Protokoll 21
1.4. 2012

 

9. KAPITEL: Rate und Masse des Mehrwerts

Es ist klar, warum jetzt dieses Kapitel auf die beiden vorherigen folgt: Nachdem Marx dargelegt hat, daß es im Interesse des Kapitalisten ist, möglichst viel unbezahlte Arbeitskraft anzuwenden, also an der Rate des Mehrwerts zu seinen eigenen Gunsten zu drehen, so wird jetzt noch ausgeführt, daß es auch wichtig ist, wieviele dieser ihn bereichernden Arbeitskräfte, „Hände“, er beschäftigen kann. Dafür ist nämlich ein erhöhter Vorschuß an Kapital erforderlich (bzw. erheischt).

Marx stellt in diesem Kapitel einige Gesetze auf.

Gesetz I:

„Die Masse des produzierten Mehrwerts ist gleich der Größe des vorgeschoßnen variablen Kapitals multipliziert mit der Rate des Mehrwerts oder ist bestimmt durch das zusammengesetzte Verhältnis zwischen der Anzahl der von demselben Kapitalisten gleichzeitig exploitierten Arbeitskräfte und dem Exploitationsgrad der einzelnen Arbeitskraft.“ (S 321/322)

Das Drama der Klein- und Mittelbetriebe wird hier aufgerollt. Mit wenig Kapital kann man nur wenig Leute beschäftigen und es reicht gerade zum Überleben – oder auch nicht.
Die haben vielleicht eine gute Mehrwertrate, aber es kommt keine Masse zustande.
Oder sie haben auch noch eine schlechte Mehrwertrate, und können die nicht durch eine größere Masse kompensieren.

Auf welche Zeitspanne bezieht sich der Ausdruck „Gesamtsumme des variablen Kapitals V“ (S 322, 2. Absatz)? Offenbar auf einen Tag, da vorher der Arbeitstag Thema war. Um sie auf eine Woche oder einen Monat hochzurechnen, muß man sie halt multiplizieren.

„Es wird fortwährend unterstellt, nicht nur daß der Wert einer Durchschnitts-Arbeitskraft konstant ist, sondern daß die von einem Kapitalisten angewandten Arbeiter auf Durchschnitts-Arbeiter reduziert sind.“ (S 322, 3. Absatz) (1)

D.h., daß sie nicht nur den gleichen Lohn erhalten, sondern auch mit der gleichen Mehrwertrate angewandt werden.

„Es gibt Ausnahmefälle, wo der produzierte Mehrwert nicht verhältnismäßig zur Anzahl der exploitierten Arbeiter wächst, aber dann bleibt auch der Wert der Arbeitskraft nicht konstant.“ (ebd.)

D.h.: Man stellt Arbeiter ein, die weniger Mehrwert erzeugen – weil vielleicht die Räumlichkeiten überbelegt sind, oder sie sehr anstrengende Arbeit leisten müssen, die langsamer vonstatten geht – dann kriegen sie auch weniger gezahlt, werden also als minder-wertig eingestuft. (Kinder, ungelernte Arbeiter, Behinderte (2))
Das liegt nicht in erster Linie am Arbeiter, sondern an seiner Einstufung durch den Unternehmer. Der legt ja einmal fest, zu welchem Lohn er wen anstellt. Damit über die Runden zu kommen, ist Sache des Arbeiters.

„Verminderung des variablen Kapitals ist also ausgleichbar durch proportionelle Erhöhung im Exploitationsgrad der Arbeitskraft oder die Abnahme in der Anzahl der beschäftigten Arbeiter durch proportionelle Verlängerung des Arbeitstags.“ (S 322/23)

Man stellt weniger Leute ein und läßt sie länger arbeiten. Ein vor allem in Krisenzeiten sehr beliebtes Modell. Oder man entläßt einen Haufen und nötigt dem Rest Lohnverzicht auf, oder drückt gleich den Mindestlohn eines ganzen Landes um 20%. So entsteht das auf den ersten Blick verwunderliche Phänomen, daß sich auf der einen Seite eine Menge Arbeitslose ansammelt, der Rest jedoch – oftmals unbezahlte – Überstunden machen muß.

Das ganze hat jedoch seine Grenzen, oder Gesetz II:

„Die absolute Schranke des durchschnittlichen Arbeitstags, der von Natur immer kleiner ist als 24 Stunden, bildet eine absolute Schranke für den Ersatz von vermindertem variablen Kapital durch gesteigerte Rate des Mehrwerts oder von verringerter exploitierten Arbeiteranzahl durch erhöhten Exploitationsgrad der Arbeitskraft.“ (S 323, 2. Absatz)

Dieses Gesetz weist in den nächsten Abschnitt, auf neue Tricks der Kapitalisten! Denn: wenn man aus möglichst wenig Arbeitern möglichst viel herausholen will, so stößt man bei der Produktion des absoluten Mehrwerts auf natürliche Schranken – man kann den Lohn nicht beliebig senken und den Arbeitstag nicht beliebig verlängern – die es mit anderen Mitteln als Lohndrücken und Überarbeit zu überwinden gilt. (Auf die wird natürlich deshalb nicht verzichtet!)

Das leitet über zum Gesetz III:

„Die von verschiednen Kapitalen produzierten Massen von Wert und Mehrwert verhalten sich bei gegebnem Wert und gleich großem Exploitationsgrad der Arbeitskraft direkt wie die Größen der variablen Bestandteile dieser Kapitale, d.h. ihrer in lebendige Arbeitskraft umgesetzten Bestandteile.“ (S 325, 1. Absatz)

Gleich was produziert wird, und ob die Elemente des konstanten Kapitals billig oder teuer sind: das hat keinen Einfluß auf die Rate und Masse des Mehrwerts.
Sie spielen lediglich eine Rolle vom Standpunkt des zu investierenden, also vorzuschießenden Kapitals.

Frage: Jemand hat beim Einkauf der Produktionsmittel ein Schnäppchen, kauft z.B. Schweinsleder besonders billig – wegen Maul- und Klauenseuche im Innviertel, und einem Schwager bei der Gesundheitsbehörde –; und verkauft dann Schuhe zum Marktpreis bzw. etwas darunter, und macht dadurch mehr Gewinn. Was ist da los?
Antwort: Hier geht es um zusätzlichen Gewinn, der aus Ausnutzen von Marktgegebenheiten resultiert und nicht aus Veränderungen im Produktionsprozeß. Der Unternehmer hat unter Wert eingekauft, und das hat mit absoluter Mehrwertsproduktion einmal nix zu tun.

Warum widerspricht Gesetz III der Anschauung?

„Jedermann weiß, daß ein Baumwollspinner, der, die Prozentteile des angewandten Gesamtkapitals berechnet, relativ viel konstantes und wenig variables Kapital anwendet, deswegen keinen kleinren Gewinn oder Mehrwert erbeutet als ein Bäcker, der relativ viel variables und wenig konstantes Kapital in Bewegung setzt. Zur Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs bedarf es noch vieler Mittelglieder, wie es vom Standpunkt der elementaren Algebra vieler Mittelglieder bedarf, um zu verstehn, daß 0/0 eine wirkliche Größe (3) darstellen kann.“ (S 325, 2. Absatz)

Vermutlich macht der Baumwollspinn-Fabrikant sogar mehr Gewinn. Das ist eben, weil er einen anderen Exploitationsgrad der Arbeit hat, also offenbar eine höhere Mehrwertrate als der Bäcker, und wie das geht, obwohl in beiden Fällen doch die Arbeiter genausoviel zu ihrer Reproduktion brauchen, also den gleichen Lohn erhalten, und den gleichen Arbeitstag abarbeiten, folgt im nächsten Kapitel ... Die Spannung steigt. (Diese Voraussetzungen – gleiches v, also Lohn, und gleiche Arbeitszeit in allen Sparten werden in diesem Kapitel vorausgesetzt.)

Was ist mit diesem Satz gemeint?

„Obgleich sie das Gesetz nie formuliert hat, hängt die klassische Ökonomie instinktiv daran fest, weil es eine notwendige Konsequenz des Wertgesetzes überhaupt ist.“ (ebd.)

Eine Sammlung von Gesetzen.
Was ist hier mit „Wertgesetz“ gemeint? Daß sich die Waren gemäß der in ihnen enthaltenen Arbeitszeit austauschen? Welche Arbeitszeit? Laut Nationalökonomie doch die individuelle und nicht die abstrakte Arbeit. Und an welchem „Gesetz“ hängt hier die NatÖk?
Was ist das „Gesetz der Erscheinung“? Damit meint Marx offenbar, daß die Erscheinung eben noch nicht die Erklärung ist.
Vielleicht kommt im nächsten Abschnitt noch Klärung über diese Frage. Auf dem derzeitigen Wissensstand bleiben diese Zeilen dunkel.
Mit „4. Buch“ kann nämlich auch der 4., also nächste Abschnitt gemeint sein. Vermutlich hat Marx das Kapital ursprünglich in „Bücher“ eingeteilt.

„Die Verwandlung des Handwerksmeisters in den Kapitalisten suchte das Zunftwesen des Mittelalters dadurch gewaltsam zu verhindern, daß es die Arbeiteranzahl, die ein einzelner Meister beschäftigen durfte, auf ein sehr geringes Maximum beschränkte. Der Geld- oder Warenbesitzer verwandelt sich erst wirklich in einen Kapitalisten, wo die für die Produktion vorgeschoßne Minimalsumme weit über dem mittelaltrigen Maximum steht. Hier, wie in der Naturwissenschaft, bewährt sich die Richtigkeit des von Hegel in seiner »Logik« entdeckten Gesetzes, daß bloß quantitative Verändrungen auf einem gewissen Punkt in qualitative Unterschiede umschlagen.“ (S 326/327)

Um wirklich Kapital zu akkumulieren, muß man eine gewisse Betriebsgröße überschreiten. Ansonsten reichts gerade für die eigene Reproduktion, vielleicht etwas besser als die der Angestellten, wie eben bei den meisten KMU heute.
Quantitative Unterschiede können qualitative Unterschiede verursachen – so ist das „Gesetz“, oder besser, der Gedanke Hegels richtig wiedergegeben. Das Überschreiten einer gewissen Anzahl von Arbeitern in einem Betrieb macht ihn erst wirklich zu einem auf Akkumulation ausgelegten Unternehmen.
Falsch hingegen die in der Marx-Rezeption verbreitete Behauptung, Quantität würde in Qualität „umschlagen“. Es handelt sich hier um verschiedene Kategorien, die sich nicht ineinander „verwandeln“ können.

Schließlich (S 328/329) weist Marx noch auf die Geburtshilfe der Staatsgewalt beim Entstehen kapitalistischer Unternehmen hin.

Der Rest des Kapitels (S 328-330) ist das Fazit des 3. Abschnitts:

Der für die kapitalistische Produktion charakteristische Wechsel der Eigentumsverhältnisse dreht das Verhältnis von Arbeitsmittel und Arbeiter um und macht letzteren zu einem Anhängsel von ersterem, der im Grunde – nach Ansicht des Kapitalisten – bis zu 24 Stunden im Einsatz sein könnte.
Geräte, die nicht benutzt werden, stillstehende Maschinen stellen sich vom Standpunkt des Kapitals als Verlust dar, weil sein Anspruch auf fremde Arbeit grenzenlos ist und deshalb von Staats her gesetzlich beschränkt werden muß.

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(1) Wir warnen hier vor der Parkland-Ausgabe des „Kapitals“, die nicht nur verschiedene Fremdwörter auf manchmal seltsame Art eindeutscht – das ginge ja noch –, sondern wo auch Absätze fehlen, z.B. dieser.

(2) Heute einen Behinderten einzustellen, dessen Arbeitsplatz vom Staat teilsubventioniert wird, heißt den Wert der Ware Arbeitskraft drücken, was mit den Reproduktionskosten dieses Behinderten gar nichts zu tun hat.

(3) Was Marx mit „wirklicher Größe“ meint, ist so eine Sache. In der gewöhnlichen Zahlentheorie macht die Division durch Null keinen Sinn, aber vorstellen, d.h. durch ein Rechenoperation darstellen läßt sie sich schon. Als transzendente Zahl hat sie daher vielleicht noch eine große Zukunft ... „Verboten“ ist meines Wissen in der Mathematik gar nix.

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