auch der einzige heikle Punkt, wo hin und wieder „Nationalismus“ entdeckt wurde: Wo es jemand an der wahren Liebe zu verbündeten Nationen, namentlich der Sowjetunion, fehlen ließ, war er ein Opfer von kleinbürgerlichem Nationalismus. Wenn jedoch neben der Fahne gestanden und die Nationalhymne gesungen wurde, so war sozialistischer Aufbau am Werk.

Auch nach innen, in der Minderheitenpolitik, hat das Prinzip der nationalen Identität, die angeblich die beste Vorbedingung für Sozialismus und Völkerfreundschaft sein sollte, seine entsprechende Ausgestaltung erfahren. Mit Leuten konfrontiert, die sich ihre widrigen Lebensumstände wie Armut oder die Willkür der Behörden lediglich aus den Vormachtsansprüchen anderer Nationalitäten erklärten, aus Fremdbeherrschung eben, und dagegen die nationale Identität kultivierten, in ihren Äußerungen einen guten Teil ihres Lebensinhaltes sahen, hatten die neuen sozialistischen Herrscher nichts Besseres zu tun, als ihnen zunächst recht zu geben, sie sogar als natürliche Bündnispartner zu definieren. Exemplarisch hier Tito:

„Die Linke sah ihre Aufgabe darin, die Jugoslawische KP zur revolutionären Partei der Arbeiterklasse zu formen und … die Bauernschaft und die unterdrückten Nationen als die natürlichen Verbündeten des Proletariats für sich zu gewinnen.“ (Tito, Autobiographische Bekenntnisse, S 45, zitiert nach einem jugoslawischen Geschichtsbuch für die 8. Klasse.)

Dieser Kniefall vor dem gekränkten Nationalismus ergibt sich ganz folgerichtig aus dem Vorherigen: Wer die „nationale Identität“ so schätzt, daß er sie als notwendiges Attribut des Menschen ansieht, als wäre es eine Nase oder eine Niere, oder als eine zivilisatorische Errungenschaft, kraft derer sich der staatenbildende Mensch vom Tier unterscheidet, der will dann nur ihren richtigen Einsatz regeln. (Er kann sich daher den Äußerungen dieser Einstellung auch dann nicht entziehen, wenn sie ihm nicht ganz ins Konzept passen.)
Also wurde ein eigenes Ausbildungswesen, ein eigener Kulturbetrieb, eigene Medien, teilweise territoriale Selbstverwaltung usw. für die Angehörigen der Minderheiten installiert. Und da alle diese Förderungen im Namen der „Nationalität“ geschehen sind, die in diversen Staaten sogar noch zusätzlich zur Staatsbürgerschaft in den Ausweisen vermerkt wurde, so wurden an und für sich nicht gleich staatsbildende Regungen wie eine eigene Sprache, Volksmusik oder ein bestimmtes Nationalgericht sofort in den Rang einer politischen Äußerung erhoben und als solche behandelt. Damit ist erst ein nationalistisches Potential in die Welt gesetzt worden, das dafür gesorgt hat, daß der Nachwuchs an Minderheiten-Patrioten nicht ausgeht.

Denn genausowenig in einer österreichischen Schule der Deutschunterricht darin besteht, daß den Kindern die deutsche Sprache in Wort und Schrift korrekt beigebracht wird – das trostlose Ergebnis läßt sich an den Schulabgängern ja studieren, – sondern mit Goethe und Grillparzer die Werte der deutschen und österreichischen Kultur und die Vermittlung des schönen Gefühls, österreichischer Staatsbürger mit einer langen und ruhmreichen Tradition zu sein, vermittelt wird; ebensowenig wird in einer ungarischen Schule in den entsprechenden Gegenständen bloß Grammatik und Wortschatz oder mathematische Formeln gelehrt oder bei einem kroatischen Kulturverein bloß getanzt und gesungen. Sondern man lernt sich als Mitglied einer völkischen Einheit zu definieren und seine Lebensäußerungen, Bedürfnisse und Ansprüche im Rahmen dieser Einheit abzuwickeln.
Erst recht wurden mit den verwaltungsmäßigen Autonomien – die auf dem Prinzip der Nationalität beruhten – Gegensätze geschaffen, die wiederum den Nationalismus bestätigten und beflügelten: Bei den Bewohnern solcher autonomer Provinzen galt der Lokalpolitiker als guter Mann, der bei den Verhandlungen mit der Zentralmacht das meiste für seine Region herauszuholen verstand. Viele der Fabriken, Kombinate oder Kraftwerke, die heute als „veraltet“, gefährlich oder schlicht unbrauchbar gelten, wurden seinerzeit triumphierend als Zeichen des Fortschritts eröffnet, der die Modernisierung und Entwicklung der Teilrepublik oder Autonomen Provinz beförderte. Ein Triumph auch darin, daß die eigenen Provinzpolitiker sie den zentralen Planungsbehörden abgerungen und sich gegen andere, konkurrierende Regionen durchgesetzt hatten. Umgekehrt wurde die Armut einer Region, gleich ideologisch in eine „Rückständigkeit“ übersetzt, oft genug damit erklärt, daß andere es geschafft hätten, die im Rahmen der 5- oder sonstwas-Jahrespläne zur Verfügung gestellten Mittel für sich zu beanspruchen und dadurch sei die eigene Provinz leer ausgegangen. Die territoriale Selbstverwaltung hat die Suche nach Schuldigen angeheizt und die Abneigungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten ziemlich befördert. Am meisten entwickelt hat diese Konkurrenz um die finanziellen Mittel das ehemalige Jugoslawien, wo den Provinzen sogar das Recht zugestanden wurde, selbst Geld zu drucken und wo die Verteilung der Macht im obersten Organ des Staates streng nach Nationalitäten-Quoten geregelt war. Solange allerdings Sozialismus angesagt war, solange die Regionen auf die realsozialistische Ökonomie verpflichtet waren, haben diese Gegensätze unterschwellige Gefühle genährt und den Humorschatz des jeweiligen Staates durch Burgenländerwitze bereichert, aber nicht zu einer Auflösung des Staatsverbandes, nicht einmal zum Gedanken daran geführt. (Statt Burgenländer beliebig einzusetzen: Tschuktschen oder Russen oder Letten oder Bosniaken oder …)
Die mit der ganzen Minderheitenpolitik stets verknüpfte Forderung, dem Staat dankbar zu sein und ihn als Heimat zu akzeptieren, weil er einem die Pflege der nationalen Identität ermöglicht und die materiellen Grundlagen der Entwicklung schafft, wurde von überzeugten Minderheitenvertretern stets als mieser Trick entlarvt, diese Identität zu untergraben, und mit Mißtrauen gegen die Staatssprache und das Mehrheitsvolk geahndet. Wo diese Abneigung – im 2. Weltkrieg – zur Folge hatte, daß sich Angehörige dieser Minderheit zur 5. Kolonne des Feindes machten, folgte darauf auch keine Untersuchung und Kritik der „nationalen Identität“, sondern der Urteilsspruch, sie wäre hier böswillig mißbraucht worden, und seine gewalttätige Fortsetzung: Gefängnis, Deportation und Hinrichtungen.

 

Dissidenten – genauso wie „konforme“ Intellektuelle – Anhänger nationaler Einheit und ehrgeizige Staatsmänner in postkommunistischer Zeit

Der Reale Sozialismus mit seinen teilweise unschönen Erscheinungen hat eine Sorte Kritiker hervorgebracht, die ihre Kritik von vornherein vom Standpunkt der Nation abfaßten. Entweder die nationalen Werte, Rasse, Boden, die Geschichte wurden beschworen, um der Kritik Wucht zu verleihen und die Anständigkeit und Staatstauglichkeit der eigenen Vorstellungen zu beweisen. So z.B. Solschenizyn, der den letzten Grund der stalinistischen Arbeitslager und anderer sowjetischer Greuel in der Abkehr von den traditionellen russischen Werten, dem Bauerntum, der Orthodoxie, sieht, die Rückkehr zu ihnen – die von ihm aus ruhig diktatorisch vor sich gehen kann – als das einzige Heilmittel gegen die Übel, die die Sowjetherrschaft gebracht hat. (Siehe dazu: Alexander Solschenizyn, Brief an die Führer der Sowjetunion, Paris 1974.)

Andere Kritiker verlegten sich darauf, im Namen der Demokratie das Verhältnis von Politikern und Volk zu thematisieren, der Obrigkeit Machtmißbrauch d.h., Verrat am Volk vorzuwerfen. So hat der ehemalige Trotzkist, Mitbegründer des KOR (Komitee zur Verteidigung der Arbeiterklasse) und heutige Arbeitsminister von Polen, Jacek Kuron, seinerzeit sein Mißfallen darüber ausgedrückt, daß die Bürger seines Landes in das politische Leben nicht genug eingebunden würden, somit gar keine positive Einstellung zu den jeweiligen Maßnahmen gewinnen könnten. (Siehe dazu: Jacek Kuron und Karol Modzelewski, Offener Brief an die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei, 1965.) Gewährt die heutige Regierung ihnen diese Mitbestimmung durch demokratische Rechte, so können offenbar die solchermaßen verteidigten Arbeiter ruhig von der polnischen Regierung in Zusammenarbeit mit dem IWF verarmt werden.

Der nunmehrige Präsident von Tschechien, dem wegen nationalistischer Umtriebe gerade ein Stück Staatsgebiet abhanden gekommen ist, und dessen Originalität sich seinerzeit in der Ausreizung des öden Gegensatzes zwischen Individuum und totalitärem Staat erschöpfte – gegen die „tönerne Autorität der Führenden“ , (aus: V. Havel, „Versuch, in der Wahrheit zu leben“, Hamburg 1989) – sowie in der Ausmalung der Probleme, die der Mensch mit sich selbst bekommt, wenn er durch ständige Unterdrückung eine Persönlichkeitsspaltung erleidet, denkt heute bereits in höheren Prinzipien und hat feste Vorstellungen darüber, wie das Individuum sein Selbst pflegen soll: Im Einklang mit der Herrschaft und nützlich für sie:

„Nationale Eigenständigkeit … beruht nicht auf dem Gefühl der Überordnung, sondern aus dem Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den anderen. … Sie wird … nur in einem demokratischen Rechtsstaat gesichert. …“ (Rede Havels an der Universität Wien, in: SN 16.3.1993)

Einen Nationalismus, der jemanden bedroht, sehe ich nicht. Ich würde sogar sagen, daß uns ein bißchen Patriotismus nicht schaden könnte.“ (Interview mit Havel, in: Standard, 13.3.1993)

So geht halt die nicht tönerne (vielleicht goldene?) Autorität der Führenden!
Wenn westliche Politiker und Kommentatoren sich heutzutage besorgt bis betroffen geben über die national eingefärbten Artikel, die der Feder des ungarischen Politikers István Csurka, (der anerkannter Schriftsteller unter den Kommunisten war und alle Privilegien genoß, die diese Stellung mit sich brachte,) entfließen, so sei daran erinnert, daß eben diese (heutige ungarische Regierungs-)Partei, der er angehört, ihre Karriere darüber begonnen hat, die Knechtung der Ungarn im Ausland, in erster Linie in Rumänien, zu entdecken und der damaligen kommunistischen ungarischen Regierung vorzuwerfen, sie würde in der Wahrung der Interessen der Siebenbürger Ungarn nicht genug auf den Tisch hauen – also eine Einmischung auf Grundlage nationaler Gemeinsamkeit zu fordern. Der ungarische Ministerpräsident Antall, der in vergangenen Schreckenszeiten sein Dasein als Historiker fristete, und der jetzt so entsetzt tut, als ob er in der Gestalt Csurkas die längste Zeit eine Schlange an seinem Busen genährt hätte, ohne es zu wissen, hat sich vor nicht allzulanger Zeit als der Präsident aller Ungarn, also auch außerhalb der Grenzen seines Landes lebender ungarischsprachiger Staatsbürger bezeichnet. Serbien hat er vorgeworfen, die Ungarn in der Vojvodina als Geiseln zu behandeln, um Ungarn zu einer Milderung der Blockadebestimmungen zu bewegen. Dem Herrn ist es also – ebenso wie seinem ungeliebten Parteigenossen – durchaus geläufig, im Namen der Nation Ansprüche geltend und Feinde ausfindig zu machen.

Die Karriere, die sowohl Gegner als auch gehorsame Diener der seinerzeitigen sozialistischen „Regimes“ nach deren Sturz gemacht haben, bebildert einmal mehr, wie sehr die Sorge um das nationale Wohl das Denken der Intellektuellen in dieser Weltgegend beflügelt hat. Die Konkurrenz um die Macht, die sie sich heute liefern, macht darüberhinaus deutlich, wie sehr die Kritik der Gegner, die als Beschwerde über die Leiden, die die sozialistische Herrschaft ihren Untertanen gebracht hat, vorgetragen wurde, eine Beschwerde gegen die Staatsform, den Staatszweck war und nicht über dessen unangenehme Auswirkungen. Sobald nämlich eine ihnen genehme Herrschaft, die Demokratie, an der sie aktiv teilnehmen, den gleichen Bürgern neues Elend auferlegt, dient dieses höchstens als Material in der Parteienkonkurrenz, aber niemals zur Kritik am „System.“
Wo ein guter Teil der geistigen Energie der Bürger eines Landes nur für Fragen der folgenden Art draufgeht: Woran krankt unsere Nation? Ist es überhaupt (noch) unsere? Wie könnte man sie stärken?
dort ist es kein Wunder, daß

 

Bürgerkrieg, Sezession und Krieg als Antworten auf den Zusammenbruch einer Produktionsweise

gegeben werden oder noch werden können.

Schließlich ist die – immerhin von den Machthabern des Realen Sozialismus, den regierenden Kommunisten selbst – getroffene Diagnose, daß ihre ganze Wirtschaft verglichen mit einer kapitalistischen recht schlecht aussieht, nicht einer nüchternen Bestandsaufnahme dessen geschuldet, was für ihre Untertanen dabei herauskommt. Was Armut und Elend betrifft, so können nämlich nordenglische Industriestädte und süditalienische Dörfer durchaus mit sibirischen und nordböhmischen Drecksnestern mithalten. Wenn also die Bestandsaufnahme nur geheißen hätte: der Sozialismus bekommt unseren Leuten schlecht!, so folgt daraus die Kritik der eigenen Art des Wirtschaftens, keineswegs aber die angestrebte Übernahme des Kapitalismus.
Es ist also eine andere Art von Unzufriedenheit, die zur Auflösung des realsozialistischen Zirkus durch dessen eigene Politiker geführt hat. Die Unzufriedenheit, daß ein kapitalistische Staat sein Menschenmaterial besser zu benutzen weiß, daß für den Staat, der diese Art des Wirtschaftens verwaltet, mehr herauskommt als für einen sozialistischen Staat, der Wirtschaft in Eigenregie betreibt. Diese praktische Selbstkritik hat jedoch bloß einen Prozeß der Verelendung eingeleitet hat, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Das ist eine harte Erfahrung insofern, als das Versprechen und die Erwartung ja darin bestanden hat, daß nach anfänglichen „Anpassungsschwierigkeiten“ ein Aufschwung eintreten soll. Damit war nicht gemeint oder versprochen, eine wesentliche Verbesserung der Einkommenslage der dortigen Bürger zu erwirken, obwohl diese sich das ruhig so übersetzen durften und auch so übersetzt haben. Sondern der politische Ehrgeiz ging auf eine bessere Stellung am Weltmarkt, in der Weltpolitik: Nicht mehr im Schatten einer ungeliebten Großmacht, in deren Einflußbereich das eigene Land infolge eines Weltkrieges geraten war, bzw. nicht als Weltmacht Nr.2, die ihre Ressourcen zu einem guten Teil auf den Rüstungswettlauf verwenden muß, um sich als solche zu erhalten, sondern als Industrienation, EG- und NATO-Mitglied im Kreis der tonangebenden Großmächte haben sich diejenigen Kommunisten, die aktiv an der Abdankung des Sozialismus beteiligt waren, die Zukunft ihrer Länder vorgestellt. Erst recht wurde und wird diese Ansicht von den demokratisch gewählten Politikern, die sie an der Macht abgelöst haben, gehegt und propagiert.

Die Realität entspricht jedoch nicht den Erwartungen: Die Politiker Ungarns, Polens und der übrigen Ostblockstaaten gehen bei den Herren der BRD, Frankreichs oder sogar des kleinen Österreich, betteln um Kredite, Zollkontingente, Aufnahme in internationale Gremien, Hilfe gegen etwaige Aggressoren und es wird ihnen mehr oder weniger unverhüllt beschieden, daß sie als Konkursverwalter einer maroden Nationalökonomie, als Aufsicht vor Ort, zwar anerkannt sind, als mehr jedoch nicht. Sie werden als die Ausführungsgehilfen des Freien Westens angesehen, in einer Zone, die ökonomisch von Jahr zu Jahr mehr abgeschrieben und im gleichen Atemzug immer mehr als sicherheitspolitisches Risiko besprochen wird. Im Lande selbst hinterläßt der Beschluß von osteuropäischen Regierungen, sich unter dem Stichwort „Privatisierung“ aus der Wirtschaft zurückzuziehen, mehrheitlich Industrieruinen oder brachliegende Felder, stützt also bei den Untertanen das hartnäckige Vorurteil, daß ohne Staat nichts geht.

Diese wirtschafts- und außenpolitische Ernüchterung hat zur Folge, daß innenpolitisch der Kampf um die Staatsmacht an Schärfe zunimmt. Wenn ein Staatschef im Konzert der Nationen nur die 35. Geige spielt, will er im eigenen Lande wenigstens unangefochten sein, um dann die unpopulären Maßnahmen durchzusetzen, von denen er sich den Aufschwung erwartet, der bisher ausgeblieben ist. Die diktatorischen Gelüste osteuropäischer Regierungspolitiker richten sich somit im Grunde genommen gegen die gesamte Bevölkerung, deren Verarmung weiterhin auf der Tagesordnung steht. Ausgetragen wird der Machtkampf jedoch zwischen Regierung und Opposition und deren Parteigängern in den Medien. Die besserwisserische Nörgelei diverser Oppositionspolitiker: „Die Regierung treibt das Land in den Ruin, nur ein Regierungswechsel, der uns an die Macht bringt, kann das verhindern“ greift in Osteuropa Regierungen an, die tatsächlich keine Erfolge vorzuweisen haben, auf die sie sich berufen könnten, um diese Kritik zurückzuweisen – wie das in demokratischen Staaten eben üblich ist. Diese feine Klinge der demokratischen Kritik wird daher ersetzt durch die etwas gröbere, darauf hinzuweisen, daß in schweren Zeiten die Regierung beim Regieren nicht gestört werden will und zum nationalen Konsens aufzurufen, ihn zu gebieten. Die Opposition wiederum versäumt nicht, darauf hinzuweisen, daß auch sie nichts anderes als das Wohl der Nation im Auge hat und deswegen einfach ihre Stimme gegen die Regierung erheben muß. Kommt es tatsächlich zu einem Regierungswechsel durch Wahlen, so läßt sich das ganze Spiel mit verteilten Rollen fortführen.

Die Geschädigten des wirtschaftlichen Verfalls, den der „Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft“ darstellt, entlassene oder von Entlassung bedrohte Arbeiter, unter dem Existenzminimum dahinvegetierende Pensionisten, Schulabgänger ohne Aussicht auf Arbeit usw. interpretieren ihre Lage mehrheitlich als Führungsschwäche der Politiker, die die Potenzen, die im Lande schlummern, nicht zur Entfaltung bringen können. Für jemanden, der gelernt hat, seine Staatsgewalt ganz abstrakt, also systemunabhängig, als Grundbedingung seines persönlichen Wohls zu begreifen, ist die Fortsetzung dieses Gedankens nur mehr eine Kleinigkeit: Der jeweiligen Regierung mangelnde Entschlossenheit vorzuwerfen, einerseits im Umgang mit dem Ausland unter dem Stichwort „Ausverkauf der Nation“, und nach innen, gegen Parasiten und volksfremde Geschäftemacher, die den Niedergang des Landes aktiv betreiben. Die Feinde werden ihnen schließlich auch von der Politik präsentiert: Flüchtlinge oder auch nur Studenten aus den ehemaligen Bruderländern oder der Dritten Welt sind ein „Problem“, weil selber arm, sie stellen eine Altlast der Völkerfreundschaft dar, ihre Einreise gehört mit allen Mitteln beschränkt. Touristen oder Geschäftsleute aus dem Westen, Deviseninhaber, sind hochwillkommen, wie immer sie sich auch benehmen. Die einheimischen Händler und Spekulanten sind zwar die Lieblinge der Politik, es fallen aber auch hin und wieder böse Worte über Steuerhinterziehung, Schmuggel und zwielichtige Geschäfte dieser Personen.
So wird von Alltagsfaschisten in Ost genauso wie in West die „nationale Identität“ auf ihren einfachsten, prinzipiellsten Inhalt reduziert: Das Betonen der Gemeinsamkeit mit den eigenen Volksgenossen und die Front nach außen, gegen die, die dieser Einheit nicht angehören. Es ist daher ganz folgerichtig und in diesem Sinne auch verständlich, daß Bürger des ehemaligen Ostblocks sich die Mißerfolge des eigenen Staates als eine Frage der mangelnden Souveränität des Staates nach außen und in der mangelnden Einheit nach innen auffassen und auf die Suche nach Schuldigen gehen, die dafür verantwortlich zu machen sind. Sie betätigen sich entweder auf eigene Faust und verstoßen dabei gegen die Gesetze des Staates, oder sie geben das Menschenmaterial ab, mit dessen Hilfe Provinzhäuptlinge und andere Ehrgeizlinge sich ein Reich erobern bzw. das ihre vergrößern wollen.


Ärgernis Nr. 1: Einheit nach innen ist gefährdet

Da gibt es dann erstens innere Feinde. Der Antisemitismus feiert fröhliche Urständ, die Zigeuner werden wechselweise durch Kommunalbehörden deportiert oder durch Privat-Saubermänner drangsalisiert, und es gibt von Tschechien bis in den Kaukasus und noch weiter unverhohlene Versuche, alles, was sich an Minderheiten auf dem eigenen Territorium vorfindet, entweder mit allen Mitteln zu assimilieren oder gewaltsam zu verscheuchen. Die mit Entsetzen kommentierten „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien verdanken sich der Erfahrung, daß eine Minderheit auf dem eigenen Staatsgebiet einen Titel auf Einmischung durch das Ausland darstellt, der die Einheit der Nation gefährdet. Ein Ende dieser Praktiken ist nicht in Sicht, weder in Jugoslawien noch anderswo, im Gegenteil, denn es werden ja die Gründe für sie beständig reproduziert.


Ärgernis Nr. 2: Wir werden fremdbestimmt

Eine andere Möglichkeit, sich den mangelnden Erfolg des „Go west“ zu erklären, besteht darin, die Zentralmacht dafür verantwortlich zu machen. Der Nationalismus läßt sich nämlich durchaus auch als regionale Borniertheit betreiben, mit der ein Bundesland, ein Provinz, eine Autonome Republik meint, einzig ihre Bindung an einen unfähigen Gesamtstaat stünde ihr durch einen politischen schlechten Ruf oder wirtschaftliche „Ausbeutung“ bei der Bewährung auf dem Weltmarkt im Wege. Auch diese Sichtweise geht wie alle nationalistischen Interpretationen mit völliger Gleichgültigkeit gegenüber wirtschaftlichen Tatsachen einher. So ist die Slowakei durch staatlichen Beschluß und unter jahrzehntelanger Verlagerung von Ressourcen aus Böhmen und Mähren zu einem Zentrum der Rüstungs- und Schwerindustrie ausgebaut worden. Die baltischen Staaten verdanken ihre ganze Industrialisierung, Litauen sogar einen Teil seines Staatsgebietes der Sowjetmacht, und Slowenien ist von Jugoslawien mit billigen Rohstoffen und Halbfertigprodukten zu einem Standort für Westexport gemacht worden, um damit Devisen für den Gesamtstaat zu erwirtschaften. Und diese Industrie hatte nur im Rahmen des Gesamtstaates ihre Bedeutung und Tauglichkeit. Jetzt versuchen diese Staaten nach der Devise „take the money and run“ mit dieser so eingerichteten Industrie und Wirtschaft auf eigene Faust ihr Glück auf dem Weltmarkt. Dabei wird ihnen zwar praktisch beschieden, daß auf dem Weltmarkt gar kein Bedarf nach ihren Produkten herrscht, aber auch diese Erfahrung führt nicht zu einer Revision des Verdikts, das sie einmal gefällt haben. Kein verantwortlicher Politiker meint, der Wiederanschluß an die alte Macht (oder eine der ehemaligen Provinzen derselben) wäre angesichts der traurigen Ergebnisse der Abspaltung vielleicht wieder angesagt, sondern es steht fest, daß an der Abfuhr, die sie in der internationalen Konkurrenz erleiden, erst recht wieder die frühere „Unterdrückung“ durch die Zentralregierung schuld ist.

Der Spaltpilz setzt sich bei erfolgreichen Abspaltungen eher fort, als daß ihm ein Riegel vorgeschoben würde – irgendein Material läßt sich schon finden, seis eine eigene Sprache, ein anderer Dialekt, eine andere „historische Entwicklung“, die verschiedene Teile eines frischgebackenen Staates durchgemacht haben – flugs finden sich Befürworter einer neuen Autonomie, wie diffus auch die Vorstellungen über deren konkrete Nützlichkeit sein mögen.
Die zersetzende Agitation gegen Staat und Staatsvolk und für die eigene völkische Identität zeichnet sich durch eine gewisse Dürftigkeit des Gehalts aus – Mir san mir! –, der durch eine besonders blumige Ausdrucksweise aufgefettet werden soll:

„Ungarische Eltern!
In Ihren Händen liegt heute die Zukunft des Ungarntums in der Slowakei. Mit Ihrem Entschluß beeinflussen Sie nicht nur das Schicksal Ihres eigenen Kindes, sondern die Zukunft des ganzen Nationen-Teils. Womit? SCHREIBEN SIE JEDES UNGARISCHE KIND IN EINE UNGARISCHE SCHULE EIN! Nur in der Muttersprache und einer muttersprachlichen Umgebung und geistigen Gemeinschaft erworbenes Wissen kann befruchtend, bereichernd, menschenveredelnd sein. … Allerdings finden sich auch unter denjenigen (Ungarn), die eine slowakische Schule besucht haben, Menschen, die sich im Leben zurechtfinden. Das ist aber nur wieder ein Beweis dafür, was der Ungar für eine tüchtige, lebensfähige Sorte Mensch ist! …“
{Aufruf der „Palóc-Gesellschaft“, in: Szabad Újság, 21.1. 1993 (ungarische Tageszeitung in der Slowakei) „Palóc“ bezeichnet einen nordungarischen Dialekt und die ihn sprechenden Menschen. Die Ausdrücke sind nicht durch die Übersetzung entstellt, sondern klingen im Original ähnlich eigenartig.. Das Wort „nemzetrész“ – „Nationen-Teil“ findet sich in keinem ungarischen Wörterbuch. Diese Neuschöpfung beinhaltet den Gedanken der Abspaltung: Teil welcher Nation? Derer, auf dessen Staatsgebiet die Minderheit lebt, oder der „Mutternation“ außerhalb der Grenzen?}


Ärgernis Nr. 3: Die Nachbarn werden frech!

Es fehlt aber auch nicht an äußeren Feinden, die dem eigenen Staat zu nahe treten könnten, wenn man nicht aufpaßt. In dieser Rubrik sind die Anrainerstaaten, die früher dem Ostblock angehört haben, die erste Adresse: Wer sonst, wenn nicht die Regierung des Nachbarlandes, torpediert die eigenen politischen Ambitionen auf Vormachtstellung in einer Region, in der durch Abdanken der alten „Schutzmacht“ scheinbar alles möglich geworden ist? So sind die diplomatischen Beziehungen der ostmitteleuropäischen Staaten – wie sie sich gern vornehm nennen, um nicht schon wieder mit den unzivilisierten Russen in einen Topf geworfen zu werden –, und der GUS-Staaten gezeichnet von offenen und versteckten Frechheiten, die dann wieder dementiert werden, um diese Art von „Dialog“ mit frischen Kräften fortsetzen zu können. Mit Berufung auf dort lebende Minderheiten leisten sich Polen und Ungarn in einem fort Einmischungen in die Belange der Nachbarländer; die Friedensverträge, die die heutigen Grenzen festgelegt haben, dürfen hin und wieder öffentlich thematisiert werden. Dann wiederum werden Verträge unterzeichnet, die die Anerkennung der Grenzen gegenseitig garantieren – eine Garantie, die ja nur dort gefordert wird, wo die gegenteilige Absicht offensichtlich ist. Kraftwerke und Industrieanlagen in Grenznähe würde jeder Staat dem Nachbarn am liebsten verbieten, wenn es in seiner Macht läge, usw. Ein weiterer Anlaß für böses Blut sind die Wirtschaftsbeziehungen zwischen diesen Staaten, wie sich nach dem Zusammenbruch des RGW und der Auflösung der UdSSR, Jugoslawiens und der CSFR entwickeln: Jeder möchte die Wirtschaft des anderen Staats als billiges Hinterland benützen, also von dort möglichst billig und auf Tauschbasis importieren, um selber in den Westen, gegen Devisen, zu exportieren.
Alle diese „offenen Fragen“ sind solche, die unmittelbar die Frage der Souveränität eines Staates berühren und keine „friedliche Lösung“ kennen. Die gewöhnlichen Druckmittel, derer sich westliche Regierungen in solchen Fällen zu bedienen pflegen, Handelskrieg oder Embargo, verfangen nicht zwischen Staaten, die ihre Wirtschaftsbeziehungen und gegenseitigen Abhängigkeiten von Jahr zu Jahr mehr auflösen, weil sie sie als belastendes Vermächtnis des Kommunismus empfinden. Manche Regierungen haben sich dazu entschlossen, ihre Streitfragen den westlichen Gremien, die in der Welt tonangebend sind, vorzulegen. Die Unterwerfung unter den Schiedsspruch von Europaparlament oder UNO oder deren Kommissionen tut natürlich jede Regierung in der Hoffnung, daß ihr Standpunkt recht bekommt. Sie will sich einer stärkeren Macht bedienen, um sich gegen eine ihr gleichwertige, also zweitrangige, zu behaupten. Für die westeuropäischen Staaten ist damit eine Möglichkeit der Einmischung eröffnet, für das Heranzüchten von politischen Geschöpfen im neuen „Hinterhof“ Westeuropas, für das Einrichten neuer Bündnissysteme und für zwischenstaatliche Erpressungen aller Art. Was die Streitparteien betrifft, ist hiermit jedoch klar, daß im Falle einer eindeutigen Entscheidung eine unzufriedene Partei, im Falle eines „salomonischen Urteils“ zwei Unzufriedene übrigbleiben. Es ist also nur eine Frage der Mittel, konkret des militärischen Geräts, diesen „Schiedsspruch“ auszuschlagen und solche zwischenstaatlichen Gegensätze direkt zu entscheiden. Andere Staaten haben diesen Weg bereits beschritten. Und sobald ein Staat einmal beschließt, daß dieses Gerät angeschafft werden muß, kennt er keinerlei Bedenken, die letzten Ressourcen für diesen Zweck zu mobilisieren, um eine Entscheidung zu erzwingen.

 

Fazit: Patrioten sind Idioten

– besonders dann, wenn die Liebe zur Heimat den Ersatz für jegliche auch noch so kleine Annehmlichkeiten darstellt, die ihnen diese Heimat gewährt. Wenn sie also in einem Staat, in dem sie nicht einmal ihr bescheidenes Auskommen finden, gerade darüber die Wichtigkeit der Stärkung dieses Staates entdecken. Wenn sie an anderen, Fremden, wahrzunehmen meinen, daß diese sich etwas heraus- und dadurch ihnen etwas wegnehmen – das ist deswegen besonders dumm, weil die Verfolgung und Vertreibung von Asylanten oder Juden oder Muselmanen gerade kein Weg ist, selbst etwas zu erhalten. Der Erste, der sich an der Tasche seiner Bürger bedient und seine Untertanen gegebenenfalls auch verheizt, ist nämlich die Staatsgewalt selber.

– besonders dann, wenn sie als Mitglieder einer Minderheit auf die Benachteiligung oder Verfolgung, die sie durch staatliche Behörden und private „Saubermänner“ erleiden, nichts anderes geltend machen zu wissen als eben das Beharren auf ihrem partikularen Patriotismus und die Forderung nach Autonomie oder Sezession für ihr Gebiet. Sie tun damit nämlich kund, daß sie von neuen, „eigenen“ Politikern alles zu erdulden bereit sind, was sie von den „fremden“ als schreiende Ungerechtigkeit empfinden: Verarmung durch Inflation und Reallohnsenkungen, Arbeitslosigkeit und Militärdienst, mit einem Wort: ihre Bestimmung zur Manövriermasse der Staatsmacht.

– besonders dann, wenn sie in ihrer Eigenschaft als Beobachter des nationalistischen Treibens die „nationale Identität“ als ehrenwerte Eigenheit hätscheln und unbedingt gefördert sehen wollen, um sich dann – freilich sehr in Einklang mit den politischen Konjunkturen, der Scheidung zwischen genehmen und nicht genehmen Herrschaften – in Unverständnis zu gefallen, wenn manche Regierungen oder Möchtegern-Staatsmänner sich dieser nationalen Identität bedienen, um ihr Staatsgebiet zu vergrößern bzw. sich eines zu erobern und andere mit der gleichen Begründung ihnen das zu verwehren suchen.

Kriege werden übrigens immer im Namen der Nation geführt, für die das eigene Leben nicht zu schade sein darf. Hauptsache, der kriegsführende Staat kann auf seine Patrioten zählen.

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(erschienen in FORVM – österreichische 2-monatlich erscheinende Zeitschrift, 1995 eingestellt. Der Artikel erschien im Juli 1993)

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