Protokoll 36
2.6. 2013

18. KAPITEL: Der Zeitlohn

Es gibt zwei Möglichkeiten, den Zeitlohn zu berechnen: Entweder nach Tages- oder nach Stundenlohn. Beides gibt dem Anwender Spielraum zum Lohndrücken, und ist eine Quelle des Grams für den Arbeiter: Wird jemand nach Stundenlohn bezahlt, so möchte er möglichst lange arbeiten, um auf einen guten Taglohn zu kommen. Jede Unterbeschäftigung drückt sich in geringerer Entlohnung aus. Wird er nach Taglohn bezahlt, so kann man durch möglichst intensive oder lange Arbeit auch möglichst viel aus ihm herausholen, wird ihn aber bei Unterbeschäftigung sofort entlassen, da ja sonst der Unternehmer draufzahlen würde.
Bei Beschränkung des Arbeitstages läßt sich diese durch „freiwillige“ Mehrarbeit umgehen, indem man den Lohn so verringert, daß der Arbeiter innerhalb der gesetzlichen Arbeitszeit damit nicht auskommen könnte.

Heute wird mit Teilzeit- und Kurzarbeit auch auf dieser Tastatur gespielt. Auch die Leiharbeitsfirmen machen ihr Geschäft aus der Differenz zwischen Monats-, Tages- und Stundenlohn. Die Elastizität, die der Monatslohn heute den Firmen gibt, und die Flexibilität der Durchrechnungszeiträume führen z.B. dazu, daß bei guter Auftragslage keine Überstunden gezahlt werden müssen, sondern im Zeitausgleich in einem Arbeitskonto verrechnet werden können.
Der Stundenlohn wiederum gibt – z.B. bei Studentenjobs – den Unternehmern die Freiheit, solche Löhne zu zahlen, von denen niemand leben könnte, da sie als Zielgruppe Leute haben, die noch andere Einkommensquellen haben.

Die Maßeinheit des Zeitlohns ist eine Stunde, und sie ergibt sich durch den Arbeitstag dividiert durch die Stundenzahl. Bei einer Mehrwert -(Ausbeutungs-)rate von 100% ist also ihr Wertprodukt, also das, was er in dieser Zeit an Arbeit zusetzt,  das Doppelte des gezahlten Arbeitslohns.

Da aber – im Grunde ist dies nur eine Wiederholung von bereits Abgehandeltem – muß er deswegen auf eine bestimmte Stundenanzahl kommen, um seine Reproduktionskosten zu erarbeiten. (Deshalb wird Kurzarbeit heute staatlich subventioniert.)
Dem Kapitalisten ist es gleich, ob er 2 Arbeiter Halbzeit oder einen Vollzeit anstellt. Für die Arbeiter stellt sich das allerdings anders dar. Deswegen gibt es heute „working poor“, die Zuschüsse brauchen, um überleben zu können.

Das Perfide des Stundenlohns ist, daß die Reproduktion des Arbeiters hier gar nicht Gesichtspunkt ist. Der Stundenlohn wird aus Ganztags-Arbeitslöhnen errechnet und in ihm ist jeder Zusammenhang mit den Reproduktionskosten des Arbeiters getilgt. Die Entlohnung per Stundenlohn schafft eine völlige Entkopplung zwischen Entlohnung und Lebenserhaltungskosten des Arbeiters:

„Der Kapitalist kann jetzt ein bestimmtes Quantum Mehrarbeit aus dem Arbeiter herausschlagen, ohne ihm die zu seiner Selbsterhaltung notwendige Arbeitszeit einzuräumen.“  (S. 568, 2. Absatz)

Die Behauptung

„Die gesetzliche Beschränkung des Arbeitstags macht solchem Unfug ein Ende“  (ebd.)

ist natürlich nicht richtig, weil die bloße Existenz des Stundenlohns die Freiheiten, die er dem Kapital eröffnet, durch die Beschränkung des Arbeitstages nicht eingeschränkt werden.  (Der Stundenlohn, vergessen wir das nicht, spielt seine Rolle nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Landwirtschaft.)

Der Stundenlohn entfaltet seine negative Kraft auch, wenn der Lohn pro Arbeitstag gleich bleibt, aber die Leute länger arbeiten müssen – der Zeitlohn sinkt, obgleich der Arbeiter den für die Reproduktion nötigen Lohn erhält. Ein solches Sinken des Zeitlohns kann wieder in anderen Arbeitsverhältnissen angewandt werden – das Sinken des Zeitlohns in einem Betrieb/Wirtschaftszweig bewirkt das Sinken des Zeitlohns in anderen Wirtschaftszweigen. Während der erhöhte Verschleiß der Arbeitskraft durch Überarbeit die Reproduktionskosten der Arbeitskraft erhöht, so verhält sich das Lohndrücken durch den Stücklohn genau umgekehrt, weil Überarbeit über die Schranken des Arbeitstages hinaus gar nicht extra entlohnt, sondern in die Reproduktionskosten des Normalarbeitstags hineingezwängt wird.

Der Zeitlohn als flexible Verrechnungseinheit hebt somit die Schranken zwischen Normalarbeitstag und Überstunden auf. Dadurch ergibt sich das Interesse des Arbeiters, möglichst viele Überstunden zu machen, um überhaupt auf einen Lohn zu kommen, von dem er leben kann.

„Umgekehrt aber produziert ihrerseits die Verlängerung der Arbeitszeit einen Fall im Arbeitspreise und damit im Tages- oder Wochenlohn.“ (S. 571, 1. Satz)

Das „umgekehrt“ ist verwirrend, weil es handelt sich doch ständig um dieselbe Tendenz: Jede Möglichkeit zur Verringerung des Arbeitslohns wird genützt!

„Verrichtet ein Mann das Werk von 1 1/2 oder 2 Männern, so wächst die Zufuhr der Arbeit, wenn auch die Zufuhr der auf dem Markt befindlichen Arbeitskräfte konstant bleibt.“ (S. 571, 3. Absatz)

Gerade dafür haben wir heute alles Anschauungsmaterial: Leute werden entlassen, und die im Betrieb Verbleibenden machen die Arbeit von 2 zum Lohn von einem. Durch dieses Drücken des Arbeitslohns verändert sich der Wert der Ware überhaupt: der verringerte Arbeitslohn – durch Teilzeit- und nicht bezahlte Überarbeit – wird zum neuen Warenwert/preis. Die Kapitalisten nützen ihre durch das Lohnsystem gegebenen Freiheiten zum Verringern des Arbeitslohns – ihr Mittel hierfür ist eben der Zeitlohn.

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DISKUSSION:
Warum begünstigt die unter den Arbeitern erzeugte Konkurrenz die Kapitalisten?

Es ist klar, und heute richtig überall zu sehen: Wenn jemand für einen geringeren Stundenlohn die gleiche Arbeit macht, so drängt er jemanden, der mehr verdient hat, aus dem Job hinaus.

So hat der Unternehmer den Lohn gedrückt, und kann die gleiche Ware zum selben Preis verkaufen, während er weniger für die Herstellung bezahlt hat. Oder zu einem geringerem Preis, aber immer noch über den Herstellungskosten, die er vorgeschossen hat. So kann es geschehen, daß der Unternehmer unter Marktpreis verkauft, aber immer noch einen Gewinn über das vorgeschossene Kapital macht. Wie Marx hier mehr beiläufig festhält, wird sowohl der Gewinn aus verringertem Lohn als auch ein Teil des Mehrwerts dem „Käufer geschenkt“ (S. 571, 3. bzw. einziger Absatz) – um seine Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, verzichtet der Verkäufer auf einen Teil seines Gewinns.

So wird das Drücken des Lohns zum Ausgangspunkt der Verbilligung der Ware, und alle Anbieter dieser Ware müssen nun mit ihrem Preis hinuntergehen, was dazu führt, daß das Bezahlen der Arbeitskraft unter Wert Standard und neuer Preis der Ware Arbeitskraft wird.
Unter solchen Bedingungen ist es natürlich im Sinne der Kapitalisten, wenn die Lebensmittel und die damit die Arbeiter billiger werden. Deswegen die Aufhebung der Corn Laws, und auch die heutige Ernährung hierzulande mit der Verlagerung von Fleisch und Obst zu Teigwaren und Sprudelgetränken gehört in die gleiche Abteilung.

Bis zum Sinken der Produktionskosten der Ware Arbeitskraft durch billigeres Brot muß das noch gar nicht entwickelt werden: Wenn ein Arbeiter vorher mehr und nachher weniger gekriegt hat für die gleiche Arbeit, sich also notgedrungen mit dem geringeren Lohn reproduzieren muß, so ist das für seinen Anwender Beweis genug dafür, daß er vorher zuviel gezahlt hat und der jetzige Lohn der richtige Preis der Ware Arbeitskraft ist.

Das Zitat über die Meister von Birmingham (S 572, Absatz 1) verstehe ich so, daß sie sogar selber mit Hand anlegen, was eines Unternehmers wirklich unwürdig ist, und dennoch auf keinen ordentlichen Gewinn kommen, weil sie am Markt mit anderen produktiveren Kapitalen konkurrieren müssen. Das ist doch das, was sich in vielen Klitschen, „Familienbetrieben“, heute abspielt.

Ob das Publikum einen „Vorteil“ hat, sei dahingestellt – wie die „Jeremiade“ über die Londoner Bäcker, die Brot billiger anbieten, zeigt, ist der Vorteil sehr begrenzt.

Marx weist hier darauf hin, wie der Unternehmer (übrigens auch der Arbeiter, man schaue Klagen bei der Arbeiterkammer wegen nicht bezahlter Überstunden an –) unbezahlte Mehrarbeit beim Konkurrenten entdeckt, der über die gesetzliche Arbeitszeit hinaus Leute beschäftigt, aber sie niemals bei sich selbst und der gesetzeskonformen Anwendung der Arbeit.

 

19. KAPITEL: Der Stücklohn

„Der Stücklohn ist nichts als verwandelte Form des Zeitlohns, wie der Zeitlohn die verwandelte Form des Wertes oder Preises der Arbeitskraft.
Beim Stücklohn sieht es auf den ersten Blick aus, als ob der vom Arbeiter verkaufte Gebrauchswert nicht die Funktion seiner Arbeitskraft sei, lebendige Arbeit, sondern bereits im Produkt vergegenständlichte Arbeit, und als ob der Preis dieser Arbeit nicht wie beim Zeitlohn durch die Bruchzahl : Tageswert der Arbeitskraft durch Arbeitstag von gegebner Stundenzahl, sondern durch die Leistungsfähigkeit des Produzenten bestimmt werde. “ (S. 574, 1. & 2. Absatz)

Der Stücklohn verschleiert noch mehr als der Zeitlohn den Zusammenhang zwischen notwendiger Arbeit und Mehrarbeit, indem er den Schein der Tüchtigkeit und Untüchtigkeit, die jeweils entsprechend entlohnt wird, bekräftigt. Es erscheint ein Stück weit so, als ob der Arbeiter als Ich-AG oder „Marktteilnehmer“ seine selbstgemachten Produkte an den Unternehmer verkauft. Zeitlohn steht mehr für Abhängigkeit, Stücklohn befördert die Illusion der Selbständigkeit.

Das Kapital würde vermutlich am liebsten nur Stücklohn zahlen, das geht aber wegen Reparatur- und Wartungsarbeiten nicht so gut:

„In den eigentlichen Fabriken, wo Stücklohn allgemein vorherrscht, entziehn sich einzelne Arbeitsfunktionen aus technischen Gründen dieser Messung und werden daher nach Zeitlohn gezahlt.  An und für sich ist es jedoch klar, daß die Formverschiedenheit in der Auszahlung des Arbeitslohns an seinem Wesen nichts ändert, obgleich die eine Form der Entwicklung der kapitalistischen Produktion günstiger sein mag als die andre.“ (S. 575, 2. Absatz)

Marx meint nicht, es sei „eigentlich das Gleiche“, ob Zeitlohn oder Stücklohn gezahlt würde – nur vom Standpunkt des Ausbeutung, also der Aneignung unbezahlter Mehrarbeit, ist es das Gleiche, die ist in beiden Fällen Zweck des Kapitalisten. Aber der Formunterschied zwischen Zeit- und Stücklohn begünstigt diesen Zweck, um diesen Nachweis geht es hier in diesem Kapitel: Der Stücklohn verbirgt bis zu einem gewissen Grad die darin enthaltene Arbeitszeit überhaupt, also um so mehr die bezahlte und unbezahlte.

Der Stücklohn eröffnet neue Möglichkeiten der Lohndrückerei: Wenn eine Weste, ein Tisch mit soundsoviel Pence oder Pfund entlohnt wird, so bleibt der Preis auch dann gleich, wenn ein aufwendigeres Verfahren eingeführt wird, das mehr Zeit verlangt. Zumindest, solange der Kapitalist dies mit seinem Kommando über die Arbeit durchsetzen kann und die Arbeiter es sich gefallen lassen. Es ist also keineswegs die „Erfahrung“ (S. 576, 4. Absatz), sondern der kleine alltägliche Klassenkampf, der hier über die Lohnhöhe entscheidet.

Aus dem Zitat geht auch hervor, wie die Arbeiter selbst wieder von Stück- in Zeitlohn umrechnen und darüber draufkommen, daß man von ihnen für weniger Geld mehr Arbeit will, sobald die Fertigungszeit für ein Stück durch Modeerscheinungen länger wird. Aber der grundlegende Charakter der Ausbeutung bleibt ihnen notwendigerweise verborgen, weil sie das Verhältnis von Wert, Arbeitszeit und Preis nicht kennen.

„Da Qualität und Intensität der Arbeit hier durch die Form des Arbeitslohns selbst kontrolliert werden, macht sie großen Teil der Arbeitsaufsicht überflüssig. Sie bildet daher sowohl die Grundlage der früher geschilderten modernen Hausarbeit als eines hierarchisch gegliederten Systems der Exploitation und Unterdrückung. Das letztere besitzt zwei Grundformen. Der Stücklohn erleichtert einerseits das Zwischenschieben von Parasiten zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter, Unterverpachtung der Arbeit (subletting of labour).“ (S. 577, 1. Absatz)

Der Stücklohn ermöglicht also die Ausgliederung von Arbeit, Heimarbeit, Subunternehmer und Leiharbeitsfirmen. Er nimmt dem Haupt-Unternehmer oder großen Kapitalisten die Arbeit der Kontrolle bzw. des Kommandos über die Arbeit weitgehend ab. Das ist z.B. heute sowohl in allen Jobs, die über das Internet ausgegliedert werden, als auch in der Bauindustrie zu beobachten. Sämtliche Werkverträge beruhen auf dem Stücklohn.

Die von Marx erwähnten 2 Grundformen gibt es heute noch. Die erstere ist das Anstellen von Subunternehmern, das zweitere ist das System des Vorarbeiters, der die anderen beaufsichtigt, wie der Polier am Bau. Der Unterschied ist, daß die Subunternehmer eben Unternehmer sind, die Vorarbeiter selber Lohnabhängige, denen ein Teil der Kontrollfunktionen übertragen wird.

Warum ist es so, daß

„die Verlängerung des Arbeitstags, selbst bei konstant bleibendem Stücklohn, an und für sich eine Senkung im Preise der Arbeit einschließt.“ (S. 578, 1. Absatz)

???

Verschiedene Arbeiter liefern in der gleichen Zeit mehr oder weniger Produkte:

„Aber der größere Spielraum, den der Stücklohn der Individualität bietet, strebt einerseits dahin, die Individualität und damit Freiheitsgefühl, Selbständigkeit und Selbstkontrolle der Arbeiter zu entwickeln, andrerseits ihre Konkurrenz unter- und gegeneinander. Er hat daher eine Tendenz, mit der Erhebung individueller Arbeitslöhne über das Durchschnittsniveau dies Niveau selbst zu senken.“ (S. 579, 1. Absatz)

Also liefern die einen mehr, die anderen gleich viel und die dritten weniger als das, was dem normalen Arbeitslohn, bezogen auf den Durchschnittsarbeitstag, entspricht.

Die jedoch, die weniger als den Durchschnitt produzieren, können sich nicht reproduzieren und fallen daher früher oder später aus – entweder sie verhungern oder sie wechseln in andere Industriezweige. Die Konkurrenz der Arbeiter untereinander, bedingt aus der Notwendigkeit, sich zu reproduzieren, zwingt sie dazu, mehr  zu produzieren. Wenn das aber alle machen, die Anzahl der gelieferten Waren also steigt, so führt das dazu, daß alle länger arbeiten, um mehr Waren zu produzieren. So verlängert sich der Arbeitstag „naturwüchsig“, also von selber, ohne Peitsche des Aufsehers oder Einmischung des Gesetzgebers. Das ist eine weitere „Errungenschaft“ des Stücklohns – Überarbeit ohne Überstunden-Bezahlung.
Die Verlängerung des Arbeitstags durch Stücklohn ist also erklärt. Warum sinkt aber dadurch der Preis der Arbeit?
Es ist in diesem Fall das Gleiche wie Intensivierung der Arbeit: In einen Durchschnittsarbeitstag wird mehr Arbeit hineingepreßt und dadurch enthält die Arbeitsstunde mehr Arbeit, ist also weniger wert. Die Maßeinheit selbst verändert sich zuungunsten des Arbeiters.

Die erwähnte Umstellung von Stücklohn in Zeitlohn, sobald die individuellen Arbeiter Methoden gefunden haben, die Stückzahl zu erhöhen, ist eine der Methoden der Kapitalisten, den Arbeitslohn zu senken. Eine andere ist, einfach den Stücklohn zu verringern, solange es genug Arbeiter gibt, die dies hinnehmen. Die Änderung von einer Lohnform in die andere ist auf jeden Fall eine Möglichkeit, die Lohnsenkung zu verschleiern.

Beim Stücklohn kommt auch die im ersten Abschnitt erwähnte „geschickte“ Arbeit wieder zum Tragen, die durch die Maschinerie größtenteils überflüssig gemacht wurde. Wo es noch Oasen solcher Arbeit gibt (Handweber, S. 58ß, Absatz 2), so werden sie über den Stücklohn vernichtet.  Die unabhängigen Arbeiter gehen über den Vergleich mit der Fabriksarbeit zugrunde – die Form, in der dies geschieht, ist der Stücklohn.
Der Stücklohn ist also auch ein wichtiges Moment in der Konkurrenz zwischen maschinell und handwerklich hergestellten Waren.

Beachtlich ist auch die Wirkung der Einführung des Stücklohns in der Landwirtschaft: Statt Taglohn wird Stücklohn gezahlt, um die Leute zu erhöhter Arbeitsleistung anzuspornen.
(Man müßte einmal schauen, wie die Erntearbeiter bei uns im Marchfeld oder Burgenland entlohnt werden – vermutlich auch nach Kilo, nicht nach Stunde.)

Malthus, der in der Literatur als Moralist und Bevölkerungstheoretiker gehandhabt wird, begriff die Wirkung des Stücklohns für den Arbeitstag:

„Ich gestehe, ich sehe mit Mißvergnügen die große Ausdehnung der Praxis des Stücklohns. Wirklich harte Arbeit während 12 oder 14 Stunden des Tags, für irgend längere Zeitperioden, ist zuviel für ein menschliches Wesen.“  (S. 581, 2. Absatz)

Der Stücklohn erweist sich also als ideale Möglichkeit, Normalarbeitszeiten zu unterwandern.

Der Stücklohn spornt auch die Arbeiter an, Methoden zur Beschleunigung des Produktionsprozesses zu erfinden.
Manche Innovationen  (= Stückkostensenkungen) in der Produktivkraft der Arbeit sind auf Arbeiter zurückzuführen, nicht auf Unternehmer. Der Stücklohn ist ein probates Mittel, Arbeiter und Unternehmer zusammenzuschweißen und sich in ein Boot zu setzen. Wir, die Tüchtigen und Innovativen! Dafür erhalten sie jedoch keinen Lohn, sondern nur Schimpf:

„»Die Arbeiter überwachen sorgfältig den Preis des Rohmaterials und den Preis der fabrizierten Güter und sind so fähig, die Profite ihrer Meister genau zu veranschlagen.«

Solchen Anspruch  fertigt das Kapital mit Recht als groben Irrtum über die Natur der Lohnarbeit ab. Es zetert über diese Anmaßung, Steuern auf den Fortschritt der Industrie zu legen, und erklärt rundweg, daß die Produktivität der Arbeit den Arbeiter überhaupt nichts angeht.“ (S. 582, 2. & 3. Absatz)

Die Kapitalisten machen sie darauf aufmerksam, daß die Produktion keineswegs ein Gemeinschaftswerk ist, an dem alle fair beteiligt werden, sondern Arbeit der einen für die anderen; und daß er nicht die Arbeit zahlt, die verrichtet wird, sondern die Arbeitskraft, die er anwendet.

Im Österreich der Kreisky-Zeit wurde die erstere – sozialdemokratische – Ideologie unter dem Namen „Benya-Formel“ so weit ernst genommen, daß Produktivitätssteigerungen sich in Lohnerhöhungen niederschlagen mußten. (Wie weit man das als Unternehmer umgehen konnte, steht auf einem anderen Blatt.)

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Stücklohn die ideale Lohnform vom Standpunkt des Kapitals ist. Von den Exploitationsmöglichkeiten her, und auch unter dem Gesichtspunkt, wie sich das Kommando über die Arbeit in die Eigenverantwortlichkeit des Arbeiters übertragen läßt.

 

20. KAPITEL: Nationale Verschiedenheit der Arbeitslöhne

Beim Rückverweis auf das 15. Kapitel, sowie auch auf die folgenden Kapitel will Marx darauf hinweisen, daß es genug Gründe gibt, warum sich Lohnhöhe und Exploitationsgrad der Arbeit bereits nach Regionen und Sparten unterscheiden, natürlich um so mehr nach Nationen.

Die Frage in diesem Kapitel ist: Woraus entstehen diese nationalen Unterschiede, und was sind die Folgen derselben?

In jedem Land pendelt sich eine gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeitszeit ein. Die findet ihren Niederschlag im Preisniveau und damit auch im Arbeitslohn. Die Währungen vergleichen sich per Wechselkurs. So läßt sich ein Durchschnittslohn errechnen.

Gegenüber den heutigen statistischen Verfahren macht Marx darauf aufmerksam, daß man erst einmal die Länge des Arbeitstages und dann den Stundenlohn errechnen muß, um auf einen Durchschnitt zu kommen, also nicht einfach die Tages- oder Wochen-Löhne vergleichen darf. Um den Exploitationsgrad zu errechnen, muß man den Stücklohn heranziehen.
Es ist jedoch der Exploitationsgrad der Arbeit, also die Fähigkeit eines nationalen Kapitals, möglichst viel Mehrwert aus den Arbeitern herauszuholen, der die wirkliche Konkurrenz unter den Nationen entscheidet, und nicht die durchschnittliche Lohnhöhe. (Deswegen investiert ein UNternehmen lieber in Deutschland und nicht in Afrika, obwohl die Löhne dort zweifelsohne viel niedriger sind.
Nur soviel zu dem blöden Geschwätz in den Medien, Griechenland müßte durch Senkung des Durchschnittslohns seine „Wettbewerbsfähigkeit“steigern.

Einiges an Kopfzerbrechen bereitet der folgende Satz:

„Noch mehr aber wird das Wertgesetz in seiner internationalen Anwendung dadurch modifiziert, daß auf dem Weltmarkt die produktivere nationale Arbeit ebenfalls als intensivere zählt, sooft die produktivere Nation nicht durch die Konkurrenz gezwungen wird, den Verkaufspreis ihrer Ware auf ihren Wert zu senken.“ (S 584, 2. Absatz)

Erstens, was ist „das Wertgesetz“? Daß der Wert der Waren durch die in ihnen enthaltene gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeitszeit bestimmt wird. Welche „Gesellschaft“? – ist jetzt die Frage. Wenn sich alle Nationen am Weltmarkt vergleichen – was zu Marx Zeiten ja noch nicht der Fall war – bringt das notwendig einen Durchschnittswert hervor, oder gibt es entgegenwirkende Faktoren? Es verschärft jedenfalls die Konkurrenz zwischen den Waren-Anbietern.
Wenn diejenigen Nationen, die einen höheren Exploitationsgrad der Arbeit haben, dennoch zu dem von den anderen erzeugten Durchschnittspreis verkaufen, so machen sie eben landesweit einen Extraprofit. Wenn sie, um ihre Ware absetzen zu können, mit dem Preis heruntergehen, so schaffen sie eben damit einen neuen Durchschnittswert. Aber was ist da „produktiv“ oder „intensiv“?

Man erinnere sich: Wir haben uns darauf geeinigt, daß „Intensität“ nur größere Stückzahl pro Zeit bedeutet, „produktiv“ aber die gesamtgesellschaftliche Verbilligung der Lebensmittel und die Veränderung in der Maßeinheit des Werts, der Arbeitsstunde. (Oder wars umgekehrt?) Was tut diese Unterscheidung jetzt der Preissenkung und ihrer Folge aufs Wertgesetz hinzu?

Noch mehr Rätsel gibt der nächste Satz auf:

„Im Maß, wie in einem Lande die kapitalistische Produktion entwickelt ist, im selben Maß erheben sich dort auch die nationale Intensität und Produktivität der Arbeit über das internationale Niveau. Die verschiedenen Warenquanta derselben Art, die in verschiedenen Ländern in gleicher Arbeitszeit produziert werden, haben also ungleiche internationale Werte, die sich in verschiedenen Preisen ausdrücken, d.h. in je nach den internationalen Werten verschiednen Geldsummen. Der relative Wert des Geldes wird also kleiner sein bei der Nation mit entwickelterer kapitalistischer Produktionsweise als bei der mit wenig entwickelter. Folgt also, daß der nominelle Arbeitslohn, das Äquivalent der Arbeitskraft ausgedrückt in Geld, ebenfalls höher sein wird bei der ersten Nation als bei der zweiten; was keineswegs besagt, daß dies auch für den wirklichen Lohn gilt, d.h. für die dem Arbeiter zur Verfügung gestellten Lebensmittel.“

Also: Wenn die Arbeitszeit gleich ist, aber der Exploitationsgrad der Arbeit verschieden, so enthalten die Waren einer Nation weniger Wert als die der anderen, was sich in den Preisen ausdrückt. (Das, nebenbei, ist auch die Grundlage der Wechselkurse.) Dem entsprechen oft auch unterschiedliche Löhne, weil bei intensiverer Arbeit mehr gezahlt werden muß, damit sich der Arbeiter auch reproduzieren kann.
Selbst wenn die Arbeitslöhne – bei entsprechender Wechselkursumrechnung – nominell gleich wären, ist damit noch nichts über ihre Kaufkraft gesagt, die sich aus dem Preis der Lebensmittel ergibt. Diese wieder sind Ergebnis des allgemeinen Produktivitätsniveaus, das in einem Land herrscht. Es kann also sein, daß man mit der gleichen Geldumme in einem Land mehr Lebensmittel erhält als im anderen, das Geld also einen höheren relativen Wert hat.
Ebenso kann, – aber da hat der Hackler endgültig nix davon –, der niedrigere Lohn dadurch, daß der Exploitationsgrad der Arbeit mickrig ist, der Lohn immer noch hoch sein im Vergleich zum Mehrwert. Wer dabei in der Konkurrenz jedoch schlecht ausschaut, ist der Kapitalist – er muß im Vergleich zum herausgeholten Mehrwert hohe Löhne zahlen. Solch ein Kapitalist kann auf Dauer nur bestehen, wenn er durch protektionistische Zölle geschützt wird.
Ist dergleichen unmöglich, wie innerhalb der EU, so werden eben ganze Gegenden als Folge der Konkurrenz desindustrialisiert.

Bei den Tabellen auf S. 596 sticht ins Auge, wie sehr Frankreich, das einstige Heimatland der Manufakturen, an Produktivität nicht nur hinter England, sondern sogar hinter Österreich herhinkt. Sie scheinen offenbar dort die Kurve zur Maschinen-Anwendung und -Produktion erst sehr spät gekratzt zu haben.

Den kryptischen Absatz auf Seite 587/588 interpretiere ich so, daß zwar den englischen Arbeitern in Osteuropa mehr gezahlt wurde als ihren einheimischen Kollegen, sie aber, da sie das englische Arbeitstempo gewöhnt waren, auch mehr geleistet haben und dem Kapitalisten dadurch kein Schaden entstanden ist. Das scheint auch bei heutigen Montagearbeitern der Witz zu sein.

Die Beschimpfung Careys in Ehren, aber daß die Arbeitslöhne im internationalen Vergleich mit der Produktivität steigen, hat ja Marx in den vorigen Passagen selbst angesprochen. Carey leitet bloß – wie es in den Wirtschaftswissenschaften bis heute üblich ist – aus der Korrelation eine Notwendigkeit ab, anstatt der Sache auf den Grund zu gehen. (Man denke an die gerade aktuelle Debatte um das Verhältnis von Staatsverschuldung, Sparmaßnahmen und Wirtschaftswachstum. Auch da wird ja lediglich sehr begriffslos mit Korrelationen hantiert und daraus irgendwelche „Gesetze“ abgeleitet. ) Das im weiteren angesprochene Erklärungsangebot Careys, daß die höheren Löhne durch Besteuerung verursacht werden, erinnert sehr an die in neuerer Zeit stattgefunden habende Debatte über die Lohnnebenkosten, die man doch den armen Unternehmern nicht aufbürden kann!

Marx hatte keine Ahnung, welche Karriere manche Ideologien noch machen würden, die er als wissenschaftlich unter aller Sau betrachtet und nur zur Belustigung des Publikums überhaupt erwähnt hat!

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DISKUSSION

Die Korrelation stimmt ja auch nicht immer. China hat eine hohe Produktivität und trotzdem niedrige Löhne.

Na ja. Erstens sind die Waren auf dem Weltmarkt deshalb konkurrenzfähig, weil ihr Gebrauchswert befriedigend und ihr Preis niedrig ist. Das kann jedoch durchaus ein Ergebnis der niedrigen Löhne sein und nicht unbedingt hoher Produktivität. (Es gibt da sicher Unterschiede zwischen den einzelnen Sparten.) Außerdem hat China seine Währung nicht freigegeben, es gibt also gar keinen Wechselkurs zwischen Euro und Renminbi.

China ist also ein schlechtes Beispiel für dieses Verhältnis zwischen Lohn und Mehrwertrate im internationalen Vergleich.

Schließlich: Es ist ja nur eine allgemeine Tendenz festgehalten und die Gründe dafür sind angeführt worden. Ausnahmen gibt’s immer.
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Mit diesem Kapitel sieht Marx jetzt offenbar alle Überlegungen zum Verhältnis von Kapital und Arbeit für abgeschlossen an. Er widmet sich im Folgendem dem Treiben des Kapitals selbst, seinem Verhältnis zu sich.

 

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