Protokoll 41
21. 12. 2013

 

24. KAPITEL: Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation

 

Wir erreichen das mit Spannung erwartete Kapitel, wo die Frage abgehandelt wird, wie es zu einer Klasse von Kapitalisten und einem Proletariat kommt.

 

1. Das Geheimnis der ursprünglichen Akkumulation

Zunächst kommt die Ideologie, wonach es einerseits Brave und Fleißige gegeben hat, und andererseits Faule:

„In einer längst verfloßnen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der andren faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen. Die Legende vom theologischen Sündenfall erzählt uns allerdings, wie der Mensch dazu verdammt worden sei, sein Brot im Schweiß seines Angesichts zu essen; die Historie vom ökonomischen Sündenfall aber enthüllt uns, wieso es Leute gibt, die das keineswegs nötig haben. … In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle. In der sanften politischen Ökonomie herrschte von jeher die Idylle. Recht und »Arbeit« waren von jeher die einzigen Bereicherungsmittel, natürlich mit jedesmaliger Ausnahme von »diesem Jahr«.“ (S. 741-742)

Mit „diesem Jahr“ ist das gegenwärtige gemeint. Mit anderen Worten, Fleiß und Friedlichkeit wird als die Regel festgesetzt, – alle Anschauung, die dem widerspricht, ist als Ausnahme zu betrachten.

Es ist zwar eine Wiederholung, soll aber dennoch nicht überlesen werden:

„Geld und Ware sind nicht von vornherein Kapital, sowenig wie Produktions- und Lebensmittel. Sie bedürfen der Verwandlung in Kapital.“ (S. 742, 2. Absatz)

Eine Auskunft über die bürgerliche Freiheit, die auch klärt, daß es für Kapitalismus als Produktionsweise das Auftauchen einer besonderen Art von Ware bedarf (siehe Kapitel 4 bzw. Protokolle zum 2. Abschnitt):

„Zweierlei sehr verschiedne Sorten von Warenbesitzern müssen sich gegenüber und in Kontakt treten, einerseits Eigner von Geld, Produktions- und Lebensmitteln, denen es gilt, die von ihnen geeignete Wertsumme zu verwerten durch Ankauf fremder Arbeitskraft; andrerseits freie Arbeiter, Verkäufer der eignen Arbeitskraft und daher Verkäufer von Arbeit. Freie Arbeiter in dem Doppelsinn, daß weder sie selbst unmittelbar zu den Produktionsmitteln gehören, wie Sklaven, Leibeigne usw., noch auch die Produktionsmittel ihnen gehören, wie beim selbstwirtschaftenden Bauer usw., sie davon vielmehr frei, los und ledig sind. … Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel. “ (ebd.)

Das Spannende ist also gar nicht, woher der Reichtum der einen ist, weil geplündert ist schnell einmal wo was, sondern woher die produktiv nutzbare Armut der anderen herrührt.
Die Trennung der Arbeiter von den Produktionsmitteln und deren Konzentration in den Händen des Kapitals wird in der Geschichtsschreibung als ein Prozeß der Emanzipation besprochen, der die menschlichen Potenzen erst so richtig freigesetzt hat:

„Somit erscheint die geschichtliche Bewegung, die die Produzenten in Lohnarbeiter verwandelt, einerseits als ihre Befreiung von Dienstbarkeit und Zunftzwang; und diese Seite allein existiert für unsre bürgerlichen Geschichtsschreiber. Andrerseits aber werden diese Neubefreiten erst Verkäufer ihrer selbst, nachdem ihnen alle ihre Produktionsmittel und alle durch die alten feudalen Einrichtungen gebotnen Garantien ihrer Existenz geraubt sind. Und die Geschichte dieser ihrer Expropriation ist in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer.“ (S. 743, 2. Absatz)

Warum setzt Marx die Anfänge des Kapitalismus im 16. Jahrhundert an? Weil er die Manufakturperiode als entscheidenden Schritt in Richtung Kapitalismus auffaßt – siehe Kapitel 12 bzw. Protokolle 24 – 26A.

Entscheidend für die Trennung von Arbeiter und Produktionsmittel ist die Landfrage, also die Verfügung über Grund und Boden:

„Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses. Ihre Geschichte nimmt in verschiedenen Ländern verschiedene Färbung an und durchläuft die verschiedenen Phasen in verschiedener Reihenfolge und in verschiedenen Geschichtsepochen. Nur in England, das wir daher als Beispiel nehmen, besitzt sie klassische Form.“ (S. 744, 1. Absatz)

Warum ist die Form gerade in England „klassisch“, andere Verfahrendweisen also abweichend oder vernachlässigenswert?
Vielleicht klärt sich das noch.

 

2. Expropriation des Landvolks von Grund und Boden

Laut Marx hatte England die Leibeigenschaft im 15. Jahrhundert bereits hinter sich, und die Bauern waren Pächter der Grundherren. (Das heißt, sie mußten eine Pacht zahlen, ob in Naturalien oder Geld, ist hier nicht klar.)

„In allen Ländern Europas ist die feudale Produktion durch Teilung des Bodens unter möglichst viele Untersassen charakterisiert. Die Macht des Feudalherrn, wie die jedes Souveräns, beruhte nicht auf der Länge seiner Rentrolle, sondern auf der Zahl seiner Untertanen, und letzre hing von der Zahl selbstwirtschaftender Bauern ab.“ (S. 745)

???
Je mehr Bauern auf einem Land, desto besser? Da kommt es doch wohl schon auf die Größe des Grundes an, der da einem einzelnen bzw. einer Familie zur Verfügung steht.
Die „Rentrolle“ gibt es im Deutschen nicht, das ist aus dem Englischen übernommen – „rent“ steht für Miete, Pacht. Sind jetzt die Pächter die Untertanen? Dann stünden sie ja auf der Rentrolle.

Irgendwie verwirrt dieser Absatz mehr, als daß er Klarheit schaffen würde.

Der langen Rede kurzer Sinn: England hatte einen selbständigen Bauernstand, der prosperierte und etwas Mehrprodukt als Pacht an die Feudalherren ablieferte. Diese waren auch zufrieden, weil das Mehrprodukt konnten sie aufessen und hatten keine Mühe mit etwaigen Aufständen oder dem Weglaufen der Leibeigenen, was ihren Kollegen in anderen Ländern das Leben schwer machte.

„Das Vorspiel der Umwälzung, welche die Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise schuf, ereignet sich im letzten Dritteil des 15. und den ersten Dezennien des 16. Jahrhunderts. Eine Masse vogelfreier Proletarier ward auf den Arbeitsmarkt geschleudert durch die Auflösung der feudalen Gefolgschaften, die, wie Sir James Steuart richtig bemerkt, »überall nutzlos Haus und Hof füllten«.“ (S. 746, 1. Absatz)

Gefolgschaften“ waren Soldaten + Familie, die in Friedenszeiten durchgefüttert wurden. Diese stellten als eigene Privattruppe eine Gefahr für die Macht der Krone dar, deswegen verfügte sie deren Auflösung.

„ … schuf der große Feudalherr ein ungleich größeres Proletariat durch gewaltsame Verjagung der Bauernschaft von dem Grund und Boden, worauf sie denselben feudalen Rechtstitel besaß wie er selbst …“ (ebd.)

Welchen Rechtstitel? Ich dachte, die waren Pächter?

„Den unmittelbaren Anstoß dazu gab in England namentlich das Aufblühn der flandrischen Wollmanufaktur und das entsprechende Steigen der Wollpreise.“ (ebd.)

Auch eine interessante Entwicklung: Der Aufstieg Englands zur kapitalistischen Nation per se nimmt seinen Anfang als Rohstofflieferant für Manufakturen anderer Nationen.

„Den alten Feudaladel hatten die großen Feudalkriege verschlungen, der neue war ein Kind seiner Zeit, für welche Geld die Macht aller Mächte.“ (ebd.)

Den alten Feudalherren ging's offenbar um Ruhm und Ehre, und daß sie von nachfolgenden Generationen besungen werden, der neue wollte sich gut kleiden und gediegen einrichten, mit fremden Manufakturprodukten vermutlich …

„Verwandlung von Ackerland in Schafweide ward also sein Lösungswort.  … Die Wohnungen der Bauern und die Cottages der Arbeiter wurden gewaltsam niedergerissen oder dem Verfall geweiht.“ (ebd.)

Von wem eigentlich? Welche Gewalt stand den neuen Feudalherren zur Verfügung, nachdem sie ihre am Hof herumlungernden Bewaffneten zum Teufel geschickt hatten? Wie war die Stellung der Zentralgewalt, der Krone, in dieser Frage? Neutral und abwartend, beteiligt mit eigenem Personal, oder wenig erfreut bis obstruktiv?

„Die Gesetzgebung erschrak vor dieser Umwälzung.“ (S. 746, 4. Absatz)

Hier und im Folgenden wird das Bild einer sehr schwachen Staatsgewalt gezeigt, die zwar Gesetze erläßt, aber über keine Mittel verfügt, diese durchzusetzen. Und das, obwohl es um ihre Steuereinnahmen, also das Allerheiligste geht!

„Die Volksklage und die seit Heinrich dem VII. an 150 Jahre fortdauernde Gesetzgebung wider die Expropriation der kleinen Pächter und Bauern waren gleich fruchtlos. Das Geheimnis ihrer Erfolglosigkeit verrät uns Baco wider Wissen.
»Der Akt Heinrichs des Siebenten", sagt er in seinen "Essays, civil and moral", Sect. 29, "war tief und bewunderungswürdig, indem er Landwirtschaften und Ackerbauhäuser von bestimmtem Normalmaß schuf, d.h. eine Proportion von Land für sie erhielt, die sie befähigte, Untertanen von genügendem Reichtum und ohne servile Lage auf die Welt zu setzen und den Pflug in der Hand von Eigentümern, nicht von Mietlingen zu halten.«
Was das kapitalistische System erheischte, war umgekehrt servile Lage der Volksmasse, ihre eigne Verwandlung in Mietlinge und Verwandlung ihrer Arbeitsmittel in Kapital.“ (S. 747/748)

Die Aufklärung über die Erfolglosigkeit der Gesetze ist unbefriedigend. Man kann dem Zitat entnehmen, daß der König etwas anderes beabsichtigte als die Grundherren und Schafbesitzer, aber nicht, wie letztere die Gesetze umgingen.

Die Vertreibung der Bewohner der Kirchengüter (S. 748/749) war eher ein Kollateralschaden des Kampfes der Tudors (Heinrich VIII. und Elisabeth I.) gegen die katholische Kirche, als eine absichtliche Beschleunigung des Vorgangs der Entvölkerung des Landes. Der ganze Prozess des Ersetzens von Bewohnern durch Schafe beraubte die Krone ihrer Einnahmen und lief ihren Interessen zuwider.

Bei der Restauration der Stuarts wurden die zu leistenden Abgaben des Adels irgendwie gelöscht und die Krone begann sich an anderen Steuersubjekten schadlos zu halten.
Mit dem, was sich „überall auf dem Kontinent auch ohne gesetzliche Weitläufigkeit vollzog“ (S. 751), meint Marx das „Bauernlegen“, also die ständigen Versuche, Leibeigene zu vertreiben, um sich ihr Land zur grundherrlichen Bewirtschaftung anzueignen. In Österreich wurde gegen diese Praktiken das Urbarium Maria Theresias erlassen, die Grundlage des heutigen Katasters.

„Die »glorious Revolution« (glorreiche Revolution) brachte mit dem Oranier Wilhelm III. die grundherrlichen und kapitalistischen Plusmacher zur Herrschaft. Sie weihten die neue Ära ein, indem sie den bisher nur bescheiden betriebenen Diebstahl an den Staatsdomänen auf kolossaler Stufenleiter ausübten. Diese Ländereien wurden verschenkt, zu Spottpreisen verkauft oder auch durch direkte Usurpation an Privatgüter annexiert.“ (S. 751, 3. Absatz)

Die Grund- und Schafbesitzer nutzten also die Dynastienwechsel in England, um erstens die Bevölkerung vom Land zu vertreiben, aber zweitens auch die Krone um ihren Besitz und ihre Einkünfte zu schmälern. Dieses ganze Kapitel ist auch eine Auskunft über die Entwicklung der Staatsgewalt vom feudalen primus inter pares zum modernen Gewaltmonopol, auch hinsichtlich ihrer Einkommensquellen. 

Weil wir uns bisher gar so geplagt haben, hier einmal ein Fremdwort- und Begriffsregister:
Acre
Yeoman
fraudulent = betrügerisch. Herkunft unklar – aus dem Französischen oder Katalanischen?

Auch dieses Kapitel leidet etwas darunter, daß man mit Bildungselementen und Akteuren zugemüllt wird, die eigentlich nichts mit der zu entwickelnden Expropriation in England zu tun haben. Boris Godunow, schwedische Stadtbürger und viele Fremdwörter lenken von dem ab, was hier dargelegt werden soll: die Entwicklung des Proletariats und der Kapitalistenklasse:

„Zudem war die neue Grundaristokratie die natürliche Bundesgenossin der neuen Bankokratie, der eben aus dem Ei gekrochnen hohen Finanz und der damals auf Schutzzölle sich stützenden großen Manufakturisten.“ (S 752, 1. Absatz)

Auch das Gemeindeland, das noch aus der feudalen oder vor-feudalen Verhältnissen stammte, wurde irgendwie in Privateigentum der Grundbesitzer überführt. Die gegenwärtigen Debatten in Tirol über das einverleibte Gemeindeland zeigen, daß die rechtliche Abwicklung dieser Einverleibung bis heute dauert. (Vermutlich hat das auch was mit der EU zu tun, daß solche bisher in rechtlicher Schwebe befindliche Aneignungen jetzt rechtsförmlich geregelt werden müssen.)

„Sir F. M. Eden widerlegt sein pfiffiges Advokatenplädoyer, worin er das Gemeindeeigentum als Privateigentum der an die Stelle der Feudalen getretenen großen Grundeigentümer darzustellen sucht, indem er selbst einen "allgemeinen Parlamentsakt für Einhegung der Gemeindeländereien" verlangt, also zugibt, daß ein parlamentarischer Staatsstreich zu ihrer Verwandlung in Privateigentum nötig ist, andrerseits aber von der Legislatur "Schadensersatz" für die expropriierten Armen fordert.“ (S. 753, 1. Absatz)

Das Recht wird hier einfach den Erfordernissen angepaßt, wie heute auch. Eine solche gesetzliche Änderung als „Staatsstreich“ zu bezeichnen, erscheint etwas übertrieben. Marx wollte damit vermutlich auf die grundlegenden Veränderungen in der Staatsräson hinweisen, die sich in dieser Gesetzesänderung ausdrücken. Die Staatsmacht selbst entdeckt andere Formen von Einkünften als durch Besteuerung des Landvolks.

Die „enclosures“ versahen die Grundherren mit ihnen zur Verfügung stehendem Land. Sie erzeugten Landflucht. Aber irgendwann und -wie findet in der Klage um die Verarmung des Landvolkes ein Umschwung statt: die Gewinne der Manufakturen/Fabriken nehmen in den Schriften der Nationalökonomen immer mehr Raum ein.

Die „Clearances“ in Schottland waren ein Gemeinschaftswerk von Staat und Adel. Was so kryptisch-bildungsbürgerlich als „letzte Schilderhebung des Prätendenten“ (S. 757) bezeichnet wird, ist der letzte Versuch der Stuarts, die schottische und vielleicht auch die englische Krone zu erobern, der mit der Niederlage in der Schlacht bei Culloden 1746 zunichte gemacht wurde. Die Armee, die Bonnie Prince Charlie aufstellte, setzte sich aus den schottischen Bauern zusammen. Die vom Adel / den Clanchefs angestrebte Vertreibung der Zweibeiner, um Vierbeinern Platz zu machen, traf auf Wohlwollen seitens der Krone, weil damit alle Möglichkeiten verschwanden, dort noch einmal ein Insurgentenheer aufzustellen.

Die auf S. 759-760 erwähnte Verwandlung der solchermaßen „bereinigten“ Fluren von Schafweide in Jagdgebiet dürfte nicht nur der guten Zahlungsfähigkeit der Jäger geschuldet sein, sondern auch dem Umstand, daß die Baumwolle die Wolle als Material für Textilien langsam ablöste.

Fazit:

„Der Raub der Kirchengüter, die fraudulente Veräußerung der Staatsdomänen, der Diebstahl des Gemeindeeigentums, die usurpatorische und mit rücksichtslosem Terrorismus vollzogne Verwandlung von feudalem und Claneigentum in modernes Privateigentum, es waren ebenso viele idyllische Methoden der ursprünglichen Akkumulation. Sie eroberten das Feld für die kapitalistische Agrikultur, einverleibten den Grund und Boden dem Kapital und schufen der städtischen Industrie die nötige Zufuhr von vogelfreiem Proletariat.“ (S. 760/761)

Die Frage stellte sich uns: Wie kamen auf der anderen Seite die Fabrikanten zustande? Woher war deren Kapital? Geraubtes Kirchensilber?

 

3. Blutgesetzgebung gegen die Expropriierten seit Ende des 15. Jahrhunderts. Gesetze zur Herabdrückung des Arbeitslohns

„Die durch Auflösung der feudalen Gefolgschaften und durch stoßweise, gewaltsame Expropriation von Grund und Boden Verjagten, dies vogelfreie Proletariat konnte unmöglich ebenso rasch von der aufkommenden Manufaktur absorbiert werden, als es auf die Welt gesetzt ward. Andrerseits konnten die plötzlich aus ihrer gewohnten Lebensbahn Herausgeschleuderten sich nicht ebenso plötzlich in die Disziplin des neuen Zustandes finden.“ (S. 761/762)

Um sich in ein veritables und arbeitswilliges Proletariat zu verwandeln, bedurfte es sozusagen noch einer Eingewöhnungsphase …

„Sie verwandelten sich massenhaft in Bettler, Räuber, Vagabunden, zum Teil aus Neigung, in den meisten Fällen durch den Zwang der Umstände. (ebd.)

So, so. Die „Neigung“ zum Bettler, Räuber oder Vagabunden würde ohne „Zwang der Umstände“ wohl schwerlich entstehen …

„Ende des 15. und während des ganzen 16. Jahrhunderts daher in ganz Westeuropa eine Blutgesetzgebung wider Vagabundage. (ebd.)

Erst macht man die Leute zu Obdachlosen, indem man ihre Häuser verbrennt, dann werden sie dafür bestraft, obdachlos zu sein. In Ungarn geht die Gesetzgebung heute ähnliche Wege …
Die Vagabundage oder das „Unstete“ war auch seit den hier beschriebenen Ereignissen vielen Regimes ein Dorn im Auge. Leute ohne festen Wohnsitz, Nomaden entziehen sich der Besteuerung und Kontrolle, und natürlich der Arbeitspflicht. Eines der Ziele der realsozialistischen Regierungen war die Seßhaftmachung der Zigeuner …

„Die Väter der jetzigen Arbeiterklasse wurden zunächst gezüchtigt für die ihnen angetane Verwandlung in Vagabunden und Paupers. Die Gesetzgebung behandelte sie als »freiwillige« Verbrecher und unterstellte, daß es von ihrem guten Willen abhänge, in den nicht mehr existierenden alten Verhältnissen fortzuarbeiten.“ (ebd.)

Das ist übrigens der Witz jedes „Verbrechens“, daß es durch die Gesetzgebung erst einmal als solches definiert wird. Hier wird irgendwie so getan, als gebe es „wirkliche“ und „zu solchen gemachte“ Verbrecher …

Alle diese Maßnahmen zur Vernichtung der überflüssigen Bevölkerung soll man nicht als rein historisch abtun – wir stehen da (2014) erst an der Schwelle zu sehr innovativen Maßnahmen, wie die Staaten der EU versuchen, sich ihrer überflüssigen gemachten Bevölkerung zu entledigen.

Zum Bewußtsein des modernen Staatsbürgers:

„Es ist nicht genug, daß die Arbeitsbedingungen auf den einen Pol als Kapital treten und auf den andren Pol Menschen, welche nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft. Es genügt auch nicht, sie zu zwingen, sich freiwillig zu verkaufen. Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt. Die Organisation des ausgebildeten kapitalistischen Produktionsprozesses bricht jeden Widerstand, die beständige Erzeugung einer relativen Übervölkerung hält das Gesetz der Zufuhr von und Nachfrage nach Arbeit und daher den Arbeitslohn in einem den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals entsprechenden Gleise, der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter. Außerökonomische, unmittelbare Gewalt wird zwar immer noch angewandt, aber nur ausnahmsweise. Für den gewöhnlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den "Naturgesetzen der Produktion" überlassen bleiben, d.h. seiner aus den Produktionsbedingungen selbst entspringenden, durch sie garantierten und verewigten Abhängigkeit vom Kapital. “ (S. 765, 4. Absatz)

Der Zustand, die eigene Eigentumslosigkeit als quasi natürlich zu akzeptieren und freiwillig bei jemand anderen in Dienst zu treten und dessen Vermögen zu vermehren, ist weder selbstverständlich, noch tritt er über Nacht durch den „stummen Zwang der Verhältnisse“ ein. In der Entstehung des Kapitalismus war sehr greifbarer Zwang nötig, und es gab inzwischen auch eine Staatsgewalt, die den willig übernahm:

„Anders während der historischen Genesis der kapitalistischen Produktion. Die aufkommende Bourgeoisie braucht und verwendet die Staatsgewalt, um den Arbeitslohn zu »regulieren«, d.h. innerhalb der Plusmacherei zusagender Schranken zu zwängen, um den Arbeitstag zu verlängern und den Arbeiter selbst in normalem Abhängigkeitsgrad zu erhalten. Es ist dies ein wesentliches Moment der sog. ursprünglichen Akkumulation.“ (ebd.)

Daß auf diesem Wege sehr viel an überflüssiger Bevölkerung einfach beseitigt wurde, konnte sie sich nicht als Störfaktor bei der sich entwickelnden Marktwirtschaft betätigen.

Ebenso bestraft die Gesetzgebung Lohnforderungen durch Einführung eines Maximallohns und Bestrafung von deren Überschreitung. Dies bereits zu einer Zeit (14. Jhd.), wo die Vertreibung der Landbevölkerung noch nicht begonnen hatte und Arbeitskräfte daher rar waren, bis ins 19. Jhd. Vom 14. bis ins 19. Jahrhundert war es ein Verbrechen, Arbeitervereinigungen zu bilden.
Was kann man dem entnehmen? Die Schaffung von profitablen Arbeitsplätzen war den Herrschern sogar in sehr frühen Zeiten ein Anliegen, während sie den gesellschaftlich–steuerlichen Nutzen von Verelendung und Überflüssigmachung weiter Teile der Bevölkerung erst mit der Zeit begriff.

„Endlich, 1813, wurden die Gesetze über Lohnregulation abgeschafft. Sie waren eine lächerliche Anomalie, seitdem der Kapitalist die Fabrik durch seine Privatgesetzgebung regulierte und durch die Armensteuer den Lohn des Landarbeiters zum unentbehrlichen Minimum ergänzen ließ.“ (S. 768, 1. Absatz)

Es ist nicht ganz klar, was diese „Armensteuer“ ist und von wem sie eingehoben wurde. Aber das Verfahren ist klar: Der Unternehmer zahlte so wenig, daß sich daraus der Arbeiter nicht reproduzieren konnte, und von Seiten des Staates oder der Kirche wurde dieser kümmerliche Lohn ergänzt.
Kennen wir das nicht heute von irgendwo? Working poor und so? Auch die Debatten über oder die Einführung von Mindestlöhnen weisen auf die heute wieder sehr große Freiheit der Unternehmer bei der Lohnzahlung hin.

Worauf bezieht sich dieser Satz:

„Die grausamen Gesetze gegen die Koalitionen fielen 1825 vor der drohenden Haltung des Proletariats.“ (S. 768, 2. Absatz)

Die „drohende Haltung des Proletariats“ bestand aus einer für die herrschende Elite unerfreulichen Mischung aus Arbeitern, die sich in Geheimgesellschaften organisierten, und bürgerlichen Kreisen („Radicals“), die eine Wahlrechtsreform anstrebten, und sich dafür nach Verbündeten unter den unzufriedenen Arbeitern umsahen – alle irgendwie infiziert vom Bazillus der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit usw. Das britische Parlament optierte daher für kontrollierbare legale Arbeiterorganisationen.

„Trotzdem fielen sie nur zum Teil. Einige schöne Überbleibsel der alten Statute verschwanden erst 1859. Endlich beanspruchte der Parlamentsakt vom 29. Juni 1871 die letzten Spuren dieser Klassengesetzgebung zu beseitigen durch gesetzliche Anerkennung der Trades’ Unions.“ (S. 768/769)

Das „Kapital I“ erschien offiziell 1867. Für die späteren Auflagen wurden offenbar Ergänzungen vorgenommen, die nicht ausdrücklich als solche gekennzeichnet sind.

Hier macht sich Marx vermutlich Illusionen über die Beweggründe der Gesetzgeber:

„Man sieht, nur widerwillig und unter dem Druck der Massen verzichtete das englische Parlament auf die Gesetze gegen Strikes und Trades’ Unions, nachdem es selbst, fünf Jahrhunderte hindurch, mit schamlosem Egoismus die Stellung einer permanenten Trades’ Union der Kapitalisten gegen die Arbeiter behauptet hatte.“ (S. 769, 1. Absatz)

Der Verweis auf den „Druck der Massen“, dem diese Herrschaften ja lange erfolgreich widerstanden hatten, ersetzt jede Überlegung darüber, ob die Abgeordneten nicht selbst Gründe hatten, die Genehmigung von Arbeitervereinigungen zuzulassen – noch dazu, als sie sich ja auch Ausnahmen genehmigten, wann solche legalen Vereine als illegale „Konspirationen“ anzusehen seien.

Dabei beruhten die Vorstellungen über Freiheit, Gleichheit und Arbeiterrechte auf einem Mißverständnis, welches die Akteure der Französischen Revolution geschwind beseitigten:

„Gleich im Beginn des Revolutionssturms wagte die französische Bourgeoisie das eben erst eroberte Assoziationsrecht den Arbeitern wieder zu entziehn. Durch Dekret vom 14. Juni 1791 erklärte sie alle Arbeiterkoalition für ein »Attentat auf die Freiheit und die Erklärung der Menschenrechte«, strafbar mit 500 Livres nebst einjähriger Entziehung der aktiven Bürgerrechte.“ (S. 770, 1. Absatz)

Die Freiheit der Arbeiter, sich zu Interessensverbänden zusammenschließen, bedrohte nämlich die Freiheit des Unternehmertums.

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